Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.03.2003, Az.: L 3/9 U 462/01

Anerkennung und Entschädigung eines Unfalls als Wegeunfall; Erforderlichkeit eines inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit; Vorliegen des inneren Zusammenhangs bei Dienen der Zurücklegung des Weges der Aufnahme dieser Tätigkeit; Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.03.2003
Aktenzeichen
L 3/9 U 462/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 26554
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0326.L3.9U462.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - AZ: S 14 U 111/97

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung und Entschädigung eines Unfalls als Arbeitsunfall (Wegeunfall).

2

Der am 04. September 1984 geborene Kläger wohnte im hier fraglichen Zeitpunkt in Weddel bei Braunschweig und besuchte die Orientierungsstufe Leonhardstraße in Braunschweig. Den 10 km langen Weg dorthin legte er jeden Morgen mit der Eisenbahn zurück. Auch am 04. Juni 1996 benutzte er gemeinsam mit seinem gleichaltrigen Schulfreund Alexander Fr. den Regionalexpress RE 3116 nach Braunschweig. Gegen 07.10 Uhr stürzte er bei Streckenkilometer 6,05 aus dem mit etwa 110 bis 120 km/h fahrenden Zug auf die Gleise und zog sich schwere Verletzungen zu (Schädelimpressionsfraktur, subcapitale Oberarmfraktur links, Risswunde linke Kniekehle, multiple Prellungen, vgl. Durchgangsarztbericht der Unfallchirurgischen Klinik Holwedestraße, Braunschweig, vom 05. Juni 1996).

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Nach dem Ergebnis der bahnpolizeilichen Ermittlungen war der Kläger am Unfalltag mit seinem Schulfreund G. in der Mitte des Zuges eingestiegen und bis in den letzten Wagen durchgegangen. Dort hielten sie sich in Fahrtrichtung links im Bereich der hintersten Tür auf. Dabei handelte es sich um eine sogenannte Drehtür, die mit einem manuell zu betätigenden Schließmechanismus und darüber hinaus einer Türblockierung ausgestattet war, bei der der Türinnendrücker elektromagnetisch vom eigentlichen Türschloss getrennt ist. Bei ordnungsgemäßer Funktion verhindert die Blockierung ab einer Zuggeschwindigkeit von 5 km/h bei den Schließstellungen Vorraste und Hauptraste das Öffnen der Tür während der Fahrt. Im Notfall kann die Türblockierung mit Hilfe eines Notöffnungshebels deaktiviert werden, dessen Oberkante sich im hier benutzten Wagen in Höhe von 1,99 m über dem Wagenboden befand; nach Aufhebung der Türblockierung ertönt ein Warnton. Unmittelbar unterhalb des Notöffnungshebels informierte ein Hinweisschild über dessen Funktion; außerdem zeigten Piktogramme in Höhe des Türgriffs die korrekte Bedienung des Griffs und die Gefahr des Hinausfallens an. In Höhe des Türgriffs war außerdem ein Schutzbügel an der Tür angebracht. Die Tür war während der Fahrt nach hinten - entgegen der Fahrtrichtung - aufgeschwungen. Die Bahnpolizei ging davon aus, dass der Kläger durch den entstandenen Sog bzw. durch den Fahrtwind aus dem Zug geschleudert worden war.

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Um den Kläger zu schonen, verzichtete die Bahnpolizei auf dessen Vernehmung zum näheren Unfallverlauf. Ein Mitarbeiter der Schule teilte dem Beklagten am 11. Juni 1996 telefonisch mit, Mitschüler des Klägers hätten angegeben, dieser habe versucht, ob die Tür zu öffnen sei. Der Vater des Klägers gab demgegenüber an, die Tür des Waggons sei nicht verschlossen gewesen. Beim Versuch, die Tür zu schließen, habe der Kläger das Gleichgewicht verloren, die Tür sei aufgeschlagen und er sei aus dem Zug gestürzt.

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Der Mitschüler H. gab der Bahnpolizei gegenüber am Unfalltag an, der Kläger habe bemerkt, dass die letzte Tür auf der linken Seite nicht ganz verschlossen gewesen sei, sondern einen Spalt vom Rahmen abgestanden habe. Der Kläger habe dann begonnen, an der Tür zu rütteln. Er selbst habe ihm noch gesagt, er solle damit aufhören, da sei die Tür auch schon aufgesprungen und der Kläger sei hinausgefallen. An dem oberen roten Hebel hätten sie nicht gezogen. Bei einer späteren Vernehmung (am 17. Juni 1996) sagte G. aus, man habe bemerkt, dass die Tür ca. 1 bis 2 cm offen gestanden habe. Der Kläger habe gesagt: "Lass mich mal ran" und dann den Türgriff nach unten gedrückt, worauf die Tür ganz normal aufgegangen und der Kläger aus dem Zug gefallen sei. Er glaube, er habe ein bis zwei Sekunden nach dem Öffnen der Tür einen durchgehenden Ton gehört.

6

Die Bahnpolizei vernahm außerdem den Mitreisenden I. am Unfalltag, nach dessen Angaben sich die Zugtür unvermittelt geöffnet habe, ohne dass die obere Entblockierung durch die Kinder betätigt worden sei. Er habe daraufhin umgehend die Notbremse gezogen. Bei seiner Vernehmung am 07. Juni 1996 sagte er aus, die Jungen hätten sich über den Schließmechanismus der Tür unterhalten, wobei einer sinngemäß gesagt habe, dass die Türen während der Fahrt nicht aufgehen. Einer der Jungen habe gesagt, dass er probieren wolle, die Tür zu öffnen. Dann habe er auf einmal ein lautes Geräusch gehört und gesehen, dass die Tür weit offen stand. Er könne nicht sagen, ob einer der Jungen den Türgriff oder die darüber liegende Aufhebung der Türblockierung betätigt habe. Wenige Tage später gab Klaus-Peter Krapp an, er habe den Eindruck gehabt, die Tür sei verriegelt gewesen. Außerdem sei er der Meinung bemerkt zu haben, dass die beiden Jungen am Türgriff herumgespielt hätten und einer der beiden versucht habe, dem anderen den Verriegelungsmechanismus vorzuführen. Es könne auch durchaus sein, dass er selbst einen kurzen Piepton gehört habe.

7

In Braunschweig kontrollierte ein Zugbegleiter die Wagentür und vermerkte, dass sich der Hebel der Türblockierung in (waagerechter) Grundstellung befand, während er bei aufgehobener Türblockierung senkrecht gestanden hätte. Während der Weiterfahrt nach Hannover überprüfte er mehrfach die Funktion der Türblockierung und stellte fest, dass sich die Tür während der Fahrt nicht öffnen ließ. Auch bei einer anschließenden Untersuchung im Bahnhof Hannover und im Rahmen der Spurensicherung der BGS-Bahnpolizeiwache in Bremen ließen sich keine Fehler an Türverschluss und Türsicherung finden. Bei einer Fahrsimulation in Bremen wurde festgestellt, dass die Tür bei einer Geschwindigkeit von mehr als 5 km/h nicht geöffnet werden konnte, es sei denn die Türnotentriegelung war vorher betätigt worden. Außerdem fanden die Spurensicherer eine schwarze Anhaftung (Schmiere o.ä.) auf dem Schutzbügel vor.

8

Der ebenfalls mitreisende J. teilte der Bahnpolizei mit, er sei in dem vor Weddel liegenden Frellstedt in den letzten Wagen gestiegen, dem letzten Bahnhof, in dem man von der linken Seite in den Zug steigen musste. Die letzte Tür sei dort von keinen Reisenden benutzt worden und verschlossen gewesen. Nach dem Unfall habe er aufgrund seiner Tätigkeit im Notfallmanagement der Deutschen Bahn den Namen eines der Schüler sowie des Reisenden festgestellt, der die Notbremse gezogen hatte. Die hinteren Türen des Wagens seien geschlossen gewesen. Die Zugführerin des Regionalexpresses K. gab bei ihrer Vernehmung an, sie habe in Frellstedt die Türen des letzten Wagens vor der Abfahrt selbst per Hand geschlossen. Bis auf den letzten Wagen sei der Zug mit einer Türschließeinrichtung ausgestattet gewesen.

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Mit Bescheid vom 27. Januar 1997 lehnte der Beklagte einen Anspruch des Klägers auf Entschädigung ab, weil der Unfall keinen Arbeitsunfall im Sinne der Gesetzlichen Unfallversicherung darstelle. Nach dem Ergebnis der umfangreichen Ermittlungen der Bahnpolizeiwache Braunschweig sei der Kläger aus dem Zug gestürzt, nachdem er oder der ihn begleitende Klassenkamerad während der Fahrt einen Hebel zur Aufhebung der Türblockierung betätigt habe. Das Manipulieren an der Tür während der Zugfahrt stelle bei einem zum Unfallzeitpunkt fast 12 Jahre alten normal entwickelten Kind ein derart sorgloses und vernunftwidriges Verhalten dar, dass betriebsbezogene Umstände keine wesentliche Bedingung für den Unfall mehr bildeten.

10

Gegen diese Entscheidung legte der Kläger am 04. Februar 1997 Widerspruch ein, zu dessen Begründung er die Auffassung vertrat, er habe sich im Unfallzeitpunkt auf dem vom Versicherungsschutz umfassten Schulweg befunden. Auch aus den Ermittlungsakten der mit dem Fall befassten Staatsanwaltschaft Braunschweig ergäben sich keine entgegenstehenden Anhaltspunkte. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 1997 - zugestellt am 26. Juni - zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Beklagte aus, der Kläger habe sich bewusst im Gefahrenbereich der Waggontür des fahrenden Zuges aufgehalten. Trotz warnender Hinweise und der Forderung aufzuhören, habe er begonnen, an der Tür zu rütteln, die dann aufgesprungen sei, was zum Hinausstürzen des Klägers geführt habe. Sein Verhalten sei auch angesichts seines Alters von fast 12 Jahren in so hohem Maße vernunftwidrig und gefährlich gewesen, dass er damit habe rechnen müssen zu verunglücken. Damit habe eine selbst geschaffene Gefahr die zunächst noch vorhandenen betriebsbedingten Umstände soweit zurück gedrängt, dass sie keine wesentlichen Bedingungen mehr für den Unfall gebildet hätten.

11

Am 25. Juli 1997 hat der Kläger hiergegen vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben. Er ist bei seiner Darstellung geblieben, die letzte Tür auf der linken Seite des Eisenbahnwagens sei nicht ganz verschlossen gewesen. Die Tür habe sich geöffnet und er sei durch den dadurch entstandenen Sog aus dem fahrenden Zug herausgeschleudert worden. Der Vorwurf, er habe an der Tür manipuliert, sei unbegründet. Wie die verantwortliche Zugbegleiterin bestätigt habe, sei der letzte Wagen nicht an die Türschließvorrichtung angeschlossen gewesen.

12

Das SG Braunschweig hat den Beklagten mit Urteil vom 16. Oktober 2001 verurteilt, den Unfall des Klägers als Arbeits-/Wegeunfall der Gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen. Der Kläger habe während der Fahrt des Zuges zwar entgegen aller Warnungen den Türgriff betätigt. Dieses Verhalten entspreche aber dem natürlichen Spiel- und Experimentiertrieb von 11-jährigen Jungen. Selbst wenn die Tür nur in der so genannten Sicherheitsrast geschlossen gewesen wäre, also noch einen Spalt breit offen gestanden hätte, sei das Betätigen des Türgriffs nach den Beteuerungen der Bahn völlig ungefährlich gewesen. Sollte die Tür tatsächlich auch bei der Schließstellung Sicherheitsrast zu öffnen gewesen sein, läge sogar ein Verschulden der Bahn vor. Selbst wenn davon ausgegangen werde, dass einer der beiden Jungen den Sicherheitshebel betätigt habe, sei damit noch nicht ein in hohem Maße vernunftwidriges und gefahrbringendes Verhalten des Klägers nachgewiesen, das allein den Versicherungsschutz entfallen lassen könnte. Es komme zwar die Möglichkeit in Betracht, dass der Kläger den Hebel betätigt habe; mit mindestens gleich hoher Wahrscheinlichkeit komme hierfür aber auch der Klassenkamerad G. in Frage. Genauere Feststellungen ließen sich auch durch wie immer geartete weitere Ermittlungen nicht treffen. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast träfen die Folgen der Beweislosigkeit im vorliegenden Fall den Beklagten, der sich auf den Einwand des den Versicherungsschutz ausschließenden besonders gefährlichen Verhaltens des Klägers berufen habe.

13

Gegen das ihm am 20. November 2001 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 18. Dezember 2001 Berufung eingelegt. Er wiederholt seine Auffassung, der erforderliche innere Zusammenhang mit der versicherten schulischen Tätigkeit sei dann nicht mehr gegeben, wenn sich der Versicherte derart sorglos und vernunftwidrig verhalte, dass für den Eintritt des Unfalls nicht mehr die betriebliche Tätigkeit, sondern die selbst geschaffene Gefahr als die rechtlich wesentliche Ursache anzusehen sei. Die in diesem Zusammenhang anzustellende nähere Klärung des Unfallhergangs sei vom SG fehlerhaft unterlassen worden. Tatsächlich habe es zu dem Unfall nur kommen können, weil der Kläger den Hebel zur Aufhebung der Türblockierung betätigt und anschließend die Tür geöffnet habe. So habe die Zugbegleiterin Frau L. mitgeteilt, die Türen des letzten Wagens seien verschlossen gewesen. Wiederholte Untersuchungen der Sicherungsvorrichtungen durch die Bahn hätten deren vollständige Funktionsfähigkeit ergeben. Eine andere Möglichkeit als die Betätigung des Sicherheitshebels durch den Kläger oder seinen Freund G. gebe es demzufolge nicht. Wenn als Ergebnis weiterer gerichtlicher Ermittlungen letztlich festgestellt würde, dass der Kläger die Türblockierung entriegelt habe, so bestehe kein Unfallversicherungsschutz, weil die Gefährlichkeit solcher Manipulationen auch für den damals fast 12-jährigen Kläger ersichtlich gewesen sei. Das Betätigen eines solchen Hebels, der in 1,99 m Höhe angebracht und für den Kläger nur erreichbar gewesen sei, indem er den Sicherungsbügel der Tür bestieg, sei in besonderem Maße sorglos und vernunftwidrig. Es sei auch für den betrieblichen Zweck - den Weg zur Schule - völlig unnötig und deshalb ein betriebsfremdes Motiv gewesen, das die zunächst noch vorhandenen betriebsbezogenen Umstände des Schulweges soweit zurückgedrängt habe, dass diese keine wesentliche Bedingung für den Unfall mehr bildeten.

14

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 16. Oktober 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

15

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

16

Er bleibe dabei, dass er weder den Türöffner gedrückt noch sonst wie an der Tür manipuliert habe.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

18

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

19

Zu Recht hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Januar 1997 und des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 1997 verurteilt, den Unfall des Klägers vom 04. Juni 1996 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

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Die Rechtslage beurteilt sich vorliegend noch nach der bis zum 31. Dezember 1996 geltenden RVO. Denn der streitbefangene Unfall ereignete sich im Juni 1996 und daher vor dem Inkrafttreten des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01. Januar 1997 (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII).

21

Gemäß § 550 Abs. 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 - 545 genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Kläger hat den Unfall auf dem Weg zu seiner Schule in Braunschweig erlitten. Der Besuch allgemein bildender Schulen ist in dem hier fraglichen Zeitraum gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14b RVO unfallversichert gewesen.

22

Allerdings genügt zur Annahme eines nach § 550 Abs. 1 RVO versicherten Wegeunfalls nicht schon jeder zeitliche und örtliche Zusammenhang mit dem Schulbesuch. Vielmehr ist ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit erforderlich, der vorliegt, wenn und soweit die Zurücklegung des Weges der Aufnahme dieser Tätigkeit dient. Bei der Feststellung des inneren Zusammenhangs zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Es ist daher wertend zu entscheiden, ob das Handeln des Versicherten zur versicherten Tätigkeit bzw. - wie hier - zum Weg zur oder von der Arbeitsstätte (bzw. Schule) gehört. Maßgeblich ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch objektive Umstände des Einzelfalls bestätigt wird. Diese fehlt etwa dann, wenn der Versicherte den Weg zur versicherten Tätigkeit für Zwecke nutzen will, die dem Erreichen dieses Zieles nicht dienlich sind. Fehlt es an einem inneren Zusammenhang in diesem Sinne, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg zur Tätigkeit gewöhnlich benutzt (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. zuletzt Urteil vom 04. Juni 2002 - B 2 U 11/01 R mwN). Für diese tatsächlichen Grundlagen des Vorliegens versicherter Tätigkeit muss der volle Beweis erbracht werden, das Vorhandensein einer versicherten Tätigkeit also sicher feststehen (BSG aaO); die objektive Beweislast hierfür trägt der Versicherte (Senatsurteil vom 25. September 2002 - L 3/9/6 U 232/00).

23

Im Grundsatz zutreffend weist der Beklagte insoweit darauf hin, dass es an diesem notwendigen inneren Zusammenhang fehlen kann, wenn sich der Versicherte in eine selbst geschaffene Gefahrenlage begeben hat, deren Motiv nicht die möglichst zügige Erreichung der Arbeitsstätte war (vgl. hierzu BSG SozR 3-2200 § 550 Nr. 21; BSGE 43, 15, 18), sondern die Verfolgung betriebsfremder Zwecke. Hierzu können alle rein privaten, von der versicherten Tätigkeit losgelösten Interessen gehören, etwa die Veranstaltung eines Wettrennens, der Zeitgewinn zur Erledigung privater Einkäufe (BSG aaO) oder auch Neugier (BSG, Urteil vom 31. Juli 1985 - 2 RU 63/84). Dieser Gesichtspunkt führt im Fall des Klägers jedoch nicht zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes.

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Dabei muss der Senat nicht endgültig klären, wie es genau zu dem Unfall vom 04. Juni 1996 gekommen ist, sondern kann zugunsten des Beklagten davon ausgehen, dass der Unfall dadurch verursacht worden ist, dass der Kläger selbst Manipulationen an der Tür des Eisenbahnwagens vorgenommen hat, durch die diese sich geöffnet hat. Hierfür sprechen zumindest einige gewichtige Gesichtspunkte.

25

Eine selbsttätige Öffnung der Tür erscheint wenig wahrscheinlich, weil diese nach den Ermittlungen der Bahnpolizei durch eine autarke Türblockierung gesichert war, die bereits ab einer Zuggeschwindigkeit von 5 km/h wirksam war und auch im Zustand der Vorraste - also bei nicht vollständig geschlossener Tür - verhinderte, dass diese mit dem normalen Türgriff geöffnet werden konnte. Die Bahnpolizei hat hierzu den Unfallwagen untersucht und bei wiederholten Prüfungen die Funktionsfähigkeit des Sicherungssystems festgestellt. Die Zugführerin L. hat zwar ausgesagt, der letzte Wagen sei nicht mit einer Türschließeinrichtung ausgestattet gewesen, hiervon ist ausweislich der Angaben des Eisenbahn-Bundesamts (Bericht vom Unfalltag, Bl. 51 Verwaltungsakte) aber die - funktionstüchtig vorhandene - Türblockierung zu unterscheiden. Die Zugführerin hat außerdem angegeben, sie habe im Bahnhof Frellstedt - dem letzten Bahnhof mit linksseitig gelegenem Bahnsteig, bei dem also die linke Tür hätte benutzt werden können - selbst die Türen des letzten Wagens per Hand geschlossen. Damit in Übereinstimmung steht der Bericht des Mitreisenden M. , der der Bahnpolizei gegenüber mitgeteilt hat, die letzte Tür sei in Frellstedt von keinen weiteren Reisenden benutzt worden und verschlossen gewesen.

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Gegen die Glaubhaftigkeit dieser Angaben mag zwar eingewandt werden, alle genannten Personen seien dienstlich mit der Deutschen Bahn verbunden gewesen, so dass ein Interesse vorgelegen haben könnte, technische Probleme bei der Türschließung in dem betroffenen Wagentyp vertuschen zu wollen. Konkrete Anhaltspunkte hierfür, die über einen bloßen von der Klägerseite geäußerten Verdacht hinausgehen, sind jedoch nicht ersichtlich. Der Senat hält demzufolge eine Verschleierungsabsicht der Bahnbediensteten für wenig wahrscheinlich.

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Dafür, dass sich die Tür nicht von selbst, sondern nur durch Einwirkung des Klägers geöffnet hat, spricht vor allem die Aussage des ansonsten unbeteiligten Mitreisenden N ... Dieser stand im Unfallzeitpunkt im letzten Wagen in der Nähe der hinteren Tür in Fahrtrichtung rechts und berichtete bei seiner Vernehmung am 07. Juni 1996, in Fahrtrichtung links hätten die beiden Jungen - der Kläger und sein Schulfreund G. - gestanden und sich über den Schließmechanismus der Tür unterhalten. Einer habe sinngemäß gesagt, dass die Türen während der Fahrt nicht aufgingen und - nach seiner Erinnerung -, dass er probieren wolle, die Tür zu öffnen. Danach habe er auf einmal ein lautes Geräusch gehört und beim Hinschauen gesehen, dass die Tür weit offen stand. Ob seine später (bei der wiederholten Vernehmung am 09. Juli 1996) geäußerte Meinung, bemerkt zu haben, dass die beiden Jungen am Türgriff herumspielten, zutrifft oder eher einem nachträglichen Kombinieren entsprungen ist, kann in diesem Zusammenhang dahinstehen. Jedenfalls dürfte seinen Angaben in der Vernehmung vom 07. Juni 1996 zu entnehmen sein, dass sich der Kläger und sein Freund unmittelbar vor dem Unfall intensiv mit dem Schließmechanismus der Tür beschäftigt haben und einer von beiden probieren wollte, die Tür unter Überwindung des Schließmechanismus zu öffnen. Angesichts der von der Bahnpolizei vorgefundenen frischen schwarzen Anhaftungen auf dem Sicherheitsbügel in der Mitte der Tür könnte nahe liegen, dass ein Junge auf den Bügel gestiegen ist, um den am oberen Ende der Tür befindlichen Sicherheitshebel zu betätigen. Da anzunehmen ist, dass bei einem im nächsten Moment eintretenden Umschlagen der Tür nach außen derjenige Junge aus dem Zug gestürzt ist, der der Türöffnung am nächsten war, wäre dann davon auszugehen, dass der Kläger die Öffnung selbst herbeigeführt hat.

28

Der einzige Zeuge, dessen Aussage gegen diesen Geschehensablauf spricht, ist der zum Unfallzeitpunkt 11-jährige G ... Dieser hat sich zum einen allerdings schon insoweit widersprochen, als er am Unfalltag berichtet hat, der Kläger habe begonnen, an der nicht ganz verschlossenen Tür zu rütteln, während er am 17. Juni 1996 angegeben hat, der Kläger habe den Türgriff (nur) nach unten gedrückt. Zu Zweifeln gibt insoweit auch die Mitteilung Anlass, O. habe geglaubt, für einige Sekunden einen durchgehenden Ton gehört zu haben, der aber gerade auf eine Deaktivierung der Türblockierung hätte schließen lassen müssen. Der Glaubwürdigkeit dieses von der Bahnpolizei vernommenen Zeugen steht jedenfalls ein Eigeninteresse des Jungen entgegen, eine Dummheit mit schwerwiegenden Folgen verdecken zu wollen. Hierfür spricht im Übrigen auch die Mitteilung eines Mitarbeiters der Orientierungsstufe, dort hätten Mitschüler des Klägers angegeben, der Kläger habe versucht, ob die Tür zu öffnen sei. Dies würde die Aussage des Zeugen P. bestätigen.

29

Auch wenn man von diesem Geschehensablauf ausgeht, befand sich der Kläger entgegen der Auffassung des Beklagten bei seinem Unfall aber noch unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Denn nach der Rechtsprechung des BSG wird der Unfallversicherungsschutz bei Kindern und Jugendlichen nicht in jedem Fall dadurch ausgeschlossen, dass der Unfall durch leichtsinnige Spielereien verursacht worden ist. Dies gilt bei Jugendlichen in der Arbeitswelt, in noch größerem Umfang aber für Schüler. Denn nach der Auffassung des BSG gehen gerade vom schulischen Bereich in Bezug auf den Spiel- und Nachahmungstrieb der Schüler zusätzliche Gefahren aus, die im Rahmen des Unfallversicherungsschutzes Berücksichtigung finden müssen (BSG NJW 2001, 2909 f [BSG 07.11.2000 - B 2 U 40/99 R]; BSGE 42, 42, 44 f). Dies gilt auch auf dem Weg zur oder von der Schule (BSGE 42, 42, 45; 43, 113, 116). Erforderlich ist dabei aber, dass der Unfall neben dem spielerischen Verhalten auch auf einer konkreten Gefahr beruht, die mit dem Schulbesuch noch in ursächlichem Zusammenhang steht (BSG SozSich 1978, 116; Schwerdtfeger in: Lauterbach, Unfallversicherung Q., 4. Aufl., § 8 Rdnr 269). Denkbar sind insoweit vor allem Gefahren aufgrund baulicher Gegebenheiten (vgl. BSG NJW 2001, 2909 f [BSG 07.11.2000 - B 2 U 40/99 R]: Sturz aus dem Fenster), fehlende Aufsicht (BSGE 42, 42, 44; Schwerdtfeger aaO, Rdnr 271) oder besondere gruppendynamische Prozesse innerhalb der Schule oder etwa bei Klassenfahrten (BSG NJW 2001, 2909 f [BSG 07.11.2000 - B 2 U 40/99 R]; SozR 3-2200 § 539 Nr. 34: Rangelei mit "Handtuchschlacht"). Ein hierdurch grundsätzlich begründeter Zusammenhang mit dem versicherten Schulbesuch wird erst wieder unterbrochen, wenn das eigenverantwortete unvernünftige Handeln so im Vordergrund steht, dass die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentlich angesehen werden kann. Dies ist der Fall, wenn sich der Geschädigte in so hohem Maße vernunftwidrig und gefahrbringend verhält, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen musste, dass es zum Unfall kommt. Hierbei kommt es jedoch nicht auf eine objektive Betrachtung oder auf die Urteilsfähigkeit eines Erwachsenen an. Entscheidend ist vielmehr die jeweilige Fähigkeit des verunglückten Schülers, die Gefährlichkeit seines Tuns zu erkennen und sich dementsprechend zu verhalten. So hat das BSG beispielsweise mit Urteil vom 07. November 2000 (NJW 2001, 2909 [BSG 07.11.2000 - B 2 U 40/99 R]) unter Hinweis auf dieses Kriterium entschieden, dass ein 17-jähriger Schüler versichert blieb, als er im Rahmen einer Klassenfahrt versuchte, vom Fenster seines Zimmers in das 1,20 m entfernte Fenster eines anderen Zimmers zu gelangen und dabei abstürzte; denn hierzu sei er infolge seiner altersbedingten Unreife und eines für Jugendliche seines Alters typischen gruppendynamischen Prozesses gebracht worden.

30

Der Senat schließt sich dieser überzeugenden Rechtsprechung an. Sie entspricht der Lebenswirklichkeit und ermöglicht einen angemessenen Unfallversicherungsschutz von Schülern und Schülerinnen, die angesichts einer zunehmenden Zentralisierung des Schulwesens (mit Mittelpunktschulen, Orientierungsstufen etc) im Vergleich zu früher erheblich längere Schulwege zurücklegen müssen und dabei mannigfaltigen Gefahren ausgesetzt sind.

31

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist vorliegend ein Zusammenhang mit dem versicherten Schulbesuch zu bejahen. Dass der Unfall (auch) Folge der besonderen Betriebsgefahren der Bahn und damit des zur Zurücklegung des Schulwegs gewählten Verkehrsmittels war, bedarf keiner besonderen Darlegung. Wenn das plötzliche Öffnen der Drehtür darauf zurückzuführen ist, dass der Kläger versuchen wollte, die Türblockierung zu überwinden und die Tür zu öffnen, ist dies als typisches spielerisches Verhalten eines Kindes von knapp 12 Jahren zu werten. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist insbesondere das Verhalten von Jungen in diesem Alter von ausgeprägter Neugier, technischem Interesse und Entdeckerfreude geprägt, wobei es erfahrungsgemäß als besonderer Reiz empfunden wird, technische Hindernisse zu überwinden und sich daran selbst zu beweisen. Dies gilt in besonderem Maße, wenn - wie hier - ein Schulfreund dabei war, dem die eigene Überlegenheit demonstriert werden kann.

32

Bei vernünftiger Betrachtung hätte zwar auch ein fast Zwölfjähriger um die Gefahr wissen müssen, die mit dem Öffnen der Tür während der Fahrt des Zuges verbunden ist; insbesondere konnte ihm nicht das Warn-Piktogramm verborgen bleiben, das eine hinausstürzende Person abbildete. Es ist jedoch gerade typisch, dass Jungen in diesem Alter die Gefahren unterschätzen, die mit schneller Fortbewegung verbunden sind und dass insoweit auch Ermahnungen und Verbote umgangen werden. Dies gilt in besonderem Maße hier, weil die Geschwindigkeit innerhalb des Zuges nur abgeschwächt empfunden wird, was dazu verleitet, nicht an die physikalischen Auswirkungen einer plötzlichen Türöffnung zu denken. Einem alterstypisch unreifen Verhalten entspricht es schließlich auch, das ohnehin eingeschränkte Gefahrenbewusstein in Verfolgung des eigenen Spiels und der Absicht, den Schulfreund zu beeindrucken, gänzlich zu verdrängen.

33

Angesichts dieser Wertung musste der Senat die seitens des Beklagten für erforderlich gehaltenen weiteren Ermittlungen nicht anstellen: Denn falls diese ergeben würden, dass das eigene Verschulden des Klägers geringer zu bewerten oder zu verneinen wäre, etwa weil technischen Mängeln oder dem Verhalten des Schulfreundes G. eine größere Bedeutung zukäme, wäre der Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Schulbesuch erst recht anzunehmen.

34

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

35

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.