Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 13.03.2003, Az.: L 6/3 U 462/02 ER

Vorwegnahme der Hauptsache; Auslegung eines Antrages; Beteiligung am Durchgangsarztverfahren; Beachtung des Verletzungsartenverfahrens; Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise; Erforderlichkeit einer Abmahnung; Qualität des Durchgangsarztverfahrens

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
13.03.2003
Aktenzeichen
L 6/3 U 462/02 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 19964
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0313.L6.3U462.02ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 25.09.2002 - AZ: S 36 U 256/02 ER

Fundstellen

  • Breith. 2003, 575-579
  • Breith. 2003, 620

Redaktioneller Leitsatz

Die Frage der Wirksamkeit der Kündigung eines öffentlich-rechtlichen Vertrages ist nach den Grundsätzen des öffentlich-rechtlichen Vertrages und nach den zusätzlich getroffenen Vereinbarungen der Vertragsparteien zu beurteilen.

Tenor:

Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 25. September 2002 wird aufgehoben.

Der Antragsgegner wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, den Antragsteller bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens weiterhin an der durchgangsärztlichen Behandlung zu beteiligen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 37.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

1

I.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen Bestellung zum Durchgangsarzt zum 1. Juli 2002 gekündigt. Der Antragsteller begehrt vor dem Sozialgericht (SG) Hannover im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, die Unwirksamkeit dieser Kündigung festzustellen.

2

Mit Beschluss des Vorstandes des Antragsgegners vom 16. Oktober 1990 wurde der Antragsteller - auf der Grundlage der Richtlinien für die Bestellung von Durchgangsärzten vom 11. Juli 1963 in der Fassung vom 1. April 1986 - zum Durchgangsarzt bestellt. Mit Schreiben vom 22. März 2002 kündigte der Antragsgegner die Beteiligung des Antragstellers am Durchgangsarztverfahren mit Ablauf des Juni 2002 "wegen wiederholter Pflichtverletzung und nach Maßgabe des § 59 Abs. 1 S. 2 Sozialgesetzbuch - SGB - X". Zur Begründung führte er aus:

3

Ein besonders schwer wiegender Pflichtverstoß stellt der Fall des Patienten C. dar. Herr Dr. D. ist hier der Verpflichtung, den Unfallverletzten auf Grund der Verletzungsart in ein dafür zugelassenes Krankenhaus zuzuführen, nicht nachgekommen. Es handelt sich hierbei um einen Verstoß gegen § 37 des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger (früher Ltnr. 45 Abkommen Ärzte/ Unfallversicherungsträger) und der von Dr. D. in seinem Durchgangsarztantrag eingegangenen Verpflichtung zu Punkt 2.7. Dieser Pflichtverstoß ist umso schwer wiegender, da es in der postoperativen Behandlung zu erheblichen Wundheilungsstörungen gekommen ist. Während der gesamten Behandlung vom 20.06.2000 - 24.08.2000 hätte Herr Dr. D. eine Überweisung nachholen können. Es wurde zunächst von einer raschen Wundheilung berichtet, was später als Informationsmissverständnis bezeichnet wurde. Im Übrigen liegen umfangreiche Informationen verschiedener Unfallversicherungsträger vor, die belegen, dass Leistungen in erheblichem Umfang abgerechnet wurden, die mit dem Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit nicht vereinbar sind. Es handelt sich hierbei insbesondere um zum Teil kontraindizierte Überversorgungen mit Verbänden und Orthesen etc ... Die genannten Verstöße sind unstreitig, da Sie in Ihrem Schreiben vom 11.02.2002 zugegeben haben, dass Herr Dr. D. sich im Fall C. nicht vertragskonform verhalten hat und dass die Einsicht besteht, dass Unwirtschaftlichkeiten bei der Erbringung und Abrechnung der Leistungen vorhanden waren.

4

Bei der Entscheidungsfindung bezüglich einer Kündigung des Vertrages ist Ihr Schreiben vom 11.02.2002, in welchem Vertragsverstöße zugegeben werden und die Zusage zum künftigen vertragskonformen Verhalten gegeben werden, durchaus berücksichtigt worden. Die Abwägung des Für und Wider hat jedoch ergeben, dass eine Kündigung erforderlich ist. Nachdem jedwede Verstöße gegen Vertragspflichten über ein Jahr vehement abgestritten wurden und das genannte Schreiben erst im letzten Moment vor der entscheidenden Sitzung einging, können gewisse Zweifel daran, dass eine echte Einsichtsfähigkeit vorhanden ist, die auch für die Zukunft Bestand hat, nicht ausgeräumt werden. Das Gleichbehandlungsgebot gegenüber denjenigen Ärzten, die sich ausschließlich vertragskonform verhalten, gebietet es, Sanktionen gegen diejenigen zu ergreifen, die dies nicht tun. Das Vertrauensverhältnis, welches zwischen den Unfallversicherungsträgern und den für sie tätigen Durchgangsärzten unabdingbar vorhanden sein muss, da der Durchgangsarzt durch die Beteiligung am Durchgangsarztverfahren in die Lage versetzt wird, für die Unfallversicherungsträger Entscheidungen zu fällen (Einleitung besonderer Heilbehandlung), ist durch die Pflichtverstöße derart nachhaltig gestört, dass eine Kündigung unumgänglich ist. Da im Fall des Patienten C. durch den Pflichtverstoß konkrete Behandlungsstörungen aufgetreten sind, gebietet es die Fürsorgepflicht der Berufsgenossenschaften für ihre Versicherten dieses für die Zukunft auszuschließen. Die Berufsgenossenschaften haben außerdem eine Verpflichtung gegenüber ihren Mitgliedsunternehmen, die Beiträge sinnvoll und wirtschaftlich zu verwenden. Eine unwirtschaftliche Verwendung stellt eine Schädigung der Mitgliedsunternehmen und damit des Gemeinwohls dar. Um dem vorzubeugen, ist eine Kündigung im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 2 zur Verhütung von Nachteilen für das Gemeinwohl geeignet und angemessen. Hiergegen abzuwägen sind die Auswirkungen einer Kündigung auf die wirtschaftliche Existenz des Herrn Dr. D ... Da Herr Dr. D. nach wie vor in der Lage ist, als Kassenarzt und Chirurg tätig zu werden, ist davon auszugehen, dass die Kündigung der D-Arzt-Beteiligung nicht zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz führen wird. Auch sind weitere begründete Interessen des Herrn Dr. D., die das Absehen von einer Kündigung rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich. Nach Gesamtabwägung aller Umstände ist hier die Kündigung der Durchgangsarztbeteiligung gerechtfertigt und notwendig.

5

Hiergegen hat der Antragsteller am 19. Juli 2002 vor dem SG Hannover einstweiligen Rechtsschutz beantragt und geltend gemacht, die Kündigung verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen Treu und Glauben. Außerdem gefährde sie seine wirtschaftliche Existenz, da die Umsätze auf Grund der durchgangsärztlichen Tätigkeit 40 % seiner Gesamteinnahmen ausmachten. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Schriftsätze des Antragstellers vom 19. Juli und 26. August 2002 Bezug genommen.

6

Mit Beschluss vom 25. September 2002 hat das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt: Der Antrag sei zwar nach § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG (Sicherungsanordnung) zulässig, er sei aber unbegründet. Es sei schon zweifelhaft, ob ein Anordnungsgrund im Sinne einer Eilbedürftigkeit bestehe. Der Antragsgegner trage nachvollziehbar vor, dass das berufsgenossenschaftliche Behandlungsvolumen - im Jahr 2000 mit 248 Berichten (niedersächsischer Durchschnitt: 605 Fälle jährlich) - als gering zu bewerten sei. Diese Frage könne jedoch offen bleiben, weil ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht sei. Ein Erfolg in der Hauptsache sei nämlich nach summarischer Prüfung nicht wahrscheinlich. Der Antragsgegner habe die Rechtsbeziehung zum Antragsteller beenden können, weil dieser nicht mehr die wesentlichen Voraussetzungen der Richtlinien erfüllt habe. Das ergebe sich zum einen aus dem aktenkundig nachweisbaren Pflichtenverstoß bei der Behandlung des Versicherten E ... Zum anderen habe der Antragsteller bei der Erbringung und Abrechnung von Leistungen unwirtschaftlich gehandelt. Das folge aus der Verordnung von zwei teuren Knieorthesen im Abstand von weniger als einem Monat, der Überversorgung mit Verbänden und Ultraschalluntersuchungen sowie der Durchführung einer nicht indizierten extrakorporalen Stoßwellentherapie in zwei Fällen.

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Gegen diesen ihm am 4. Oktober 2002 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 28. Oktober 2002 Beschwerde eingelegt. Er vertritt die Auffassung, dass entgegen der Begründung des angefochtenen Beschlusses die Kündigung der Bestellung am Durchgangsarztverfahren rechtswidrig sei. Sie verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es sei eine Abmahnung erforderlich gewesen. Auch fehle ein wichtiger Grund für die Kündigung. Überdies sei das Kündigungsrecht verwirkt, weil der Antragsgegner die Kündigungsgründe bereits in den Jahren 2002 und 2001 gekannt habe. Auch habe das SG die Vermittlungsbemühungen des Dr. F. und damit den Gesichtspunkt des Verstoßes gegen Treu und Glauben völlig außer Acht gelassen. Bei der Frage der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz habe sich das SG nicht mit den Bescheinigungen des Steuerberaters auseinander gesetzt. Danach sei durch den Wegfall der Einnahmen aus der durchgangsärztlichen Tätigkeit dauerhaft mit Verlusten zu rechnen, die weder durch die Behandlung zusätzlicher Kassenpatienten noch zusätzlicher Privatpatienten aufgefangen werden könnten. Ein Anordnungsgrund liege somit vor. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Schriftsätze des Antragstellers vom 27. November 2002 und 4. Februar 2003 Bezug genommen.

8

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 25. September 2002 aufzuheben und im Wege der einstweiligen Anordnung den Antragsgegner zu verpflichten, ihn bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens weiterhin an der durchgangsärztlichen Behandlung zu beteiligen.

9

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 25. September 2002 zurückzuweisen.

10

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und ist der Beschwerdebegründung mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2002 entgegengetreten. Auf den Inhalt dieses Schriftsatzes wird Bezug genommen.

11

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

12

II.

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG - zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Allerdings ist sein Antrag, die Unwirksamkeit der Kündigung im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, zu weit gefasst, weil damit in unzulässiger Weise das mögliche endgültige Ergebnis eines Hauptsacheverfahren vorweg genommen würde. Der Senat legt daher den Antrag - entsprechend dem Vorbringen des Antragstellers - dahin aus, dass er im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens weiterhin als Durchgangsarzt tätig sein will. Daraus wird zugleich deutlich, dass vorläufiger Rechtsschutz nur wirksam wird, wenn und solange ein Hauptsacheverfahren anhängig ist. In diesem Sinn ist sein Antrag begründet.

13

Gesetzliche Grundlage des vorläufigen Rechtsschutzes ist hier § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG. Danach sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Beteiligung am Durchgangsarztverfahren erfolgt nicht auf Grund eines Verwaltungsaktes, sondern beruht auf einem "Rechtsverhältnis" im Sinne der vorgenannten Regelung. Denn die privatrechtlichen Landesverbände schließen im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Unfallversicherungsträger (§ 88 SGB X) öffentlich-rechtliche Verträge (§ 53 SGB X) ab (vgl. BSGE 71, 27; s. auch § 34 SGB VII). Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung, und Anordnungsanspruch, d.h. die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren begehrt wird, sind geltend, und die zur Begründung erforderlichen Tatsachen sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Der Anordnungsanspruch bezieht sich somit auf die Erfolgsaussicht im Hauptsacheverfahren und ist jedenfalls dann gegeben, wenn diese wahrscheinlich ist.

14

Nach diesem Beurteilungsmaßstab ist auf Grund der gebotenen grundsätzlich summarischen Prüfung eine Erfolgsaussicht im Hauptsacheverfahren (Anordnungsanspruch) zu bejahen. Entscheidend ist danach, dass erhebliche Gründe gegen die Wirksamkeit der hier streitigen Kündigung sprechen. Die Frage der Wirksamkeit der Kündigung eines öffentlich-rechtlichen Vertrages ist nach den Grundsätzen des öffentlich-rechtlichen Vertrages (§§ 53 ff. SGB X) und außerdem nach den gegebenenfalls zusätzlich getroffenen Vereinbarungen der Vertragsparteien zu beurteilen. Den Vertragsparteien eines öffentlich-rechtlichen Vertrages steht es frei, besondere Regelungen über die Kündigung zu vereinbaren, die die Beendigungsgründe des § 59 SGB X (wesentliche Änderung der Verhältnisse ohne Anpassungsmöglichkeit sowie Verhütung oder Beseitigung schwerer Nachteile für das Gemeinwohl) ergänzen (vgl. BSGE 71, 27, 32). Demgemäß ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob der Antragsteller die von ihm im Antrag vom 7. November 1989 übernommenen Pflichten verletzt hat, die der Antragsgegner zu einem Widerruf der Bestellung zum Durchgangsarzt berechtigen. Hierzu gehören die Beachtung des Verletzungsartenverfahrens sowie der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, also die Pflichten, auf deren Verletzung der Antragsgegner seine Kündigung stützt. Dabei ist aus § 59 SGB X und den zu Dauerschuldverhältnissen entwickelten Grundsätzen abzuleiten, dass nicht jede Pflichtverletzung aus dem Vertrag bereits zur Kündigung berechtigt, sondern nur eine solche, die einen wichtigen Grund darstellt (vgl. § 314 Abs. 1 BGB).

15

Der im Kündigungsschreiben eindeutig in den Vordergrund gestellte Verstoß des Antragstellers gegen das Verletzungsartenverfahren liegt zweifelfrei vor und ist als gravierende Missachtung der Pflicht zu werten, die Qualität und Wirksamkeit der Leistungen der Heilbehandlung zu gewährleisten (vgl. auch § 34 SGB VII; bis 31. Dezember 1996: § 557 RVO). Der Antragsteller hätte den Verletzten C. wegen der durchtrennenden Verletzung der Achillessehne unverzüglich in ein von den Landesverbänden der gewerblichen Berufsgenossenschaften am Verletzungsartenverfahren beteiligtes Krankenhaus überweisen müssen, in dem der dort tätige Durchgangsarzt entschieden hätte, ob eine stationäre oder ambulante Behandlung erforderlich ist (§ 37 des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger i.V.m. Anhang 1 zu diesem Vertrag).

16

Die weiteren ("im Übrigen") im Kündigungsschreiben erwähnten, jedoch nicht substantiiert belegten Kündigungsgründe erscheinen demgegenüber von geringerem Gewicht. Das gilt auch, wenn man zu Gunsten des Antragsgegners zur Konkretisierung auf die - wenig übersichtlichen - Verwaltungsvorgänge zurückgreift: Die zweimalige Anpassung einer Orthese, obwohl eine Orthese genügt hätte (so die Stellungnahme des beratenden Arztes Dr. G. vom 15. Mai 2001), lässt eine Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise des Antragstellers erkennen. Das Gleiche gilt für die gleichzeitige und nach der Stellungnahme des Prof. Dr. H. vom 3. November 2000 kontraindizierte Versorgung mit einem Gips- und Tapeverband. Weitere Einzelheiten (Abrechnungsverhalten im Zusammenhang mit extrakorporaler Stoßwellentherapie, "Überdiagnostik" im Hinblick auf Ultraschalluntersuchungen) lässt der Senat außer Betracht, weil der Antragsgegner sie nicht herangezogen hat und sie im Übrigen auch das Gesamtbild nicht wesentlich ändern würden.

17

Auch wenn man die im Kündigungsschreiben angesprochenen Punkte - vor allem die Missachtung des Verletzungsartenverfahrens - als "wichtigen Grund" ansieht - der Senat lässt diese Frage offen - folgt daraus nicht, dass die Kündigung ohne weiteres wirksam ist. Denn es ist zusätzlich der verfassungsrechtlich fundierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Darauf hat das BSG für das Vertragsarztrecht wiederholt hingewiesen und eine Zulassungsentziehung nur dann als gerechtfertigt angesehen, wenn ein geringeres Mittel nicht als ausreichend angesehen werden kann, den Arzt nachhaltig zu Erfüllung seiner vertragsärztlichen Pflichten anzuhalten (vgl. BSGE 60, 76; siehe auch BVerfG SozR 2200 § 360 a Nr. 6). Der Verlust der Einnahmen aus einer durchgangsärztlichen Tätigkeit wirkt sich auf die wirtschaftliche Existenz eines Arztes zwar bei weitem nicht so gravierend aus, wie der Verlust der Einnahmen aus einer vertragsärztlichen Tätigkeit. Dieser lediglich "graduelle" Unterschied zwischen der Rechtsstellung eines Vertragsarztes und derjenigen eines Durchgangsarztes rechtfertigt es aber nicht, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit außer Betracht zu lassen. Dies gilt umso mehr, als es für den Bereich der Dauerschuldverhältnisse auf Grund des Schuldrechts-Modernisierungsgesetzes in § 314 Abs. 2 BGB nunmehr seinen ausdrücklichen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Besteht danach der wichtige Grund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Vertrag, ist die Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig.

18

Der Senat hält es danach im Hinblick auf die Kündigung gegenüber einem Durchgangsarzt grundsätzlich für geboten, diesen nach für wesentlich erachteten Pflichtverletzungen abzumahnen, weil - anders als im Vertragsarztrecht - Disziplinarmaßnahmen nicht vorgesehen sind und auf andere Weise dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht Rechnung getragen werden könnte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine Abmahnung ausnahmslos erforderlich ist. Sie ist vielmehr - entsprechend den im Arbeitsrecht entwickelten Grundsätzen (vgl. Schaub, Handbuch des Arbeitsrechts, 9. Aufl. 2000, § 61, Rdn. 58) - dann entbehrlich, wenn der Durchgangsarzt wegen der Schwere seiner Pflichtverletzung damit rechnen muss, dass der Landesverband nur mit einer Kündigung auf den Pflichtverstoß reagieren kann. Einen Anhaltspunkt für die hiernach erforderliche Wertung, ob eine Abmahnung entbehrlich ist, bietet § 59 Abs. 1 S. 2 SGB X, wonach die Behörde den öffentlich-rechtlichen Vertrag kündigen kann, um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten.

19

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nach Einschätzung des Senats nicht vor. Zum einen stellt das Abrechnungsverhalten des Antragstellers, das durchaus gewisse Unregelmäßigkeiten aufweist, keinen Abrechnungsbetrug dar, der eine Abmahnung entbehrlich machen würde. Das hat auch der Antragsgegner nicht behauptet. Zum anderen hat der Antragsteller durch die unterlassene Überweisung die Gesundheit des Verletzten C. nicht nachweislich gefährdet, was zur Sicherung der Qualität des Durchgangsarztverfahrens (hierzu Krasney, NZS 1996, 259, 262) den Antragsgegner zur Kündigung ohne vorherige Abmahnung berechtigt hätte. Denn eine Wundheilungsstörung - darauf weist der Antragsteller zutreffend hin - ist nach Operationen nicht außergewöhnlich. Es ist nicht erkennbar und von dem Antragsgegner auch nicht vorgetragen worden, dass durch die unterlassene Überweisung an ein am Verletzungsartenverfahren beteiligtes Krankenhaus das Risiko einer Wundheilungsstörung erheblich erhöht wurde.

20

Auch die zusätzliche Voraussetzung des § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG, wonach die einstweilige Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen muss (Anordnungsgrund), ist hier erfüllt. Denn der Vollzug der Kündigung ist für den Antragsteller mit erheblichen finanziellen Nachteilen verbunden und zwar auch dann, wenn man - wie dies der Senat für zutreffend hält - prognostisch die im Vergleich zur Berechnung des Antragstellers erheblich niedrigeren jährlichen Einnahmeerwartungen des Antragsgegners zu Grunde legt. Dies wird aus den Erwägungen zur Streitwertfestsetzung deutlich.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 - 3. Halbsatz - SGG i.V.m. § 154 VwGO.

22

Der Streitwert ist gemäß §§ 11, 13 GKG auf 37.500,00 EUR festzusetzen. Er richtet sich nach den wirtschaftlichen Auswirkungen, die mit einer Beteiligung am Durchgangsarztverfahren verbunden sind. Sie lassen sich auf Grund des bisherigen Tätigkeitsausmaßes und der von dem Antragsgegner mitgeteilten Durchschnittswerte plausibel schätzen. Danach spiegeln die im Jahr 2001 erstellten 214 durchgangsärztlichen Berichte des Antragstellers dessen Tätigkeitsumfang wider. Legt man den Durchschnittsbetrag der durchgangsärztlichen Vergütung je Fall - bezogen auf alle Berufsgenossenschaften - zu Grunde, so ergibt sich demnach ein jährlicher Vergütungsbetrag für die durchgangsärztliche Tätigkeit des Antragstellers von ca. 30.000,00 EUR (Schriftsatz des Antragsgegners vom 7. August 2002, S. 6, vorletzter Absatz). Es ist, da sich die Auswirkungen der Kündigung über einen längeren Zeitraum erstrecken, angemessen, insoweit in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - von einem Fünfjahreszeitraum auszugehen (vgl. Wenner/Barnard, NZS 2001, 57, 59 m.w.N.). Somit ergibt sich im vorliegenden Fall ein Betrag von 150.000,00 EUR. Von einer Kürzung dieses Betrages um die anteiligen, die durch die durchgangsärztliche Tätigkeit verursachten Praxiskosten sieht der Senat ab. Denn im Rahmen der naturgemäß groben Schätzung fallen diese anteiligen Praxiskosten im Hinblick auf den Anteil der durchgangsärztlichen Tätigkeit am Gesamtumsatz - nach Angaben der Steuerberater des Antragstellers betrug dieser im Jahr 2.001.609.628,55 DM (= ca. 311.700,00 EUR) - nicht besonders ins Gewicht, da sich die laufende personelle und sächliche Ausstattung der Praxis auf Grund der durchgangsärztlichen Tätigkeit nicht wesentlich ändern dürfte. Da es sich um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes handelt, ist ein Abschlag auf ein Viertel des Betrages (37.500,00 EUR) angemessen (vgl. BSG SozR 3-1500 § 193 Nr. 6 - S. 18 - ; a.A. Wenner/Barnard, a.a.O.: keine Kürzung, jedoch eine Begrenzung der Einnahmen auf zwei bis maximal drei Jahre).

23

Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).

Streitwertbeschluss:

Der Streitwert wird auf 37.500,00 EUR festgesetzt.