Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 05.03.2003, Az.: L 5 SB 28/02
Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnlich gehbehindert); Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung; Voraussetzungen einer Gleichstellung mit dem in der Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung bezeichneten Personenkreis; Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" wegen einer akuten Gefahr der erheblichen Verschlimmerung eines progredienten Leidens
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 05.03.2003
- Aktenzeichen
- L 5 SB 28/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 10090
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0305.L5SB28.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - AZ: S 41 SB 101/01
Rechtsgrundlagen
- § 69 Abs. 4 SGB IX
- § 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV
- § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG
Redaktioneller Leitsatz
Für eine Gleichstellung mit dem in der Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung bezeichneten Personenkreis kommt es nicht auf eine etwaige vergleichbare allgemeine Schwere des Leidens an, sondern allein darauf, dass die Auswirkungen auf die Gehfähigkeit funktionell gleichzuachten sind. Die Parkvergünstigung ist nach ihrem Sinn und Zweck eng auszulegen. Sie kann allein Personen gewährt werden, denen der unausweichliche Fußweg zwischen einem ordnungsgemäß haltenden oder parkenden Fahrzeug und dem angestrebten Ziel in ähnlicher Weise außerordentlich schwer fiele wie den ausdrücklich genannten Personen. Für sie soll ebenfalls diese Strecke verkürzt werden.
Unter bestimmten Voraussetzungen reicht schon die akute Gefahr einer erheblichen Verschlimmerung eines progredienten Leidens für die Feststellung der medizinischen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" aus, auch wenn die funktionelle Einschränkung des Gehvermögens noch nicht derjenigen der in den VV genannten Personen gleichsteht. Das setzt voraus, dass die durch das Merkzeichen "aG" gebotenen Erleichterungen im Straßenverkehr prophylaktisch ins Gewicht fallen. Die akute Gefahr einer solchen Verschlimmerung ist nicht anzunehmen, solange der Behinderte noch entsprechende Wegstrecken im häuslichen Bereich oder bei sonstiger Gelegenheit zurückzulegen pflegt und - trotz Vorliegen eines progredienten Leidens - unter medizinischen Gesichtspunkten auch zurücklegen darf oder soll.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger der Nachteilsausgleich "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) zusteht.
Bei dem am D. geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt zuletzt mit Teilabhilfebescheid vom 07. Januar 1999 einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 ab Dezember 1997 fest. Als zu Grunde liegende Funktionsbeeinträchtigungen wurden anerkannt:
Morbus Bechterew Reizmagen und Reizzustand des Zwölffingerdarms Bluthochdruck Leberschaden.
Darüber hinaus hatte der Beklagte bereits mit Bescheid vom 19. Juni 1984 das Merkzeichen "G" und mit Bescheid vom 10. Juni 1998 das Merkzeichen "B" zuerkannt.
Unter dem 25. Juni 1999 beantragte der Kläger erneut die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "aG", "H" und "RF". Nach Einholung und Auswertung der Befundberichte von Herrn E., Arzt für Allgemeinmedizin, und Dr. F., Facharzt für Orthopädie, stellte das Versorgungsamt den Anspruch des Klägers nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) dahingehend neu fest, dass sein GdB ab 25. Juni 1999 100 betrage. Die beantragten Nachteilsausgleiche "aG", "H" und "RF" wurden abgelehnt, da deren Voraussetzungen nicht vorlägen. Daraufhin erhob der Kläger Widerspruch, den er auf die Ablehnung des Nachteilausgleichs "aG" beschränkte. Nach Auswertung weiterer Befundberichte durch den Versorgungsärztlichen Dienst wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2001 als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Kläger am 15. Februar 2001 Klage erhoben, mit der er die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" weiterverfolgt. Zur Begründung hat er auf den Befundbericht seines behandelnden Orthopäden Dr. F. vom 28. März 2001 verwiesen. Dort hat Dr. F. festgestellt, der Kläger könne mit Unterarmgehstützen nur noch maximal 50 m gehen. In allen drei Wirbelsäulenabschnitten lägen massive schmerzhafte Bewegungseinschränkungen mit Ausstrahlung in Arme und Beine sowie Taubheitsgefühl in den Füßen vor. Hinzu treten schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der großen Gelenke. Insbesondere seien beide Hüftgelenke betroffen. Im Verwaltungsverfahren hätte er, der Kläger, eine versorgungs-ärztliche Untersuchung abgelehnt, weil die Befundberichte seiner behandelnden Ärzte für eine positive Bescheidung ausgereicht hätten. Er hat nochmals auf die Entscheidung des BSG, Urteil vom 11. März 1998 (B 9 SB 1/97 R) hingewiesen.
Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung weiterer Befundberichte die Klage mit Urteil vom 10. Januar 2002, zugestellt am 30. Januar 2002, abgewiesen, da das Gehvermögen des Klägers nicht auf das Schwerste beeinträchtigt sei.
Hiergegen richtet sich die am 7. Februar 2002 eingegangene Berufung. Der Kläger macht geltend, dass er im Juli 2001 einen Schlaganfall mit einer Hemiparese links erlitten habe. Verblieben seien wesentliche Funktionsstörungen im Bereich des linken Arms sowie der linken Hand.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
- 1.
das Urteil des SG Hannover vom 10. Januar 2002 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 03. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 2001 abzuändern;
- 2.
festzustellen, dass der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichsmerkmals "aG" erfüllt.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf die Stellungnahmen seines Versorgungsärztlichen Dienstes. Da-nach läge zwar eine relativ ausgeprägte Beeinträchtigung der Gehfähigkeit bei Morbus Bechterew und Zustand nach Schlaganfall mit armbetonter Resthalbseitenlähmung links vor. Eine außergewöhnliche einem Querschnittsgelähmten oder doppeltamputierten Patienten vergleichbare Gehbehinderung bestehe jedoch nicht.
Das Landessozialgericht hat das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB IX vom 31. Mai 2002 beigezogen.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehindertenakten des VA Hannover (AZ: G.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berichterstatterin entscheidet im Einverständnis der Beteiligten als Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2; § 155 Abs. 3, 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" erfüllt.
Zutreffend hat das SG die Voraussetzungen des begehrten Nachteilsausgleichs verneint. Der an einem Morbus Bechterew mit Beteiligung der Hüftgelenke leidende Kläger hat keinen Anspruch auf Gleichstellung mit dem in der Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung genannten Personenkreis. Auch unter Berücksichtigung der nach dem im Juli 2001 erlittenen Schlaganfalls verbliebenen armbetonten Resthalbseitenlähmung links ist das Gehvermögen des Klägers nicht auf das Schwerste beeinträchtigt.
Nach § 69 Abs.4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) vom 19. Juni 2001, der am 1. Juli 2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin geltenden § 4 Abs. 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) ersetzt hat, ist es Aufgabe des Versorgungsamtes, die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" festzustellen und das Merkzeichen in den Schwerbehindertenausweis einzutragen (§ 3 Abs. 1 Ausweisverordnung SchwbG).
Wer als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen ist, ergibt sich aus § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, auf den § 3 Abs. 1 Nr. 1 der AusweisVO hinweist i.V.m. Nr. 11, II 1 allgemeine Verwaltungsvorschrift (VV) zu § 46 StVO. Das sind Personen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppelunterschenkelamputierte und -oberschenkelamputierte, Hüftexartikulierte, einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd ein Kunstbein nicht tragen können oder nur eine Beckenkorbprothese oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind , sowie andere Schwerbehinderte, die dem vorstehend bezeichneten Personenkreis nach medizinischer Erkenntnis gleichzustellen sind.
Für eine Gleichstellung kommt es nicht auf eine etwaige vergleichbare allgemeine Schwere des Leidens an, sondern allein darauf, dass die Auswirkungen auf die Gehfähigkeit funktionell gleichzuachten sind. Die Parkvergünstigung ist nach ihrem Sinn und Zweck eng auszulegen. Sie kann allein Personen gewährt werden, denen der unausweichliche Fußweg zwischen einem ordnungsgemäß haltenden oder parkenden Fahrzeug und dem angestrebten Ziel in ähnlicher Weise außer-ordentlich schwer fiele wie den ausdrücklich genannten Personen. Für sie soll ebenfalls diese Strecke verkürzt werden. Jede Ausweitung des Kreises der Berechtigten würde sich nachteilig auf den zu schützenden Personenkreis auswirken, da die innerstädtischen Parkflächen nicht beliebig vermehrt werden können (ständige Rechtsprechung des BSG z.B. Urt. v. 17.Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 und Urt. v. 29. Januar 1992 -9a RVs 4/90 -).
Dem in der Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung bezeichneten Personenkreis ist die Einschränkung der Gehfähigkeit nicht vergleichbar. Zwar hat das Versorgungsamt die Funktionseinschränkungen, die beim Kläger auf Grund des Morbus Bechterew mit Beteiligung der Hüftgelenke bestehen, verwaltungs-intern mit einem Einzel- GdB von 100 bewertet. Daraus folgt aber nicht, dass seine für die Parkvergünstigung allein maßgebliche Gehfähigkeit auf das Schwerste eingeschränkt ist. Die eingereichten Befundberichte und das beigezogene Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB IX belegen keine diesermaßen eingeschränkte Gehfähigkeit. Zwar nimmt der behandelnde Orthopäde Dr. F. in seinem Befundbericht vom 23.Januar 2002 eine insbesondere nach dem durchgemachten Schlaganfall mit Halbseitenlähmung links ganz erhebliche Gehbehinderung an. So stellt er beim Kläger ein sehr kurzschrittiges Gangbild und eine Unsicherheit beim Gehen mit Schonhinken links fest. Kürzere Strecken (20 Meter) seien mit Unterarmgehstützen zu bewältigen, für längere Strecken müsse der Rollstuhl benutzt werden. Ein selbstständiges Gehen außerhalb des Hauses sei nicht möglich. Diese Befunde stehen allerdings im Widerspruch zum Entlassungsbericht der Rehabilitationseinrichtung Klinik H. vom 20. September 2001. Dort wird das Gangbild (nur) als angedeutet hinkend wegen minimaler Zirkumduktion des linken Beines beschrieben. Der Ballen- und Hackengang konnte mit 1-Personenunterstützung gut ausgeführt werden. Dass sogar die Hocke komplett eingenommen werden konnte und das Wiederaufrichten ohne Unterstützung gelang, lässt an der vom behandelnden Orthopäden 4 Monate später diagnostizierten - insbesondere auf Grund der Folgen des Schlaganfalls - erheblichen Gehbehinderung begründete Zweifel entstehen. Gegen eine auf das Schwerste eingeschränkte Gehfähigkeit spricht zudem, dass die Beingelenke - auch die Hüften - ausweislich des Entlassungsberichts der Rehabilitationseinrichtung im Liegen aktiv und passiv normal funktionierten und bei allen Bewegungen lediglich ein Endphasenschmerz auftrat. So geht auch der Kläger im Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 31. Mai 2002 davon aus, dass die verbliebenen Folgen des Schlaganfalls im Bereich des linken Beines wohl kaum ins Gewicht fallen. Damit stehen die Feststellungen im Gutachten für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen vom 04. Juni 2002 in Einklang. Für die Auswirkungen der Krankheiten des Stütz- und Bewegungsapparates auf das Bewegen wird nur die Ziffer 1 - bei einer möglichen Bewertung von 0 bis 3 - vergeben. Die Ziffer 1 ist definiert: keine Fremdhilfe, selbstständige Ausführung verlängert oder Hilfsmitteleinsatz erforderlich. Das Gangbild wird als verlangsamt mit Startschwierigkeiten und Abstützen beschrieben. Eine Einschränkung des Gehvermögens, die dem in der vorbezeichneten Verwaltungsvorschrift genannten Personenkreis vergleichbar wäre, ist dem Gutachten nicht zu entnehmen.
Schließlich kann der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" aus der Weiterentwicklung der höchstrichterlichen Grundsätze in dem von ihm wiederholt zitierten Urteil des BSG vom 11. März 1988 - B 9 SB 1/97 R - herleiten. Der dort entschiedene Fall betrifft einen anderen Sachverhalt und ist nicht auf die Situation des Klägers übertragbar. Das BSG hat entschieden, dass unter bestimmten Voraussetzungen schon die akute Gefahr einer erheblichen Verschlimmerung eines progredienten Leidens für die Feststellung der medizinischen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" ausreicht, auch wenn die funktionelle Einschränkung des Gehvermögens noch nicht derjenigen der in den VV genannten Personen gleichsteht. Das setzt voraus, dass die durch das Merkzeichen "aG" gebotenen Erleichterungen im Straßenverkehr prophylaktisch ins Gewicht fallen (BSG a.a.O.). Dieser Umstand lässt sich in Bezug auf die Erkrankung des Klägers nicht objektivieren. Denn die akute Gefahr einer solchen Verschlimmerung ist nach den weiterentwickelten Grundsätzen nicht anzunehmen, solange der Behinderte noch entsprechende Wegstrecken im häuslichen Bereich oder bei sonstiger Gelegenheit zurückzulegen pflegt und - trotz Vorliegen eines progredienten Leidens - unter medizinischen Gesichtspunkten auch zurücklegen darf oder soll. Das ist bei dem Kläger sogar nach dem Befundbericht des Orthopäden Dr. F. der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.