Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 11.03.2003, Az.: L 13 B 34/02 SB

Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs außergewöhnliche Gehbehinderung (aG); Voraussetzungen eines sofortigen Anerkenntnisses; Vor Befundberichtserstattung eingetretene gesundheitliche Verschlechterung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
11.03.2003
Aktenzeichen
L 13 B 34/02 SB
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 14773
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0311.L13B34.02SB.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 06.06.2002 - AZ: S 20 SB 222/01

Redaktioneller Leitsatz

Ein Kostenfreiheit bewirkendes Anerkenntnis von Beklagten kann nur angenommen werden, wenn ein Anspruch zweifelsfrei - insbesondere etwa auf Grund eines plötzlichen einschneidenden Ereignisses - erst seit einem Zeitpunkt nach der letzten Verwaltungsentscheidung vorliegt. Beruht ein Anspruch hingegen auf einer längerfristigen gesundheitlichen Entwicklung und ist damit der Zeitpunkt mehr oder weniger "gegriffen", etwa in dem Sinne, dass ein Arzt feststellt, dass "jetzt" die Voraussetzungen erfüllt seien, kommt ein zur Kostenfreiheit führendes sofortiges Anerkenntnis in der Regel nicht in Betracht.

Tenor:

Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 6. Juni 2002 wird zurückgewiesen.

Gründe

1

I.

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen eine Kostenentscheidung des Sozialgerichts (SG) Bremen in einem durch angenommenes Teilanerkenntnis und Klagerücknahme im Übrigen beendeten Verfahren, in welchem zwischen den Beteiligten die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs »außergewöhnliche Gehbehinderung (aG)« streitig war.

2

Bei dem 1948 geborenen Kläger war auf Grund einer Multiplen Sklerose ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 und der Nachteilsausgleich »G« anerkannt.

3

Den Antrag des Klägers vom Februar 2001 auf Feststellung des Nachteilsausgleichs »aG« lehnte die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 14. März 2001, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 14. Juni 2001, ab. Der Hausarzt Dr. F. hatte in einem Befundbericht vom 23. Februar 2001 mitgeteilt, es bestehe bei dem Kläger eine erhebliche Gangunsicherheit. Das Treppensteigen sei nur noch mit Mühe möglich. Längere Gehstrecken könnten nur mit einer Gehhilfe bewerkstelligt werden. Die Nervenärztin Dr. A. G. hatte in einem Befundbericht vom 30. April 2001 angegeben, die Multiple Sklerose verlaufe progredient, wobei besonders das Gangbild betroffen sei. Infolge der schweren Ataxie und einer rechtsseitigen Spastik könne sich der Patient nur mit Hilfe einer Gehhilfe innerhalb der Räume bewegen und außerhalb nur mit einem Rollator. Auch mit diesen Hilfsmitteln könne er nur eine Gehstrecke unterhalb von 100 m bewältigen. Nach Einschätzung des Versorgungsärztlichen Dienstes der Beklagten (Gutachterliche Stellungnahme der Frau Dr. H. vom 25. Mai 2001) waren danach die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich »aG« nicht erfüllt, da der Kläger mit Hilfe eines Rollators in der Lage sei, kurze Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen.

4

Im anschließenden Klageverfahren hat das SG Befundberichte u.a. der Frau Dr. A. G. vom 22. Februar 2002 und des Dr. F. vom 25. Februar 2002 beigezogen. Frau Dr. G. hat mitgeteilt, dass sich die Gleichgewichtsfunktionen und das Gehen seit ca. zwei Jahren deutlich verschlechtert hätten. Da der Kläger den Rollator nicht regelmäßig gebrauche, sei es in den letzten Monaten zu häufigen Stürzen u.a. mit Fraktur im linken Sprunggelenk gekommen. Infolge der Spastik und der Ataxie in den Beinen sei es ihm auch mit Hilfsmitteln nicht möglich, eine Gehstrecke über 100 m zu bewältigen. Die Frage des Gerichts, ob sich der Kläger wegen der Schwere der Leiden dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen könne, hat die sachverständige Zeugin bejaht. Diese Einschätzung hat der Hausarzt Dr. F. geteilt. Die dem Kläger noch mögliche Gehstrecke hat er mit 20 m beziffert und für darüber hinausgehende Wegstrecken die Notwendigkeit eines Rollstuhls bejaht. Ferner hat er über eine signifikante Verschlechterung, insbesondere des Gehvermögens, im Letzten Jahr berichtet. Es sei zu Stürzen mit multiplen Prellungen sowie einer Fibulafraktur im Februar 2002 gekommen. In diesem Zusammenhang hat Dr. F. Berichte des Instituts für Röntgendiagnostik vom 12. Juni 2001 und 15. Februar 2002 übersandt.

5

Daraufhin hat die Beklagte unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 10. April 2002 ein Anerkenntnis dahingehend abgegeben, dass die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich »aG« ab Februar 2002 festzustellen seien. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger mit Schriftsatz vom 30. April 2002 angenommen und die Klage im Übrigen zurückgenommen. Gleichzeitig hat er beantragt, der Beklagten die ihm entstandenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.

6

Mit Beschluss vom 6. Juni 2002 hat das SG festgestellt, dass die Beklagte dem Kläger die ihm entstandenen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten habe. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die angefochtenen Bescheide zum Zeitpunkt ihres Erlasses bzw. ihrer Bekanntgabe rechtswidrig gewesen seien. Denn unter Berücksichtigung der im Verwaltungsverfahren beigezogenen Befundberichte und des im gerichtlichen Verfahren beigezogenen Befundberichts der Frau Dr. G. vom 22. Februar 2002 könne nicht davon ausgegangen werden, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs »aG« in der Person des Klägers bereits Mitte Juni 2001 vorgelegen hätten. So hätten die Nervenärzte Dr. G. in ihrem Befundbericht vom 30. April 2001 angegeben, dass der Kläger sich mit Hilfe eines Rollators noch bis zu annähernd 100 m zu Fuß fortzubewegen vermöge. Demgegenüber machten die Befundmitteilungen des Hausarztes Dr. F. vom 25. Februar 2002 deutlich, dass es ganz offensichtlich im Laufe des Klageverfahrens zu einer Verschlechterung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers gekommen sein müsse, die - möglicherweise nicht zuletzt auf Grund der erlittenen Fibulafraktur - die Zuerkennung des Merkzeichens »aG« rechtfertige. Vor diesem Hintergrund müsse die Beklagte dem Kläger die außergerichtlichen Kosten nicht erstatten, da die angefochtenen Bescheide nach summarischer Prüfung rechtmäßig gewesen seien und die Beklagte mithin keine Veranlassung zur Klageerhebung gegeben habe. Allerdings lasse sich bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht feststellen, wann genau die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers sich derart verschlechtert hätten, dass nunmehr die Zuerkennung des Merkzeichens »aG« gerechtfertigt gewesen sei. Auf Grund dieser Ungewissheit könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Teilanerkenntnis der Beklagten um ein »voll umfassendes« gehandelt habe. Es sei daher ermessensgerecht, die Beklagte zur Erstattung der Hälfe der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu verpflichten.

7

Gegen den ihr am 18. Juni 2002 zugestellten Beschluss hat die Beklagte am 26. Juni 2002 Beschwerde eingelegt und diese damit begründet, dass ein kostenbefreiendes sofortiges Anerkenntnis vorliege. Das SG habe festgestellt, dass die angefochtenen Bescheide zum Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe rechtmäßig gewesen seien und sie - die Beklagte - somit keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben habe. Die Auferlegung der Hälfte der Kosten sei daher nicht gerechtfertigt. Die dem Kläger mögliche Gehstrecke habe sich durch die Progredienz der Erkrankung und insbesondere durch die Fibulafraktur im Februar 2002 erheblich verkürzt. So habe der Hausarzt Dr. F. in seinem Befundbericht vom 25. Februar 2002 erstmalig eine Gehstrecke mit Gehhilfe von 20 m angegeben. Diese Verschlimmerung hätte der Kläger durch einen Neufeststellungsantrag geltend machen können. Die Beklagte habe auf Grund des Befundberichts umgehend ein Anerkenntnis abgegeben.

8

Die Beklagte beantragt nach Lage der Akten,

unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Bremen vom 6. Juni 2002 festzustellen, dass keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten sind.

9

Der Kläger beantragt nach Lage der Akten,

die Beschwerde zurückzuweisen.

10

Er vertritt die Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs »aG« bereits bei Antragstellung vorgelegen hätten.

11

Dem Gericht haben die Verwaltungsakten der Beklagten (Antr.List.Nr. 45107445) und die Gerichtsakten des SG Bremen/Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vorgelegen.

12

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

13

Die Entscheidung des SG, wonach die Beklagte dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden.

14

Nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG hat das Gericht auf Antrag über die Kosten zu entscheiden, wenn das Verfahren - wie hier - auf andere Weise als durch Urteil beendet worden ist. Diese Entscheidung richtet sich in erster Linie nach dem Erfolg bzw. mutmaßlichen Erfolg des Verfahrens. Im Einzelfall können Gesichtspunkte der Veranlassung oder der Führung/Fortführung des Rechtsstreits zu einem anderen Ergebnis führen.

15

Das Gericht hat die Kostenentscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 193 Rz. 12). Eine Überprüfung des mit der Beschwerde angefochtenen Beschlusses des SG kann sich infolgedessen nur darauf erstrecken, ob die Voraussetzungen und die Grenzen des Ermessens richtig bestimmt und eingehalten worden sind. Das ist hier der Fall. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat diese kein sofortiges und daher kostenbefreiendes Anerkenntnis abgegeben. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang nicht der Zeitpunkt, in dem die Voraussetzungen eines Anspruchs festgestellt worden sind, sondern der Zeitpunkt, von dem an diese Voraussetzungen vorliegen. Denn es wäre unbillig, das Kostenrisiko im Prozess vollständig der Klägerseite aufzuerlegen, wenn es erst später zu einer Feststellung der schon früher vorliegenden Anspruchsvoraussetzungen kommt. Ein Kostenfreiheit bewirkendes Anerkenntnis der Beklagten kann nur angenommen werden, wenn der Anspruch zweifelsfrei - insbesondere etwa auf Grund eines plötzlichen einschneidenden Ereignisses - erst seit einem Zeitpunkt nach der letzten Verwaltungsentscheidung vorliegt. Beruht der Anspruch hingegen auf einer längerfristigen gesundheitlichen Entwicklung und ist damit der Zeitpunkt mehr oder weniger »gegriffen«, etwa in dem Sinne, dass ein Arzt feststellt, dass »jetzt« die Voraussetzungen erfüllt seien, kommt ein zur Kostenfreiheit führendes sofortiges Anerkenntnis in der Regel nicht in Betracht (s. Bayerisches LSG v. 10.10.1996 - L 5 B 198/95 Ar -, Breithaupt 1998, 454, 461f; LSG Bremen v. 04.03.2002 - L 2 B 36/01 RA -). Denn es liegt nahe, dass auch für vorherige Zeiträume die Voraussetzungen bereits ganz oder in gewissem Umfang gegeben waren. So liegt der Fall hier, denn die im Gerichtsverfahren gehörten sachverständigen Zeugen haben übereinstimmend über eine bereits geraume Zeit vor Befundberichtserstattung eingetretene Verschlechterung insbesondere des Gehvermögens berichtet. Der Hausarzt Dr. F. hat unter dem 25. Februar 2002 eine signifikante Verschlechterung im Letzten Jahr mit einer erheblichen Zunahme von Stürzen mitgeteilt. Auf Grund eines solchen Sturzes wurde am 12. Juni 2001, mithin vor Erlass des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2001, eine computertomographische Untersuchung der Lendenwirbelsäule durchgeführt. Es kann danach keineswegs zweifelsfrei festgestellt werden, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens »aG« - wie die Beklagte meint - erst im Februar 2002 eingetreten sind. Die zu diesem Zeitpunkt erlittene Fibulafraktur führt zu keiner anderen Beurteilung, da diese allein in der Regel keine dauerhafte Gehbehinderung bedingt. Diese ist vorliegend vielmehr auf die progrediente Entwicklung der Multiplen Sklerose zurückzuführen. Dabei ist eine eindeutig objektivierbare Zäsur im Krankheitsgeschehen, die die Voraussetzungen für den streitigen Nachteilsausgleich begründet hat, nicht festzustellen. Eine Kostenteilung erscheint vor diesem Hintergrund sachgerecht.

16

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).