Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 27.03.2003, Az.: L 8 AL 279/02
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.03.2003
- Aktenzeichen
- L 8 AL 279/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 39764
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0327.L8AL279.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - AZ: S 4 AL 16/01
In dem Rechtsstreit
...
hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen ohne mündliche Verhandlung am 27. März 2003 in Celle durch den Richter Scheider - Vorsitzender -, den Richter Wimmer, den Richter VAlgolio sowie die ehrenamtlichen Richter C. und D.
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 18. Juni 2002 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Erstattung von Leistungen als Nachlassverbindlichkeiten.
Der volljährige Kläger ist Sohn des am 25. April 1997 verstorbenen G. H., zuletzt in I., J. wohnhaft. Ausweislich des gemeinschaftlichen Erbscheins des Amtsgerichts K. vom 19. März 1998 sind der Kläger und sein Bruder L. H. als Erben zu je 1/4 des Nachlasses eingesetzt worden.
Der Erblasser stand seit 1991 mit Unterbrechungen bei der Beklagten im Leistungsbezug. In der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakte des Arbeitsamtes M. sind folgende an den Vater des Klägers gerichtete Bescheide enthalten:
(Bl 52) - Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 17. Juni 1993:
Aufhebung Arbeitslosengeld (Alg) vom 16. Oktober 1991 bis 19. November 1991 und Erstattung von 948,00 DM;
(Bl 75) - Säumnis- und Aufhebungsbescheid vom 18. August 1994:
Aufhebung Alg mit Wirkung vom 12. Juli 1997 und Erstattung von 45,40 DM;
(Bl 87) - Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 21. November 1994:
Aufhebung Alg vom 27. September 1994 bis 27. Oktober 1994 und Erstattung von 1.331,60 DM, abzüglich Verrechnung mit 400,00 DM, Restforderung 931,60 DM, (Bl. 95);
(Bl 165) - Säumniszeit- und Aufhebungsbescheid vom 5. Februar 1996: Aufhebung Arbeitslosenhilfe vom 7. November bis zum 12. Dezember 1995 und Erstattung von 864,90 DM.
Daraus errechnete die Beklagte eine Gesamtforderung von 2.789,90 DM, die sie zuzüglich Mahngebühren von 4,50 DM bei dem Kläger und seinem Bruder als Erben je zur Hälfte, nämlich in Höhe von 1.398,20DM, geltend machte (Bescheid vom 25. Mai 2000, Widerspruchsbescheid vom 1. September 2000). Der Kläger lehnte die Begleichung der Forderung ab, weil er die maßgeblichen Erstattungsbescheide im Schriftverkehr seines Vaters nicht vorgefunden habe. Es sei anzunehmen, dass die Bescheide dem Erblasser nicht zugegangen seien.
Mit der am 2. Oktober 2000 erhobenen Klage trug der Kläger vor, dass sein Vater bereits seit 1993 stark alkoholkrank gewesen und letztendlich als Folge dieser Erkrankung verstorben sei. Der Vater sei über Tage hinweg im Bewusstsein, in der Kommunikation und in seiner Mobilität schwer gestört gewesen. Der Kläger legte eine Erklärung von Frau N. O., Schwiegermutter seines Vaters, vom 12. Juli 2001 vor, dass im Jahre 1996 der Briefkasten kein Schloss mehr gehabt habe und verbeult gewesen sei; ferner habe die dort vorgefundene Post Unregelmäßigkeiten aufgewiesen.
Demgegenüber bezog sich die Beklagte auf den Umstand, dass die streitigen Bescheide nicht zurückgekommen seien. Der Erblasser habe sich stets nach Aufhebung der Leistungsbewilligungen wegen Meldeversäumnisse erneut persönlich arbeitslos gemeldet.
Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat mit Urteil vom 18. Juni 2002 die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, es stehe zu Überzeugung der Kammer nicht fest, dass dem Verstorbenen ein entsprechender Verwaltungsakt bekannt gegeben worden sei. Denn die Zustellung eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides könne durch die Beklagte nicht nachgewiesen werden. Deshalb sei der Klage im Wege einer Beweislastentscheidung stattzugeben. Gegen das am 3. Juli 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 31. Juli 2002 eingelegte Berufung der Beklagten.
Die Beklagte trägt vor, der Kläger könne sich nicht darauf berufen, dass die Bescheide der Beklagten dem Erblasser nicht bekannt gegeben worden seien. Hierfür gebe es nach Aktenlage keinerlei Anhaltspunkte. Der Kläger sei nicht Adressat der Bescheide gewesen. Der Umstand allein, dass er in den Unterlagen seines Vaters diese Bescheide nicht vorgefunden habe, beweise nicht, dass sie ihm nicht zugegangen seien. Da sich aus dem Akteninhalt nichts Gegenteiliges ergebe, müsse von einem wirksamen Zugang der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide ausgegangen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 18. Juni 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger erwidert, die Beklagte müsse den Zugang der Ausgangsbescheide beim Erblasser beweisen. Der Kläger selbst brauchte nur stützende Zweifel an der Bekanntgabe der Bescheide vortragen. Hierzu sei es ausreichend, dass die Bescheide in den Unterlagen seines Vaters nicht aufzufinden gewesen seien. Im Übrigen seien im Hinblick auf die Wohn- und Lebensverhältnisse des Erblassers sowie auf dessen Gesundheitszustand erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Kenntnisnahme begründet.
Wegen des umfassenden Vorbringens der Beteiligten und wegen des vollständigen Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie auf die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge (St.-Nr.: P.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung.
Die statthafte und auch ansonsten zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils des SG Oldenburg und zur Klageabweisung. Der Kläger ist zur Erstattung an die Beklagte in Höhe von 1.397,20 DM verpflichtet.
Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Der Kläger ist rechtmäßiger Adressat der Erstattungsforderung, die zusätzlich ihm gegenüber durch Verwaltungsakt festzustellen war, für die dann der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist (BSG SozR 1500 § 54 Nr. 66). Der Kläger hat die Erbschaft nicht ausgeschlagen (§ 1944 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -). Er ist als Erbe eingesetzt worden und haftet gemäß § 1967 BGB für die Nachlassverbindlichkeiten seines Vaters. Hierzu gehören die Erstattungsforderung der Beklagten aus den Bescheiden vom 17. Juni 1993 (948,00DM), vom 18. August 1994 (45,40DM), vom 21. November 1994 (931,60DM) und vom 5. Februar 1996 (864,90DM). Hinzu kommt gemäß §3 Abs. 3 Verwaltungsvollstreckungsgesetz eine Mahngebühr von 4,50 DM. Die Gesamtforderung in Höhe von 2.794,40 DM hat die Beklagte nur zur Hälfte beim Kläger geltend gemacht.
Der Senat folgt der Würdigung des SG nicht, dass der Klage im Wege einer Beweislastentscheidung stattzugeben sei. Vielmehr sind keinerlei Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass die jeweiligen Bescheide nicht in den Machtbereich des Erblassers gelangt sind. Eine tatsächliche Kenntnisnahme der Bescheide ist nicht erforderlich und daher von der Beklagten nicht nachzuweisen.
Aus den sich in der Verwaltungsakte befindlichen Durchschriften ist zu entnehmen, dass die Beklagte jeweils einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid gefertigt und diesen zur Post abgegeben hat. Ein Postrückgang ist nicht festzustellen. Die Beklagte bleibt grundsätzlich für den Zugang von Bescheiden darlegungs- und beweispflichtig und trägt insoweit das Risiko, dass sie für diese Art von Bescheiden weder eine qualifizierte Zustellung vornimmt, noch einen aktenkundigen Absendevermerk veranlasst. Beruft sich ein Kläger darauf, einen bestimmten Bescheid nicht erhalten zu haben, ist der Verwaltungsakt in der Regel aufzuheben, wenn die Behörde dessen Bekanntgabe insbesondere die Aufgabe zur Post gemäß § 37 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren -(SGB X) nicht belegen kann. Anders verhält es sich im vorliegenden Fall.
Der Beklagten kommt insoweit die Regelung des § 37 Abs 2 SGB X zugute. Danach wird grundsätzlich bei Postsendungen eine Bekanntgabe des schriftlichen Verwaltungsaktes mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post fingiert, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist, wobei im Zweifel die Behörde den tatsächlichen Zugang der Verwaltungsakte nachzuweisen hat. Die gesetzliche Ausgangslage ist durch einen fiktiven Zugang der Verwaltungsakte charakterisiert, der erst bei Vorliegen von Zweifeln seine normative Wirkung verliert. Derartige Zweifel, welche die von Gesetzes wegen unterstellte Bekanntgabe der hier streitigen Bescheide erschüttern könnten, sind vom Kläger nicht dargelegt worden und auch sonst nicht ersichtlich.
Es ist nämlich nicht zu übersehen, dass hier zu unterschiedlichen Zeiten innerhalb eines Zeitraums von fast 3 Jahren 4 einzelne Bescheide nicht den Weg zum Erblasser gefunden haben müssten. Eine plausible Erklärung für diese außergewöhnliche Fallgestaltung hat der Kläger nicht vorgebracht. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass innerhalb dieser 3 Jahre eine Vielzahl anderer Schreiben an den Vater des Klägers abgesandt wurden, die ebenfalls nicht zurückgekommen sind und vom Erblasser zur Kenntnis genommen wurden, weil es sich z.B. um Bewilligungsbescheide handelt oder weil er nach Säumniszeitbescheiden sich wieder persönlich arbeitslos gemeldet und Vorschüsse beantragt hat.
Der Kläger selbst hat nicht behauptet, dass sein Vater definitiv diese Bescheide nicht erhalten hat. Das kann er aus eigener Wahrnehmung auch nicht wissen, weil die Kontakte zum Erblasser offenbar nicht so intensiv waren. Dem Umstand allein, dass der Kläger diese Bescheide in den Unterlagen seines Vaters nicht vorgefunden hat, kommt keine Aussagekraft zu. Er begründet keine Zweifel im Sinne des § 37 Abs. 2 2. Halbsatz SGB X. Die vom Kläger dargelegten Lebens-, Wohn- und Gesundheitsverhältnisse seines Vaters können genauso gut dafür sprechen, dass diese Bescheide im Machtbereich des Erblassers verloren gegangen sind. Der Kläger hat insbesondere nicht näher dargelegt, ob in der Korrespondenz seines Vaters nur diese 4 Bescheide oder die gesamten Sendungen der Beklagten oder weitere Mitteilungen dritter Stellen fehlten.
Ein anderes Ergebnis ergibt sich nicht aus der vom Kläger erstinstanzlich vorgelegten Bestätigung von Frau N. 0. vom 12. Juli 2001. Danach hat sich Frau O. während des Krankenhausaufenthaltes des Erblassers im Jahre 1996 um die eingehende Post gekümmert, weil der Briefkasten nicht mehr verschließbar war. Ihr war aufgefallen, dass die Postsendungen augenscheinlich schon mal geöffnet und anschließend mit Klebstoff wieder verschlossen wurden. Einen vollständigen Verlust von Postsendungen hat Frau 0. nicht erwähnt. Sie hat insbesondere nicht angegeben, was für den vorliegenden Rechtsstreit entscheidend wäre, dass, seitdem sie den Posteingang überwacht hat, überhaupt keine Briefe vom Arbeitsamt vorgefunden wurden. Selbst dann würde dieser Umstand nur den letzten Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 5. Februar 1996 erfassen, erklärt aber nicht, warum gerade die anderen 3 in den Jahren davor abgesandten Erstattungsbescheide von Nachbarn entwendet sein könnten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da der Kläger mit seinem Begehren unterliegt, muss er für die außergerichtlichen Kosten selbst aufkommen.