Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.03.2003, Az.: L 9 SB 45/99
Feststellung des Grades einer Behinderung im Schwerbehindertenrecht; Bedeutung der Anzahl und Schwere vorhandener Erkrankungen für den Grad einer Behinderung; Bildung eines Gesamtgrades der Behinderung ; Feststellung eines Behinderungsgrades im gerichtlichen Verfahren
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 25.03.2003
- Aktenzeichen
- L 9 SB 45/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21148
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0325.L9SB45.99.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - AZ: S 2 SB 23/98
Rechtsgrundlagen
- § 48 Abs. 1 SGB X
- § 3 SchwbG
- § 69 Abs. 1 SGB IX
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Die Höhe des Grades einer Behinderung richtet sich nicht nach Anzahl und Schwere der etwa vorhandenen Erkrankungen, sondern ausschließlich nach dem Ausmaß regelwidriger, ggf. krankheitsbedingt entstandener Funktionseinbußen. Ihre Bewertung ist anhand der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit und nach dem Schwerbehindertengesetz zu vollziehen, die insoweit aus Gründen der Gleichbehandlung auch für die Rechtsprechung rechtlich verbindlich sind, obwohl ihnen keine Rechtsnormqualität zukommt.
- 2.
Im gerichtlichen Verfahren obliegt es nicht dem Mediziner, sondern dem Gericht, aus den ärztlicherseits objektivierten Funktionsbeeinträchtigungen den letztverantwortlichen Schluss auf bestimmte einzelne Behindertengrade zu ziehen und bei Vorliegen mehrerer Behinderungen hieraus im Vergleich zu anderen Funktionseinschränkungen und den für sie vorgesehenen Behinderungsgraden einen systemgerechten Gesamtgrad zu bilden.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob der beim Berufungskläger vorliegende schwerbehindertenrechtlich vorliegende Grad der Behinderung (GdB) mit mehr als 40 festzustellen ist.
Bei dem im Februar 1943 geborenen Berufungskläger war zuletzt mit Ausführungsbescheid vom 12. Februar 1996 ein GdB von 30 wegen Rückenbeschwerden bei degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule sowie chronischer Entzündung des linken Ohres mit Hörminderung und Ohrgeräusch festgestellt.
Am 18. März 1997 stellte der Berufungskläger einen Verschlimmerungsantrag, zu dessen Begründung er auf eine Intensivierung der bekannten Beschwerden hinwies. Das Versorgungsamt (VA) Verden zog Befundberichte des behandelnden HNO-Arztes Dr. D. vom 7. April 1997 sowie des Orthopäden Dr. E. vom gleichen Tage ein und lehnte den Antrag auf der Grundlage einer gutachtlichen Stellungnahme seines Ärztlichen Dienstes vom 22. April 1997 mit Bescheid vom 24. April 1997 unter Hinweis darauf ab, dass neue Behinderungen nicht hinzugetreten seien und eine erhebliche Verschlechterung der bekannten Funktionseinschränkungen nicht eingetreten sei. Der hiergegen am 23. Mai 1997 erhobene Widerspruch, zu dessen Begründung sich der Berufungskläger auf eine ärztliche Bescheinigung des HNO-Arztes Dr. D. vom 20. Juni 1997 bezog, der seinerseits auf eine Verschlechterung der linksseitigen Hörschwelle hinwies, führte mit (Teil-) Abhilfebescheid vom 2. September 1997 zu einer Anhebung des festgestellten GdB auf 40. Den auch hiergegen am 24. September 1997 eingelegten Widerspruch, mit dem der Berufungskläger unter Vorlage weiterer ärztlicher Atteste die Feststellung eines GdB von wenigstens 50 beanspruchte, wies das Landesversorgungsamt nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 1998 zurück.
Am 10. Februar 1998 ist Klage erhoben worden, zu deren Begründung der Berufungskläger insbesondere auf die Folgen seiner Ohrerkrankung hingewiesen hat. Das Sozialgericht (SG) hat zur weiteren Sachaufklärung Befundberichte des Orthopäden Dr. F. vom 14. April 1998 sowie des HNO-Arztes Dr. D. vom 19. Juli 1998 eingeholt und das arbeitsmedizinisch-internistische Fachgutachten des Dr. G. vom 24. November 1998 erstatten lassen. Dr. G. hat bei dem Berufungskläger eine Bewegungsstörung und Belastungsminderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen, eine beiderseitige Hörminderung bei chronischer Entzündung mit Ohrsekretion und Gleichgewichtsstörungen sowie eine Neigung zur Nesselsucht festgestellt und den hiermit verbundenen GdB mit insgesamt 40 eingeschätzt.
Mit Gerichtsbescheid vom 9. Februar 1999 hat sich das SG Stade die Erwägungen des Gutachters zu Eigen gemacht und die Klage aus den Gründen des Widerspruchsbescheides abgewiesen.
Mit seiner am 5. März 1999 eingelegten Berufung verfolgt der Berufungskläger sein Begehren weiter. Nachdem er zunächst eine weitere Verschlechterung seiner auf hno-ärztlichem Fachgebiet vorhandenen Funktionseinschränkungen behauptet hat, hat er zuletzt eine fehlerhafte Bewertung seiner auf orthopädischem Fachgebiet im Bereich der Wirbelsäule vorhandenen Bewegungseinschränkungen geltend gemacht.
Der Berufungskläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Stade vom 9. Februar 1999 aufzuheben und den Bescheid des Versorgungsamtes Verden vom 24. April 1997 in der Gestalt des Teil-Abhilfebescheides vom 2. September 1997 und des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 22. Januar 1998 abzuändern,
- 2.
den Berufungsbeklagten zu verurteilen, den bei ihm vorliegenden Grad der Behinderung mit wenigstens 50 festzustellen.
Der Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Der Senat hat zur weiteren Sachaufklärung Befundberichte des Neurologen Dr. H. vom 28. März 2001, des HNO-Arztes Dr. D. vom 3. April 2001 sowie des behandelnden Orthopäden Dr. I. vom 31. März 2001 und 26. Februar 2003 eingeholt und das hno-ärztliche Fachgutachten des Prof. Dr. J. vom 7. November 2002 erstatten lassen. Während Prof. Dr. J. in seinem Gutachten den beim Berufungskläger auf hno-fachärztlichem Gebiet festzustellenden GdB mit lediglich 20 bemessen hat, hat Dr. I. eine Verschlechterung der orthopädischen Befunde im Verlauf des Berufungsverfahrens wiederholt verneint.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Schwerbehindertenakten des Berufungsbeklagten Bezug genommen, die beigezogen worden sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig eingelegte Berufung ist nicht begründet. Der klagabweisende Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade ist nicht zu beanstanden, weil beim Berufungskläger gegenüber der letzten bestandskräftigen Feststellung des GdB durch Ausführungsbescheid vom 12. Februar 1996 eingetretenen tatsächlichen Verschlimmerung (§ 48 Abs. 1 SGB X) mit dem Teilabhilfebescheid vom 2. September 1997 ausreichend Rechnung getragen wird, sodass ein Anspruch auf Feststellung eines noch höheren Behinderungsgrades nicht besteht und sich der angefochtene Bescheid des Versorgungsamts Verden vom 24. April 1997 in der Gestalt, die er durch den Teilabhilfebescheid vom 2. September 1997 erhalten hat, als rechtmäßig erweist.
Nach § 3 Abs. 1 und 2 SchwbG bzw. § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX sind für den GdB die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Funktionsbeeinträchtigungen maßgebend, die auf regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zuständen beruhen. Die Höhe des GdB richtet sich daher von Gesetzes wegen nicht nach Anzahl und Schwere der etwa vorhandenen Erkrankungen, sondern ausschließlich nach dem Ausmaß regelwidriger, ggf. krankheitsbedingt entstandener Funktionseinbußen. Ihre Bewertung ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts anhand der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit und nach dem Schwerbehindertengesetz (zuletzt von 1996) - AHP 96 - zu vollziehen, die insoweit aus Gründen der Gleichbehandlung auch für die Rechtsprechung rechtlich verbindlich sind, obwohl ihnen keine Rechtsnormqualität zukommt (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 23. Juni 1993, Az. 9/9a RVs 1/91; BSG, Urteil vom 11. Oktober 1994 - Az.: 9 RVs 1/93 -). Weil die gleichmäßige Heranziehung der AHP 96 hiernach Gegenstand einzelfallbezogener Rechtsanwendung ist, obliegt es im gerichtlichen Verfahren nicht dem Mediziner, insbesondere dem ärztlichen Gutachter, sondern dem Gericht, aus den ärztlicherseits objektivierten Funktionsbeeinträchtigungen den letztverantwortlichen Schluss auf bestimmte einzelne GdB - Grade zu ziehen und bei Vorliegen mehrerer Behinderungen hieraus im Vergleich zu anderen Funktionseinschränkungen und den für sie vorgesehenen Behinderungsgraden einen systemgerechten Gesamt - GdB zu bilden. Methodisch sind insoweit bei der Anwendung der AHP ausgehend von den einzelnen Gesundheitsstörungen regelmäßig Teil - Behinderungsgrade für die in Randnummer 18 Abs. 4 der AHP (83 und 96) genannten Funktionssysteme zu bilden. Für die Bildung des Gesamt - GdB ist von dem Funktionssystem mit dem höchsten Teil - GdB auszugehen und dann für die weiteren beeinträchtigten Funktionssysteme jeweils zu prüfen, ob und inwieweit eine Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbehinderung eintritt und damit eine Erhöhung des GdB gerechtfertigt ist (Rdnr. 1 Abs. 3 AHP 96). Durch das Hinzutreten weiterer leichterer Behinderungen ist dabei in der Regel eine Erhöhung des GdB nicht gerechtfertigt (Randnr. 1 Abs. 3 AHP 84, Randnr. 1 Abs. 4 AHP 96).
Dem beim Berufungskläger in Anwendung dieser Grundsätze festzustellenden GdB liegen wesentliche Funktionseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule sowie der Ohren zu Grunde. Darüber, welches der genannten Funktionssysteme vorrangig betroffen ist, haben zwischen den Beteiligten im Verfahrensverlauf unterschiedliche Auffassungen bestanden. Soweit das Versorgungsamt den beim Berufungskläger vorliegenden Behinderungsgrad mit seinem Abhilfebescheid vom 2. September 1997 mit 40 festgestellt hat, hat dieser Regelung eine gutachtliche Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes zu Grunde gelegen, in der davon ausgegangen worden ist, dass die Funktionseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule mit einem Teil-GdB von 30 führend seien und den zusätzlichen Behinderungen auf hno-ärztlichem Fachgebiet mit einem Teil-GdB vom 20 nur eine sekundäre Bedeutung zukomme.
Soweit der Berufungskläger der Feststellung des bei ihm vorliegenden GdB im Berufungsverfahren zunächst unter Hinweis darauf entgegen getreten ist, dass die Bewertung seiner auf hno-ärztlichem Fachgebiet vorhandenen Behinderungen mit einem auf dieses Funktionssystem bezogenen GdB von 20 wesentlich untersetzt sei und hierfür unter Berücksichtigung der vielfältigen Funktionsstörungen (rezidivierende Mittelohrentzündungen, Schwerhörigkeit, Schwindel und Tinnitus) ein Teil - GdB von 50 veranschlagt werden müsse, hat sich diese Auffassung im Verlauf der vom Senat angestellten weiteren Ermittlungen nicht bestätigt. Das hno-ärztliche Fachgutachten des Prof. Dr. J., dessen Ergebnis auch vom Berufungskläger nicht mehr angegriffen worden ist, hat insoweit ergeben, dass bei dem Berufungskläger bei rezidivierenden Entzündungen eine lediglich gering gradige Schwerhörigkeit besteht, während sich das Vorliegen von Schwindelerscheinungen und Ohrgeräuschen als nicht objektivierbar erwiesen hat. Der hiernach von Prof. Dr. J. auf hno-ärztlichen Fachgebiet vorgeschlagene Teil - GdB von 20 steht mit den AHP 96 in Einklang. Er bestätigt den bereits vom Versorgungsamt Verden auf Grund der Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes veranschlagten Teil - GdB und ist nicht geeignet, das Begehren des Berufungsklägers zu stützen.
Das Begehren des Berufungsklägers, den bei ihm vorliegenden Gesamt - GdB mit wenigstens 50 festzustellen, erwiese sich vor diesem Hintergrund nur dann als begründet, wenn die auf orthopädischem Fachgebiet vorliegenden Funktionseinschränkungen mit einem Teil - GdB von mehr als 30 zu bewerten wären. Eben dies hat der Berufungskläger zuletzt unter Hinweis auf eine weitere Verschlimmerung geltend gemacht. Seiner Behauptung, die Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule hätten weiter zugenommen, vermag der Senat indessen schon deshalb nicht zu folgen, weil der behandelnde Orthopäde Dr. I. in seinen Befundberichten vom 31. März 2001 und 26. Februar 2003 eine Verschlechterung jeweils ausdrücklich verneint hat. Danach liegen beim Berufungskläger weiterhin Funktionseinschränkungen im Bereich von Halswirbelsäule (HWS) und Lendenwirbelsäule (LWS) vor, die allenfalls in dem zuletzt genannten Wirbelsäulenabschnitt als schwergradig einzustufen sind. Dies folgt namentlich aus den beigezogenen Re-ha - Entlassungsberichten der Klinik Niedersachsen vom 9. Dezember 1998, des Gesundheitszentrums Bad Wimpfen vom 21. Dezember 2000 und der Rheumaklinik Bad Bramstedt vom 14. August 2002, in denen hinsichtlich der HWS über lediglich mäßige Bewegungseinschränkungen mit endgradiger Schmerzhaftigkeit berichtet wird.
Ein solches Beschwerdebild kann indessen nach den AHP 96 (vgl. dort Nr. 26.18, Seite 139) mit einem Teil - GdB von jedenfalls nicht mehr als 30 bewertet werden; denn danach steht eine Bewertung mit einem GdB von 40 lediglich für solche Wirbelsäulenveränderungen offen, die in zwei Wirbelsäulenabschnitten zu schweren Funktionseinschränkungen führen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein Grund, gem. § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, besteht nicht.