Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 20.03.2003, Az.: L 1 RA 239/99

Rentenanspruch wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; Frage der Veranlassung weiterer medizinischer Beweiserhebung nach abweichender Darstellung in vom Versicherten bestellten Gutachten

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
20.03.2003
Aktenzeichen
L 1 RA 239/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 15399
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0320.L1RA239.99.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg -01.01.1000 - AZ: S 14 RA 5/97

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Streitig ist seit dem erstinstanzlichen Verfahren noch das Datum des Leistungsfalles. Der Kläger begehrt die Vorverlegung des Leistungsfalles durch die Beklagte vom September 1998 (Untersuchung bei dem Sachverständigen Dr. I.) auf September 1995 (Rentenantragstellung).

2

Der im Oktober 1938 geborene Kläger war nach dem Besuch der Volksschule zunächst von 1959 bis 1982 in der Binnenschifffahrt tätig, davon seit 1965 als Kapitän. Nachdem er diesen Beruf nach zwei Bandscheiben-Operationen (L3/4 und L5/S1) in den Jahren 1972 und 1982 aufgeben musste, hat er (im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme) den Kaufmannsgehilfenbrief erworben und war seit 1985 als Verwaltungsangestellter einer Kreisbehörde (Landkreis J.) tätig, zunächst u.a. mit sachbearbeitenden Aufgaben, zuletzt in der Poststelle. Nach der Arbeitgeberauskunft vom 15. April 1997 erfolgte die Vergütung nach BAT VII.

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Seit November 1995 war der Kläger durchgängig arbeitsunfähig, wurde im Mai 1997 von der Krankenkasse ausgesteuert und bezog im Anschluss Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit (BA) unter den Erleichterungen der Verfügbarkeit gemäß § 105a Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Seit dem 1. November 1998 (Vollendung des 60. Lebensjahres) bezieht der Kläger von der Beklagten Altersruhegeld (bestandskräftiger Bescheid vom 18. Dezember 1998).

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Im September 1995 stellte der Kläger den zu diesem Verfahren führenden Antrag auf Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit (EU/BU). Die Beklagte zog mehrere medizinische Unterlagen bei und holte zwei orthopädische Gutachten ein. Nach dem Gutachten des Dr. K. vom 6. Dezember 1995 war das Leistungsvermögen akut aufgehoben, jedoch nach Therapie die Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen. Nach dem Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. L. vom 2. September 1996 waren dem Kläger vollschichtig leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne ständiges schweres Heben und Tragen und ohne ständige Zwangshaltung möglich, insbesondere auch in seiner letzten Tätigkeit als Verwaltungsangestellter in der Poststelle. Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 13. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1996 ab.

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Mit seiner hiergegen am 8. Januar 1997 vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, dass nicht nur Beschwerden in der zweifach operierten LWS, sondern auch in der HWS mit Ausstrahlung in den linken Arm und die linke Schulter bestünden. Angesichts dessen seien die von der Beklagten zu Grunde gelegten medizinischen Leistungseinschätzungen unzutreffend. Das SG hat eine Arbeitgeberauskunft des Landkreises J. vom 16. April 1997 sowie einen Befundbericht des praktischen Arztes Dr. M. vom 7. April 1997 eingeholt. Sodann hat das SG den Kläger zunächst von Amts wegen untersuchen und begutachten lassen von dem Facharzt für Orthopädie und Leitenden Arzt des Bereiches Wirbelsäulenorthopädie/-chirurgie Prof. Dr. N. nebst neurologischer Zusatzbegutachtung durch den Facharzt für Neurologie Dr. O ... Prof. Dr. N. und Dr. O. kamen in ihren Gutachten vom 10. bzw. 30. März 1998 zu der Einschätzung, dass der Kläger vollschichtig leichte Arbeiten ohne Einschränkung des Verantwortungsbereichs und ohne schweres Heben und Tragen über 15 kg verrichten könne, wobei eine wechselnde Körperhaltung zwischen Stehen und Sitzen und nach zweistündiger sitzender Tätigkeit eine kurze Zeit der Durchbewegung günstig sei. Sodann hat das SG auf Antrag des Klägers gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) den Kläger untersuchen und begutachten lassen von dem Arzt für Orthopädie/Rheumatologie, Sportmedizin und Chirotherapie Dr. I., der in seinem Gutachten vom 25. Januar 1999 zu der Einschätzung eines vollständig aufgehobenen Leistungsvermögens kam. Zur Begründung führte Dr. I. u.a. aus, dass die orthopädischerseits bestehenden Wirbelsäulenbeschwerden durch eine psychosomatische Beeinträchtigung und Haltungsschwäche des Patienten überlagert seien. Zudem bestünden Schulterschmerzen, ein Carpaltunnel-Syndrom (CTS), ein eingeschränktes Gangbild als Ausdruck einer Schonhaltung nach fehlgeschlagenen WS-Therapien sowie ein Oedem und Besenreiser-Varizen. Der Leistungsfall sei bereits bei Rentenantragstellung im September 1995 eingetreten, da die Gründe der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens dauernder Natur seien. Auf Grund dieses Gutachtens nach § 109 SGG erkannte die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Rente wegen EU auf unbestimmte Zeit an, wobei sie einen Leistungsfall zum Zeitpunkt der Untersuchung bei Dr. I. (am 4. September 1998) zu Grunde legte, der zu einer Rentenzahlung ab 1. Oktober 1998 führte. Ein früherer Leistungsfall sei nicht nachweisbar, weil die zeitnäheren Gutachten jeweils noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen bestätigt hätten und die Begründung des Dr. I. zu einem Leistungsfall bereits bei Rentenantragstellung nicht überzeuge.

6

Der Kläger hat das (Teil-)Anerkenntnis der Beklagten nicht angenommen und geltend gemacht, dass der Leistungsfall der EU bereits bei Rentenantragstellung im September 1995 eingetreten sei, was Dr. I. in seinem Gutachten bestätigt habe. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 23. September 1999 abgewiesen, so weit die Klage über den von der Beklagten teilanerkannten Anspruch hinausging und zur Begründung im Einzelnen ausgeführt, dass ein früherer Leistungsfall der EU/BU als der von der Beklagten für den September 1998 angenommene nicht nachweisbar sei.

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Gegen dieses am 22. Oktober 1999 zugestellte Urteil richtet sich die am 18. November 1999 eingelegte Berufung, mit der der Kläger Verfahrensfehler des SG rügt. Namentlich habe das Gericht seine Amtsermittlungspflicht verletzt und eine unzutreffende Beweiswürdigung vorgenommen. In materiell-rechtlicher Hinsicht sei den Feststellungen des Dr. I. zu folgen und habe sich die Prognose des Dr. K. in dessen Gutachten aus dem Jahre 1995 als unzutreffend erwiesen. Im weiteren Verlauf des Berufungsverfahrens und nach weiterer Beweisaufnahme durch den erkennenden Senat hat der Kläger ergänzend geltend gemacht, dass auch die im Berufungsverfahren eingeholten medizinischen und das berufskundliche Gutachten unzutreffend seien. Zur Glaubhaftmachung seiner EU/BU legt der Kläger einen Arztbrief des Arztes für Orthopädie Dr. P. vom 16. Mai 2002 sowie ein Schreiben seines früheren Arbeitgebers (des Landkreises J. ) vom 27. März 1997 vor.

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Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. September 1999 und den Bescheid der Beklagten vom 13. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1996 aufzuheben, 2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, mit Wirkung ab dem 1. Oktober 1995 zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide als zutreffend und bezieht sich zur Begründung ergänzend auf das Urteil des SG. Verfahrensfehler des erstinstanzlichen Gerichts seien nicht feststellbar. Und die im Berufungsverfahren eingeholten weiteren Gutachten seien durchgängig überzeugend und bestätigten die Einschätzung des SG.

11

Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren zunächst ein Gutachten von Amts wegen von dem Facharzt für Orthopädie Dr. Q. vom 27. April 2000 eingeholt. Der Sachverständige hat im Einzelnen ausgeführt: In der Zeit seit dem Gutachten des Dr. I. hätten sich weitere Verschlechterungen im Gesundheitszustand des Klägers ergeben (Schulter, Daumensattelgelenksarthrose, LWS). In der streitigen Zeit vom September 1995 bis September 1998 habe der Kläger jedoch noch vollschichtig leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, überwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Wechsel zum Gehen und Stehen, aber ohne reines Sitzen, ohne schweres Heben und Tragen, ohne Arbeiten in Schulterhöhe und über Kopf, ohne Akkord, nicht am Fließband und nicht an Automaten, die das Arbeitstempo vorgeben, verrichten können. Insbesondere seien die zuletzt verrichteten Arbeiten in einer Poststelle noch möglich gewesen. Der Kläger hat dieses Gutachten für unzutreffend gehalten und die Einholung einer Stellungnahme des gem. § 109 SGG von dem SG gehörten Dr. I. beantragt. In seiner daraufhin vom Senat veranlassten ergänzenden Stellungnahme vom 23. Oktober 2000 hat Dr. I. ausgeführt, dass der Kläger nach den zweimaligen WS-Operationen eine Schonhaltung eingenommen habe, die Muskelverspannungen ausgelöst habe, die wiederum in Abhängigkeit von Belastungssituationen, Witterungseinflüssen und psychosomatischen Belastungen zu einem chronifizierten Schmerzgeschehen geführt hätten. Der Kläger habe daher im Gegensatz zu der Einschätzung von Dr. Q. im streitigen Zeitraum keine vollschichtig leichten Arbeiten mehr verrichten können. Der Sachverständige Dr. Q. hat unter dem 14. Januar 2001 in einer ergänzenden Stellungnahme erklärt, dass namentlich Anhaltspunkte für eine psychosomatische Überlagerung weder aus den früheren Gutachten noch anlässlich seiner eigenen Untersuchung erkennbar geworden seien. Er bleibe daher bei seiner einem früheren Leistungsfall entgegenstehenden Einschätzung.

12

Der Senat hat sodann ein Zweites orthopädisches Fachgutachten von Amts wegen sowie eine berufskundliche Stellungnahme eingeholt. In seinem Gutachten vom 23. Mai 2002 hat der Facharzt für Orthopädie, spezielle Schmerztherapie und Sozialmedizin Prof. Dr. R. im Einzelnen ausgeführt, dass sich der Gesundheitszustand des Probanden inzwischen weiter verschlechtert habe. Jedoch habe der Kläger im maßgeblichen Zeitraum von September 1995 bis September 1998 noch vollschichtig leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten mit mittleren geistigen Anforderungen in wechselnder Körperhaltung, ohne Vorneigung mit häufigen Bück- und Aufrichtemerkmalen, ohne häufige Rotationen des Kopfes, ohne stetige Zwangshaltungen des Kopfes, ohne häufige Überkopfarbeiten, ohne permanente Anforderungen an die Fingerkoordination oder Notwendigkeit des häufigen Opponierens des Daumens sowie ohne Witterungsexposition verrichten können. Der berufskundliche Sachverständige Diplom-Verwaltungswirt S. hat in seiner Aussage vom 29. Januar 2003 ausgeführt, dass der Kläger im streitigen Zeitraum von 1995 bis 1998 zwar nicht mehr die von ihm zuletzt ausgeübte Tätigkeit eines Mitarbeiters in der Poststelle habe verrichten können, jedoch auf die Tätigkeit eines Sachbearbeiters in der Verwaltung zu verweisen gewesen sei.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand von mündlicher Verhandlung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die gem. §§ 143f. Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.

15

Weder das Urteil des SG noch das Teil-Anerkenntnis der Beklagten sind zu beanstanden. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen EU/BU bereits vor Oktober 1998, insbesondere nicht unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles schon im Jahre 1995. Sowohl die Beklagte (in ihrem Teil-Anerkenntnis) als auch das SG in seinem Urteil haben zutreffend als Leistungsfall der EU/BU das Untersuchungsdatum bei dem Sachverständigen nach § 109 SGG Dr. I. vom 4. September 1998 zu Grunde gelegt, woraus eine Rentenzahlungspflicht der Beklagten an den Kläger seit dem 1. Oktober 1998 folgt. Ein früherer Leistungsfall ist auch nach den weiterführenden Ermittlungen des erkennenden Senats im Berufungsverfahren nicht feststellbar.

16

Der Senat geht - wie schon das SG und die Beklagte - zugunsten des Klägers von dem Eintritt des Leistungsfalles der EU (auf Dauer) bereits am 4. September 1998 aus. Diese Bewertung erfolgt zugunsten des Klägers, da nicht übersehen werden kann, dass mit Ausnahme des Gutachtens nach § 109 SGG des Dr. I. alle anderen sozialmedizinischen Beurteilungen zu der Einschätzung eines vollschichtigen Leistungsvermögens des Klägers bei lediglich qualitativen Einschränkungen gekommen sind. Hiernach wäre aber eine Rente wegen EU ausgeschlossen. Denn § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der vorliegend maßgeblichen Fassung bis zum 31.12.2000 sah vor, dass "erwerbsunfähig nicht ist, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen". Der Senat hat sich gleichwohl nicht veranlasst gesehen, das Teil-Anerkenntnis der Beklagten zu beanstanden, da das Erkrankungsbild des Klägers von einer progredienten Entwicklung gekennzeichnet ist und es vertretbar erscheint, einen Leistungsfall bereits im Herbst 1998 anzunehmen.

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Ein früherer Leistungsfall der EU/BU ist indes nicht feststellbar.

18

Bereits der Leistungsfall der BU nach § 43 SGB VI a.F. lag vor Herbst 1998 nicht vor. Denn im streitigen Zeitraum von Oktober 1995 bis zum Oktober 1998 war der Kläger nicht berufsunfähig.

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Zwar hält es der Senat für möglich, dass der Kläger in diesem Zeitraum nicht mehr in der Lage gewesen ist, die von ihm zuletzt ausgeübte Tätigkeit eines Mitarbeiters der Poststelle auszuüben, da - worauf der gehörte berufskundliche Sachverständige hingewiesen hat - die Arbeit in der Poststelle mit gelegentlichem Heben und Tragen von mittelschweren bis schweren Lasten verbunden ist, was dem Kläger nicht mehr zumutbar war (wenngleich bei der Besetzung mit mehreren Mitarbeitern eine Einzellast durch den Kläger vermeidbar gewesen sein dürfte).

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Der Kläger muss sich jedoch nach den Feststellungen des berufskundlichen Sachverständigen im streitigen Zeitraum jedenfalls auf den Beruf des Sachbearbeiters in der (Kommunal-)Verwaltung nach BAT VII verweisen lassen, wie er ihn bis zu seinem Einsatz in der Poststelle auch bereits ausgeübt hatte. Diese Einschätzung ist für den Senat nicht nur deshalb überzeugend, weil der Kläger auf Grund seines Bildungsstandes (u.a.: Kaufmannsgehilfenbrief) und seiner Vorkenntnisse in diesem Beruf die dort verlangten Tätigkeiten bewältigen konnte und es sich dabei - für den Senat nachvollziehbar - auch um eine körperlich leichte Tätigkeit handelt, die insbesondere einen Wechsel der Körperhaltung zulässt und ohne Vorneigung mit häufigen Bück- und Aufrichtemerkmalen, ohne häufige Rotationen des Kopfes, ohne stetige Zwangshaltungen des Kopfes, ohne häufige Überkopfarbeiten, ohne permanente Anforderungen an die Fingerkoordination oder Notwendigkeit des häufigen Opponierens des Daumens sowie ohne Witterungsexposition (Prof. Dr. R.) verrichtet werden kann. Sie ist vielmehr auch deshalb überzeugend, weil die Einschätzung des berufskundlichen Sachverständigen mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu Büroberufen im Allgemeinen sowie zur Sachbearbeiter- oder zur Registratortätigkeit im Besonderen in Übereinstimmung steht, bei der es sich insbesondere um körperliche leichte Arbeiten mit der Möglichkeit zum Haltungswechsel und der Berücksichtigungsfähigkeit weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen handelt (vgl. nur: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25. April 2002, L 1 RA 4/00; LSG Niedersachsen, Urteil vom 22. Februar 2001, L 1 RA 155/98; LSG Niedersachsen, Urteil vom 16. Dezember 1999, L 1 RA 70/99; ebenso: LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10. April 1997, L 3 An 58/96). - Dass der frühere Arbeitgeber des Klägers in seinem Schreiben vom 27. März 1997 erklärte, einen leidensgerechten Arbeitsplatz nicht zur Verfügung stellen zu können, ist rechtlich unerheblich. Denn auf einen konkreten Arbeitsplatz kommt es im BU-Recht der Rentenversicherung nicht an. Maßgeblich sind die Arbeitsplätze im gesamten Bundesgebiet.

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Auf Grund dieser vom Sachverständigen benannten Verweisungstätigkeit konnte der Senat dahinstehen lassen, ob der Kläger auch auf weitere Berufe zu verweisen wäre, etwa auf diejenigen des Pförtners oder des Mitarbeiters an Informations- und Empfangsstellen im öffentlichen Dienst (vgl. nur: LSG Niedersachsen, Urteil vom 27. Juni 2002, L 1 RA 59/02; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 6. Dezember 1990, L 3 An 6/90, LSG Schleswig-Holstein, a.a.O.).

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Die genannten, namentlich von Prof. Dr. R. in seinem Gutachten für den streitigen Zeitraum von Oktober 1995 bis September 1998 festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen sind nach Überzeugung des Senats auf Grund insbesondere der orthopädischen Beschwerden des Klägers notwendig, aber auch ausreichend. Sie stimmen zudem im Wesentlichen mit den Feststellungen in nahezu allen anderen Gutachten überein, den gegenteiligen Einschätzungen von Dr. I. und Dr. K. vermochte sich der Senat nicht anzuschließen.

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Maßgeblich für diese Beurteilung ist, dass sich aus den in diesem Verfahren zahlreich vorliegenden Gutachten und sonstigen Befundmitteilungen ein progredient verlaufendes Erkrankungsbild des Klägers ergibt, das seinen Ausgangspunkt in den beiden WS-Operationen der LWS in den Jahren 1972 und 1982 genommen hat, in der Folgezeit zu einer zunehmenden (schleichenden) Verminderung der Belastbarkeit der LWS führte, im Laufe der Jahre weitere Beschwerden hinzukamen, namentlich in den Bereichen der HWS, der Schulter, der Hand- und Fingergelenke, der Kniegelenke sowie des Gehverhaltens, das jedoch zu weiter gehenden als die festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen noch nicht vor September 1998 führte, sodass das bei progredienten Erkrankungsverläufen für eine Rente maßgebliche Überschreiten der Erwerbsminderungsgrenze noch nicht vor Herbst 1998 feststellbar ist:

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Im Bereich der LWS konnte der Kläger nach den beiden Operationen in den Jahren 1972 (L 3,4) und 1982 (L 5/S1) seinen Beruf in der Binnenschifffahrt nicht mehr ausüben, jedoch nach einer Umschulungsmaßnahme weiterhin und langjährig als Sachbearbeiter bzw. als Poststellenangestellter berufstätig sein. Auch die aus der streitigen Zeit von 1995 bis 1998 vorliegenden medizinischen Befunde haben noch keine wesentliche Leistungsbeeinträchtigung im LWS-Bereich beschrieben. So konnten im Reha-Entlassungsbericht aus Bad T. vom 29. März 1995 nur Restbeschwerden nach zweifacher WS-Operation mitgeteilt werden, und nach dem Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. L. vom 27. August 1996 bestand ein Lumbal-Syndrom ohne nachweisbare Funktionseinschränkung oder Akutsymptomatik. In den aus dieser Zeit stammenden weiteren medizinischen Unterlagen waren LWS-Befunde entweder nicht mitgeteilt worden, so etwa im Befundbericht des Radiologen Dr. U. vom 27. Juni 1995, oder beschrieben eine regelrechte Funktion, etwa im MDKN-Gutachten des Dr. V. vom 13. Februar 1996 (LWS ohne Krankheitswert). Auch noch zu einem späteren Zeitpunkt beschrieb der vom SG beauftragte Sachverständige und Facharzt für Orthopädie Prof. Dr. N. in seinem Gutachten vom 30. März 1998 die Bewegungsbeeinträchtigungen im LWS-Bereich als für das Erwerbsleben ohne Bedeutung. Demgegenüber stellten erst die vom Senat beauftragten Sachverständigen, die Fachärzte für Orthopädie Dr. Q. und Prof. Dr. R., in ihren Gutachten vom 27. April 2000 und vom 23. Mai 2002 eine inzwischen eingetretene deutliche Degeneration der LWS-Segmente speziell bei L 3, 4 und 5 sowie S 1 gegenüber den Jahren 1995ff. fest, und hielten für den maßgeblichen Zeitraum von 1995 bis 1998 ebenfalls noch eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für gegeben, sofern namentlich leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung verrichtet würden. - Gegenüber dieser klinisch (und radiologisch) feststellbaren Entwicklung ist die abweichende Einschätzung des Dr. I. nicht nachvollziehbar, wonach auch leichte Arbeiten bereits im maßgeblichen Zeitraum nicht mehr zumutbar gewesen sein sollen.

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Ähnlich ist die Entwicklung der Beschwerden im HWS-Bereich zu beurteilen. Während im Reha-Entlassungsbericht vom März 1995 die Halswirbelsäule des Klägers diagnostisch noch keine Erwähnung fand, stellte der Orthopäde Dr. K. in seinem Gutachten vom November 1995 degenerative Veränderungen fest. Einige Monate später äußerte Dr. V. in seinem MDKN-Gutachten vom Februar 1996 einen Verdacht auf eine Wurzelläsion bei C 6, der sich erst im neurologischen Zusatzgutachten der Gemeinschaftspraxis Dres. O.pp. vom März 1998 erhärten ließ, und zwar als diskrete Läsion bei C 6 und 8 (jeweils linksseitig). Allerdings konnte den Beschwerden nach der übereinstimmenden Einschätzung sowohl des Prof. Dr. N. vom März 1998, für dessen orthopädisches Gutachten das neurologische Zusatzgutachten der Dres. O. pp. angefertigt worden war, als auch des Dr. Q. (Gutachten vom April 2000) und auch des Prof. Dr. R. (Gutachten vom März 2002) den sich daraus ergebenden Beschwerden im maßgebenden Zeitraum auch bei vollschichtiger Arbeit durch die Vermeidung von schwerem Heben und Tragen, von Überkopfarbeiten und längeren Zwangshaltungen des Kopfes Rechnung getragen werden. - Der Einschätzung des Dr. I. zu einem aufgehobenen Leistungsvermögen bereits ab 1995 kann daher auch in Bezug auf die HWS-Beschwerden des Klägers nicht beigetreten werden.

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Auch die Schulter-Beschwerden des Klägers bildeten sich erst allmählich heraus und erreichten einen eigenen qualitativen Erwerbsminderungsgrad jedenfalls nicht vor dem Gutachten des Dr. I ... Während der Reha-Entlassungsbericht vom März 1995 Schulterbeschwerden des Klägers diagnostisch noch nicht mitteilte und Beeinträchtigungen im Schulterbereich auch weder in dem MDKN-Gutachten des Dr. V. vom Februar 1996 noch in dem orthopädischen Gutachten des Dr. L. vom August 1996 festgestellt wurden, teilten der Orthopäde Dr. K. in seinem Gutachten vom November 1995 und Prof. Dr. N. in seinem Gutachten vom März 1998 zwar jeweils eine Belastungsminderung der linken Schulter bei beginnender Teilschultersteife und Schultereckgelenksarthrose mit, jedoch kamen beide Sachverständigen übereinstimmend nicht zu der Einschätzung, dass hieraus eigenständige qualitative Leistungseinschränkungen über die bereits wegen der Wirbelsäulensituation geforderten leichten Arbeiten hinaus erforderlich seien. Demgegenüber entdeckte der Facharzt für Orthopädie Dr. Q. in seinem Gutachten vom April 2000 hinzutretend einen Rotatorenmanschettendefekt beidseits und eine kleine Kalkinsel der rechten Schulter, die auch Dr. Q. und Prof. Dr. R. in ihren Gutachten vom April 2000 und Mai 2002 als Verschlechterungen in der Leistungsfähigkeit der Schulter bewerteten, der jedoch auch bei vollschichtiger Erwerbstätigkeit durch die Vermeidung von Arbeiten in Schulterhöhe Rechnung getragen werden könne. - Dr. I. hatte hierzu lediglich die Befunde eines Schultertiefstandes, eines Schulter-Arm-Syndroms, von Druckschmerzhaftigkeiten und von schmerzhaften Bewegungseinschränkungen ohne nähere diagnostische Zuordnung mitgeteilt, weshalb seine Einschätzung der Beurteilung durch den Senat insoweit nicht zu Grunde gelegt werden konnte.

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Ebenfalls erst im Verlauf der weiteren Entwicklung sind Einschränkungen der Hand- und Fingerfertigkeit, namentlich des Daumens, hinzugetreten. Die bis ins Jahr 1998 erstellten sozialmedizinischen Beurteilungen hatten keine Einschränkung der Hand- und Fingerfertigkeit des Klägers erwähnt, weder der Reha-Entlassungsbericht und das Gutachten des Dr. K. (beide aus 1995) noch das MDKN-Gutachten des Dr. V. oder das orthopädische Fachgutachten des Dr. L. (beide aus 1996). Erst Prof. Dr. N. diagnostizierte in seinem Gutachten vom März 1998 ein Carpaltunnel-Syndrom (CTS) linksseitig, allerdings in nur diskreter Ausprägung, da lediglich eine endgradige Bewegungseinschränkung bei beidseitig gleichmäßigem kräftigen Faustschluss feststellbar sei. Gravierendere Befunde erhob erst der Facharzt für Orthopädie Dr. Q. in seinem Gutachten vom April 2000. Er diagnostizierte eine Rhizarthrose in beiden Daumeneckgelenken (links stärker ausgeprägt als rechts), die auch radiologisch zu belegen sei, und die auch Prof. Dr. R. in seinem Gutachten vom Mai 2002 bestätigte. - Demgegenüber hatte Dr. I. im September 1998 lediglich eine beginnende Heberdenarthrose mitgeteilt und ausdrücklich erklärt, der Faustschluss sei komplett und eine Funktionseinschränkung der Fingergelenke bestehe nicht.

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Auch im Bereich der Kniegelenke und des Gehverhaltens zeigt sich eine gewisse zunehmende Beschwerdeentwicklung, jedoch ist auch hier für den streitigen Zeitraum keine erwerbsmindernde Ausprägung feststellbar. Während die sozialmedizinischen Beurteilungen bis ins Jahr 1998 (Reha-Entlassungsbericht, Gutachten Dr. K., MDKN-Gutachten, Gutachten Dr. L.) keinerlei Feststellungen getroffen haben, beschrieb Prof. Dr. N. in seinem Gutachten vom März 1998 einen diskret rechtsschonenden Gang, wobei jedoch das Abrollverhalten ohne Befund bleibe und die Fußsohlenbeschwielung seitengleich ausfalle. Auch Dr. Q. und Prof. Dr. R. erhoben in ihren Gutachten aus 2000 bzw. 2002 keine weiter gehenden Befunde, sondern beschrieben ein regelgerechtes Gangbild (Dr. Q.) bzw. leichte Veränderungen im linken Knie ohne wesentliche Funktionseinschränkungen (Prof. Dr. R.). - Dass Dr. I. in seinem Gutachten vom Januar 1999 ein linksseitig erschwertes Abrollverhalten und einen eingeschränkten Gang als Ausdruck einer Schonhaltung festgestellt hat, lässt sich deshalb mit allen übrigen, auch später erhobenen Befunden nicht in Übereinstimmung bringen, ist für den vorliegenden Streitzeitraum aber auch ohne Belang.

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Schließlich kann eine bereits vor September 1998 eingetretene Erwerbsminderung auch nicht mit einer psychosomatischen Überlagerung der Organbefunde begründet werden, wie dies Dr. I. in seinem Gutachten getan hat. Denn entsprechend manifeste psychische Beeinträchtigungen konnten in keiner der zahlreich vorliegenden sozialmedizinischen Beurteilungen erhoben werden. Weder der Reha-Entlassungsbericht und das Gutachten des Dr. K. (beide aus 1995) noch das MDKN-Gutachten (aus 1996) noch das Gutachten von Prof. Dr. R. (aus 2002) teilten psychosomatische Auffälligkeiten beim Kläger mit. Nach dem Gutachten des Orthopäden Dr. L. fielen zwar die vom Kläger geäußerten erheblichen subjektiven Beschwerden und die tatsächlich zu erhebenden Befunde auseinander, und nach dem neurologischen Zusatzgutachten der Dres. O. pp. (für das Hauptgutachten des Prof. Dr. N.) hatte der Kläger dysphorisch gereizt gewirkt. Nach den weiteren Mitteilungen in demselben Zusatzgutachten war die gereizte Stimmung des Klägers aber - für den Senat nachvollziehbar - vor allem mit der Vielzahl der Untersuchungen und der Dauer des Rentenverfahrens, also mit vorübergehenden Umständen zu begründen, und zudem hatte der Kläger selbst eine euthyme (normale) Stimmungslage beschrieben. - Aufgrund dieser nicht erheblichen Befunde ist aber für den Senat nicht nachvollziehbar, warum Dr. I. in seinem Gutachten eine psychosomatische Überlagerung annehmen und auch hierauf eine Erwerbsminderung des Klägers schon im Jahre 1995 stützen will.

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Auf Grund der vorstehenden, von allen gehörten Sachverständigen im Wesentlichen einheitlich beurteilten Sachlage, die allein von Dr. I. in seinem Gutachten nach § 109 SGG abweichend dargestellt wurde, sah sich der Senat nicht zu weiterer medizinischer Beweiserhebung veranlasst (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Aufl., 2002, § 103 Rn. 5, 20).

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Ist nach alledem ein früherer Leistungsfall der BU als der 4. September 1998 nicht feststellbar, ist damit vor September 1998 erst Recht nicht der Leistungsfall der EU festzustellen, der nach § 44 SGB VI a.F. noch weiter gehende gesundheitliche Einschränkungen als die BU voraussetzte.

32

Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.

33

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

34

Es hat kein gesetzlicher Grund gem. § 160 Abs. 2 SGG vorgelegen, die Revision zuzulassen.