Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.08.2003, Az.: L 6/3 U 362/02
Feststellung einer durch Einwirkung von Holzschutzmitteln verursachten Berufskrankheit; Erzieherin in einem Kindertagesheim; Feststellung von PCP (Pentachlorphenol), Lindan, Dioxinäquivalente und Furane in der Raumluft; Leiden an Schwindelanfällen, Hörausfällen, Einschränkungen der Merkfähigkeit; Voraussetzungen der Berufskrankheiten Nrn. 1302, 1310 und 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV); Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Gesundheitsstörungen und der beruflichen Tätigkeit; Ausmaß der Schadstoffexposition
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 25.08.2003
- Aktenzeichen
- L 6/3 U 362/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21152
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0825.L6.3U362.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 12.06.2002 - AZ: S 2 U 64/99
Rechtsgrundlage
- § 9 Abs. 1 SGB VII
Redaktioneller Leitsatz
Nach dem derzeitigen gesicherten Stand der Wissenschaft ist die Kausalität für die Entstehung einer BK auf Grund von niedrig dosierten Innenraumbelastungen durch Holzschutzmittel nicht gesichert.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 12. Juni 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung einer durch Einwirkung von Holzschutzmitteln verursachten Berufskrankheit - BK.
Die 1949 geborene Klägerin war seit April 1973 als Erzieherin in einem Kindertagesheim der Stadt C. beschäftigt. Mit Schreiben vom 21. Januar 1987 teilte die Arbeitgeberin der Klägerin mit, laut Untersuchungsbericht der Forschungsgesellschaft "Ergo" GmbH vom 24. November 1986 seien im Kindertagesheim in der Raumluft PCP (Pentachlorphenol), Lindan, Dioxinäquivalente und Furane in einer nicht unerheblichen Größenordnung festgestellt worden. Diese Meldung diene der vorsorglichen Geltendmachung von Ansprüchen. In einer weiteren Anzeige über eine BK vom 25. November 1988 teilte sie mit, die Klägerin gebe an, seit Juli 1988 an Schwindelanfällen und Hörausfällen zu leiden; sie führe diese auf "Holzschutzmittel, und Lärm (?)" zurück. Auf Anregung der Beklagten nahm die Klägerin an einem Untersuchungsprogramm "wegen möglicher Folgeschäden durch Holzschutzmittel - Exposition in Kindertagesstätten" teil, die vom D. für Gesundheitsforschung und Prävention, vormals Institut für Medizin - Soziologie am Universitätskrankenhaus E. (F.), durchgeführt und im Mai 1995 fertig gestellt wurde (sog. Holzschutzmittelstudie II). Nachdem der Klägerin das Studienergebnis mitgeteilt worden war (Schreiben der Beklagten vom 23. Juni 1995), bat diese, das Feststellungsverfahren durchzuführen. Sie wies darauf hin, sie habe oft stechende Kopfschmerzen und seit ca. 1 1/2 Jahren Schwierigkeiten, Namen und Gesichter ihrer Kindergartenkinder zuzuordnen (Schreiben vom 29. September 1995).
Nach Einholung einer Stellungnahme der Staatlichen Gewerbeärztin Dr. G. vom 30. Mai 1995 lehnte die Beklagte eine Entschädigung aus Anlass der Einwirkung von Holzschutzmitteln mit Bescheid vom 7. Mai 1996 ab. Sie führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Im Kindertagesheim H., in dem die Klägerin als Erzieherin tätig gewesen sei, sei es zu Ausgasungen von Holzschutzmitteln (PCP, Lindan, Dioxine und Furane) im Niedrigdosisbereich gekommen. Die für die Arbeitsplätze geltenden MAK-Werte seien dabei nicht erreicht worden. Die Klägerin sei im Dezember 1987 im Rahmen der Holzschutzmittel-Studie umfassend untersucht worden. Die Befunde wiesen nach Auffassung des Dr. I. keine Auffälligkeiten auf. Eine Erkrankung sei nicht festgestellt worden. Außerdem könne durch die Studie der Verdacht einer ursächlichen Beziehung komplexer Krankheitserscheinungen durch Holzschutzbelastung nicht hinreichend untermauert werden. Zu diesem Ergebnis sei auch die Staatliche Gewerbeärztin gekommen.
Dagegen legte die Klägerin am 2. Mai 1997 Widerspruch ein und machte geltend, Untersuchungen durch den "Spezialarzt für Umweltgifte" J. hätten durch Holz-schutzmittel verursachte Gesundheitsschäden nachgewiesen. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. April 1999 gewährte die Beklagte der Klägerin wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und wies den Widerspruch zurück. Dabei bezog sie sich zusätzlich auf eine die Exposition gegenüber Holzschutzmittel in Kindertagesstätten betreffende toxikologische Studie von Volkheimer/Alsen-Hinrichs/Wassermann von Juli 1997. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen.
Dagegen hat die Klägerin am 28. April 1999 vor dem Sozialgericht - SG - Lüneburg Klage erhoben. Sie hat im Wesentlichen geltend gemacht, die bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen, insbesondere die leichte Ermüdbarkeit, der Verlust der Merkfähigkeit, die Hörstürze und Sprachstörungen sowie der Bluthochdruck und die Kopfschmerzen seien auf die Exposition gegenüber Holzschutzmitteln zurückzuführen. Ihre Auffassung werde von dem Umweltmediziner J. gestützt. Die Klägerin hat außerdem zur Stützung ihrer Klage verschiedene Fotokopien - insbesondere von ärztlichen Berichten - vorgelegt (Gerichtsakten Bl. 11 - 41).
Das SG hat einen Bericht des praktischen Arztes J. vom 30. Mai 2002 veranlasst und das nach ambulanter Untersuchung erstattete Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. vom 4. Juni 2002 eingeholt. Der Sachverständige ist außerdem in der mündlichen Verhandlung am 12. Juni 2002 gehört worden.
Mit Urteil vom 12. Juni 2002 hat das SG die Klage abgewiesen. Die in Betracht kommenden BKen Nr. 1302, 1310 und 1317 lägen nicht vor. Es sei schon eine gesundheitsgefährdende Schadstoffexposition nicht in ausreichendem Maß nachgewiesen. Auch könne eine BK aus medizinischen Gründen nicht anerkannt werden. Dies ergebe sich aus den überzeugenden Gutachten des Dr. K ... Dieser habe schlüssig herausgearbeitet, dass eine durch eine Holzschutzmittelexposition verursachte Schädigung des Nervensystems nicht nachzuweisen sei. Das gelte sowohl für ein hirnorganisches Psychosyndrom (Encephalopathie) als auch für eine Schädigung des peripheren Nervensystems (Polyneuropathie). Außerdem existiere für den Symptomenkomplex der Klägerin ein von der beruflichen Schadstoffexposition völlig losgelöstes eigenständiges Erklärungsmodell. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Gegen dieses ihr am 19. Juli 2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15. August 2002 Berufung eingelegt. Nach ihrer Auffassung spreche nach Abwägung aller Umstände mehr für als gegen die Annahme einer toxischen Ursache der geltend gemachten Gesundheitsstörungen. Auch sei die Frage der Bedeutung der sog. SPECT-Untersuchung noch nicht hinreichend geklärt. Im Hinblick auf die Ausführungen des praktischen Arztes J. sei noch eine toxikologische Be-gutachtung zu veranlassen. Überdies weist die Klägerin darauf hin, dass der Arzt J. ihr vor etwa 10 Jahren Blut abgenommen habe. Sie rege an, die noch heute im eingefrorenen Zustand vorhandenen Blutampullen einer Untersuchung zuzuführen.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 12. Juni 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 1999 aufzuheben,
- 2.
festzustellen, dass bei ihr eine BK nach den Nrn. 1302, 1310 und 1317 der Anlage zur BKV vorliegt,
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, ihr Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung - insbesondere Verletztenrente - zu erbringen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 12. Juni 2002 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die die Klägerin betreffenden Schwerbehinderten-Akten des Versorgungsamts L. vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Die von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsstörungen (leichte Ermüdbarkeit, Kopfschmerzen, Vergesslichkeit, Schwindelerscheinungen, Hör- und Sehstörungen) sind nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folgen der BKen nach Nrn. 1302, 1310 und 1317, die wegen der in Holzschutzmitteln enthaltenen Schadstoffe (PCP, HCH, Dioxine, Furane) als Listenerkrankungen in Betracht zu ziehen sind. Dies hat das SG zu Beginn der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteil herausgestellt und auf Grund des Gesamtergebnisses des Verfahrens überzeugend begründet, dass ein ursächlicher Zusammenhang der Gesundheitsstörungen der Klägerin mit ihrer Arbeit als Erzieherin nicht wahrscheinlich ist.
1.
Gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht schon, dass die Raumluftmessungen im Städtischen Kindertagesheim H., in dem die Klägerin tätig war, keine Überschreitung der zulässigen Grenzwerte für Dioxine und Furane ergaben (Messbericht der ERGO-Forschungs-gesellschaft vom 2. August 1990).
2.
Unabhängig hiervon ist auch aus medizinischen Gründen eine BK zu verneinen. Insoweit ist, wie sich aus der Definition der BK Nr. 1317 ergibt, wegen der in Betracht zu ziehenden neurotoxischen Wirkung von Holzschutzmitteln zu prüfen, ob bei der Klägerin das Krankheitsbild einer Encephalopathie oder einer Polyneuropathie (PNP) vorliegt. Auf Grund des Gutachtens des Dr. K. ist geklärt, dass die Klägerin nicht unter diesen Erkrankungen leidet. So ergaben die - insoweit aussagekräftigen - elektroneurographischen und elektromyographischen Untersuchungen keine Hinweise auf eine PNP, und es fanden sich keine Paresen und Atrophien der Extremitäten. Ebenso wenig ist eine organische Hirnschädigung im Sinne einer Encephalopathie nachweisbar. Auch das hat Dr. K. herausgearbeitet und dabei auf die zumindest guten Ergebnisse der psychologischen Tests und auf seine Beobachtungen bei der Exploration und der Untersuchung der Klägerin hingewiesen. Das gilt sowohl für die kognitivnestischen Funktionen (Konzentration, Merkfähigkeit, Umstellungsfähigkeit, psychomotorisches Tempo, Wachheit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit) als auch für Auffälligkeiten der Wahrnehmungsebene (Störung der Orientierung, fehlende Motivation, vermehrte Reizbarkeit, fehlende Selbstständigkeit, Schwindel). Darüber hinaus ergaben auch die übrigen bildgebenden Verfahren (EEG, Doppler-Sonographie der hirnzuführenden Blutgefäße) un-auffällige Ergebnisse. Andererseits konnte Dr. K. psychische Auffälligkeiten mit gelegentlichen depressiven Tendenzen und unspezifische Beschwerden (Schwäche und Erschöpfung nach vergleichsweise geringer Anstrengung, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und innere Unruhe) einem sog. pseudo-neurasthenischen Syndrom zuordnen. Auf überlagernde psychogene Faktoren mit depressivem Rückzugsverhalten wird auch in dem Heilverfahrens-Entlassungsbericht der BfA (Dr. M.) vom 15. Juni 1998 aufmerksam gemacht. Ergänzend hat Dr. K. außerdem in Übereinstimmung mit dem HNO-Arzt Dr. N. (Schreiben vom 2. Oktober 1990, Verwaltungsakten Bl. 86) in der mündlichen Verhandlung vor dem SG klargestellt, dass Hörstürze, wie sie die Klägerin geltend macht, häufig im Zusammenhang mit Stress und Depressionen beobachtet werden, während eine toxische Verursachung bisher noch nicht beschrieben wurde (S. 9 unten des angefochtenen Urteils).
Die Beurteilung des Dr. K. stimmt damit überein, dass nach dem derzeitigen gesicherten Stand der Wissenschaft die Kausalität für die Entstehung einer BK auf Grund von niedrig dosierten Innenraumbelastungen durch Holzschutz-mittel - wie sie im Fall der Klägerin vorlag - ungesichert ist (Stellungnahme der Staatlichen Gewerbeärztin Dr. G. vom 30. Mai 1995, Verwaltungsakten Bl. 111). Im Einklang damit haben Volkheimer/Alsen-Hinrichs/Wassermann im Jahr 1997 aus umfangreichen Literaturrecherchen nur den Schluss auf die Möglichkeit von durch Holzschutzmittelbelastung verursachten oder verschlimmerten gesundheitlichen Beeinträchtigungen gezogen (vgl. die Studie Bl. 144 ff. der Verwaltungsakten). Dabei heben sie hervor, dass bei einigen begutachteten holzschutzmittelbelasteten Kindergärtnerinnen die Möglichkeit einer begünstigten Tumorbildung auch nach niedrigdosierter inhalativer TCDD-TE/cbm-Aufnahme in Betracht gezogen werden müsse. Diese Einschätzung ist insbesondere auf Grund der sog. Holzschutzmittelstudie, in die die Klägerin einbezogen war und deren Kurzfassung ihr übermittelt wurde (vgl. Verwaltungsakten Bl. 103) nachvollziehbar. Durch die Studie konnte der Verdacht einer ursächlichen Beziehung komplexer Krankheitserscheinungen zur Holzschutzmittelbelastung nicht hinreichend untermauert werden (Vorbemerkung S. 4 der Kurzfassung der Studie). Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus dem Hinweis in der Studie, dass bei Holzschutzmittelbelastung "ein Gefühl der Leistungsminderung" und Konzentrationsstörungen erhöht waren, wobei allerdings "gewisse subjektive Effekte in der Gruppe der Exponierten eine Rolle gespielt haben könnten" (S. 32 f. der Studie). Denn die Verfasser der Studie weisen darauf hin, dass die Untersuchung von Beschwerden nicht beanspruche, pathologische Zustände - also Krankheiten - abzubilden, und sie weisen vor allem die Hypothese zurück, dass die Holzschutzmittelbelastung zu über-prüfbaren sensorischen, motorischen oder neurologischen Veränderungen führe (S. 34 f. der Studie).
Die Beurteilung des Dr. K. wird andererseits durch den Bericht des Arztes J. vom 30. Mai 2002 nicht in Frage gestellt, wonach ein "pathologischer Hirnbefund" der Klägerin auf die Einwirkung von Holzschutzmitteln zurückzuführen und als BK Nrn. 1317 und (oder) 1310 zu entschädigen sei. Die Behauptung dieses Arztes, die Expositionsfolgen seien "nicht nur durch den SPECT-Befund" dokumentiert, findet in dem erwähnten Bericht, in dem keine Untersuchungsergebnisse mitgeteilt werden, keine Stütze. Sie ist auf Grund der umfangreichen Diagnostik des Dr. K. widerlegt. Soweit die ärztliche BK-Anzeige vom 20. Februar 1998 einen pathologischen SPECT-Hirnbefund erwähnt, ergibt sich nichts anderes. Denn der von Dr. O. am 26. August 1996 erhobene SPECT-Befund ist kein Beweis für eine toxische Gehirnschädigung. Hierzu hat Dr. K. ausgeführt, dass Auffälligkeiten im SPECT viel zu unspezifisch seien, um eine toxische Encephalopathie zu belegen. Der Senat hat sich nicht veranlasst gesehen, der Anregung der Klägerin zu folgen und die nach ihren Angaben noch vorhandenen Blutproben (Ampullen) beizuziehen. Denn der Sachverhalt ist medizinisch hinreichend aufgeklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz - SGG -.
Ein Grund für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.