Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 05.03.2003, Az.: L 2 RI 227/02

Anspruch einer Geschiedenen auf Geschiedenenwitwenrente nach dem vorletzten Ehegatten; Erneute Heirat zu Lebzeiten des Verstorbenen als Ausschlussgrund; Ausnahme der Auflösung oder Fürnichtigerklärung einer Ehe; Einschränkende Auslegung des§ 243 Abs. 4 SGB VI (Sozialgesetzbuch Fünftes Buch)

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
05.03.2003
Aktenzeichen
L 2 RI 227/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 16011
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0305.L2RI227.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
NULL

Tenor:

  1. 1.

    Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 22. Juli 1997 wird zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Klägerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen im Berufungsverfahren zu tragen. Im Übrigen haben die Beteiligten Kosten des Berufungsverfahrens einander nicht zu erstatten.

  3. 3.

    Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die am 29. Juli 1934 geborene Klägerin begehrt eine sogenannte Geschiedenenwitwenrente von der Beklagten.

2

Sie war vom 7. April 1956 bis zur rechtskräftigen Scheidung durch Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 4. Februar 1976 mit dem 1933 geborenen und am 16. Februar 1994 verstorbenen K. (Versicherter) verheiratet. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, der am 21. Juli 1956 geborene Sohn L. und die am 16. Dezember 1970 geborene schwerbehinderte Tochter M., für die die Klägerin bei Auflösung der Ehe das Sorgerecht erhielt. Nach der Scheidung ging der Versicherte eine Ehe mit der Beigeladenen ein. Diese bezieht unter Anrechnung einer eigenen Altersrente von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine sogenannte große Witwenrente von der Beklagten nach dem Versicherten. Auch die Klägerin heiratete am 19. Dezember 1986 erneut, und zwar den 1945 geborenen N ... Diese Ehe wurde mit Urteil des Amtsgericht Wiesbaden vom 24. Januar 1994 geschieden und ein Versorgungsausgleich durchgeführt. Daneben wurde der Klägerin nachehelicher Unterhalt für den Zeitraum von 4 Jahren zugesprochen. Seit Januar 1994 bezieht sie eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die inzwischen in eine Altersrente umgewandelt ist. Eine weitere Rente gewährt ihr die O ...

3

Am 10. März 1994 beantragte die Klägerin Witwenrente für geschiedene Ehegatten nach dem Versicherten. Sie gab dabei u.a. an, dass der Versicherte ihr gegenüber bis zur zweiten Eheschließung am 19. Dezember 1986 unterhaltspflichtig gewesen sei und Unterhalt für sie und die gemeinsame Tochter bis kurz vor der zweiten Heirat überwiesen habe. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 23. März 1995 ab. Ein Anspruch bestehe nicht für geschiedene Ehegatten, die bereits zu Lebzeiten des Versicherten eine neue Ehe geschlossen hätten. Eine vor dem Tod des Versicherten eingegangene neue Ehe beseitige jeglichen Unterhaltsanspruch gegen diesen, so dass keine Witwenrente an dessen Stelle treten könne. Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, dass ihr Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten nicht durch die zweite Eheschließung entfallen sei. Dieser habe durchgehend von der Scheidung bis zu seinem Tod Ehegattenunterhalt gezahlt. Dadurch erfolge ein Wiederaufleben des Witwenrentenanspruchs nach dem vorletzten Ehegatten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 27. Juli 1995 zurück. Unterhaltsleistungen des Versicherten an die Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tod seien nicht nachgewiesen. Es habe sich um Unterhalt für die schwerbehinderte Tochter gehandelt.

4

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin ihr Rentenbegehren unter Wiederholung ihres bisherigen Vortrags weiter verfolgt.

5

Die Beigeladene hat sich dem Vorbringen der Beklagten angeschlossen, dass die Unterhaltszahlungen des Versicherten für die Tochter bestimmt gewesen seien.

6

Mit Urteil vom 22. Juli 1997 hat das Sozialgericht (SG) Aurich die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass mit Eingehung der zweiten Ehe der Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten gem. dem hier anzuwendenden § 67 Ehegesetz (EheG) erloschen gewesen und auch nach Auflösung der zweiten Ehe nicht wieder aufgelebt sei. Die Klägerin habe nunmehr nur Ansprüche gegen ihren zweiten Ehemann in Form des Versorgungsausgleichs und Ansprüche aus der eigenen Rentenversicherung. Ein mit Eingehung einer zweiten Ehe weggefallener Unterhaltsanspruch gegen den ersten Ehemann solle nach dem Willen des Gesetzgebers nach Auflösung einer weiteren Ehe nicht durch einen Hinterbliebenenrentenanspruch ersetzt werden. Regelmäßige freiwillige Unterhaltszahlungen seien nicht belegt. Im Hinblick auf den ursprünglichen Vortrag der Klägerin im Verwaltungsverfahren sei davon auszugehen, dass die vom Versicherten bis zu seinem Tode geleisteten Zahlungen für die schwerbehinderte Tochter bestimmt gewesen seien.

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Gegen das am 18. August 1997 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 16. September 1997 Berufung eingelegt, mit der sie die Ansicht vertritt, dass ihre Wiederheirat noch zu Lebzeiten des Versicherten, ihres ersten Ehemannes, einem Wiederaufleben des Anspruchs auf eine Witwenrente nicht entgegenstehe. Zwar habe es eine gegenteilige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu der Vorläufervorschrift in der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegeben. Eine solche einschränkende Voraussetzung habe der Gesetzgeber jedoch bei der Überführung der RVO in das 6. Sozialgesetzbuch (SGB VI) ausdrücklich nicht mit in das neue Gesetz aufgenommen.

8

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 22. Juli 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. März 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 1995 aufzuheben und

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente nach dem verstorbenen Versicherten P. zu gewähren.

9

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

10

Sie hält die getroffene Entscheidung für zutreffend.

11

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die beigezogenen Aktenvorgänge des Amtes für Soziale Arbeit der Landeshauptstadt Q., die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

14

Die nach §§ 143 ff. SGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und daher zulässig.

15

Sie ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 23. März 1995 und der Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 1995 sind rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bewilligung einer Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des 1994 verstorbenen Versicherten K ...

16

Ein solcher ergibt sich nicht aus dem hier einzig in Betracht zu ziehenden § 243 SGB VI, der die Anspruchsvoraussetzungen für die kleine und große Witwen-/Witwerrente bzw. für die Witwen-/Witwerrente an Geschiedene nach dem vorletzten Ehegatten regelt. Durch § 243 SGB VI wird sichergestellt, dass Ehegatten, deren Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden wurde, einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des geschiedenen Ehegatten haben können. Bei Scheidungen ab dem 1. Juli 1977 ist an die Stelle dieses abgeleiteten Hinterbliebenenrentenanspruchs eine auf dem Rechtsinstitut des Versorgungsausgleichs (vgl. § 1587 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -) basierende eigenständige soziale Sicherung des geschiedenen Ehegatten getreten.

17

Ein Anspruch der Klägerin auf eine sogenannte kleine Witwenrente nach Abs. 1 der Vorschrift und ein Anspruch auf eine sogenannte große Witwenrente nach Abs. 2 der Vorschrift scheitern bereits daran, dass sie noch zu Lebzeiten ihres ersten Ehemannes den 1945 geborenen N. geheiratet hatte. Denn der Gesetzgeber knüpft einen Rentenanspruch ausdrücklich an die Voraussetzung, dass die geschiedene Ehefrau nicht wieder geheiratet hat.

18

Diese Einschränkung entspricht der Rechtsprechung zu § 1265 RVO und zu § 42 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) (vgl. BSG, Urteil vom 09.09.1986 - 5 b RI 68/85 -). Nach altem Recht war sie nicht normiert. Aus dem Tatbestandsmerkmal "frühere Ehefrau" leitete sie die Rechtsprechung des BSG her. Danach verlor eine Geschiedene den Status als frühere Ehefrau des Versicherten durch eine Wiederheirat zu dessen Lebzeiten (vgl. BSG a.a.O.). Diese Auslegung war vom Bundesverfassungsgericht für verfassungsgemäß erachtet worden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.07.1987 - 1 BvR - 568/87 - in SozR Nr. 85 zu 2200 § 1265 RVO). Die Rente sollte "nur" an die Stelle der bis zum Ableben des Versicherten bestehenden Unterhaltsansprüche oder tatsächlichen Unterhaltszahlungen treten. Da im Falle der Wiederheirat ein gesetzlicher Unterhaltsanspruch gegen den neuen Ehegatten entstand und nach dem bis zum 1. Juli 1977 anzuwendenden § 67 EheG die gesetzliche Unterhaltspflicht des Versicherten erlosch, wurde der geschiedene Ehegatte auf die Ansprüche aus der nächsten Eheschließung verwiesen (vgl. dazu Kasseler Kommentar, Stand: 39 Erg. lfg. Dez. 02, SGB VI, § 243 Rdnr. 5). Diese von der Rechtsprechung entwickelte Einschränkung nach altem Recht enthalten nunmehr die Bestimmungen des § 243 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 SGB VI (Kasseler Kommentar a.a.O.).

19

Die Klägerin trägt dem Rechnung und lässt ihr Rentenbegehren auf Abs. 4 des § 243 SGB VI stützen. Nach dieser Vorschrift besteht auch für geschiedene Ehegatten, die wieder geheiratet haben, unter den sonstigen Voraussetzungen ein Anspruch auf Hinterbliebenenwitwenrente nach dem vorletzten Ehegatten, wenn die erneute Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt worden ist. Die Bestimmung muss jedoch nach der Rechtsprechung des Senats einschränkend dahingehend ausgelegt werden, dass der geschiedene Ehegatte nicht zu Lebzeiten des Versicherten wieder geheiratet haben darf (Urteil vom 13.12.1995 - L 2 J 251/93 -). Dieses Verständnis folgt aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Sie ist an die Stelle der früheren Regelungen der §§ 1291 Abs. 3 RVO und 68 Abs. 3 AVG getreten, die das Wiederaufleben der Geschiedenenwitwenrente statuierten und zwar durch den ausdrücklichen Bezug auf §§ 1265 RVO, 42 AVG und demzufolge mit der Einschränkung, die bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals "frühere Ehefrau" zu beachten war. Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass § 243 Abs. 4 SGB VI für den Rentenbezug nicht ausdrücklich fordert, dass die zweite Ehe der Rentenbewerberin nach dem Tode des Versicherten geschlossen wurde. Aber diese einschränkende Voraussetzung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers über 1991 hinaus gelten, zumal ein klarstellender Zusatz im ursprünglichen Gesetzesentwurf zum Rentenreformgesetz 1992 (vgl. BT-Drs. 11/4124, S. 69) enthalten war, wonach Rentenbewerber im Zeitpunkt der Wiederheirat Anspruch auf eine solche Rente gehabt haben mussten. Auf diesen Zusatz wurde aufgrund einer Empfehlung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung (vgl. BT-Drs. 11/5490, S. 146) lediglich deshalb verzichtet, um Witwen in den anspruchsberechtigten Personenkreis mit einzubeziehen, die vor dem 1. Januar 1957 wieder geheiratet hatten und aufgrund der damals geltenden besonderen Anspruchsvoraussetzungen für eine Witwenrente in der Rentenversicherung der Arbeiter zum Zeitpunkt der erneuten Eheschließung keinen Anspruch auf Witwenrente hatten (vgl. BT-Drs. 11/5530, S. 68). Das bedeutet aber für Fälle der vorliegenden Art, dass die Rentenbewerberin im Zeitpunkt der Wiederheirat bereits einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des früheren Ehegatten gehabt haben musste, was nicht der Fall war, wenn sie erneut schon zu Lebzeiten des Versicherten eine Ehe eingegangen war (vgl. auch LSG Nds., a.a.O.; Hess. LSG, Urteil vom 09.06.1995 - L 13 An 123/95 -, SGb 1996, S. 35 [BSG 08.03.1995 - 1 RK 8/94]; vgl. Kasseler Kommentar, a.a.O., Rdnr. 72; Gesamtkommentar, Stand: 12. Lfg. 12/94, § 243 Anm. 17; Verbandskommentar, SGB VI, § 243 Rdnr. 20). Die insoweit vertretene Gegenansicht (vgl. Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, SGB VI, § 243 Rdnr. 132) lässt die aufgezeigte Entstehungsgeschichte der Regelung des § 243 Abs. 4 SGB VI außer Acht.

20

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze kommt es hier nach alledem nicht darauf an, ob nach § 243 Abs. 4 SGB VI die "sonstigen Voraussetzungen der Absätze 1 bis 3" vorliegen. Es ist demnach unerheblich, ob die Klägerin im letzten Jahr vor dem Tod des Versicherten Unterhalt von diesem erhalten oder im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dessen Tode einen Anspruch hierauf hatte.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

22

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).