Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 12.03.2003, Az.: L 2 RI 367/01

Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; Zumutbarkeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
12.03.2003
Aktenzeichen
L 2 RI 367/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 13603
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0312.L2RI367.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Aurich - AZ: S 2 RI 197/99

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

2

Der am 24. April 1948 geborene Kläger absolvierte bis 1966 erfolgreich eine Aus-bildung zum Betriebsschlosser und war in der Folgezeit als solcher und auch als Kraftfahrer tätig. Ab 1980 arbeitete er für die F. aus G. als Monteur von Kabeltragesystemen. Vom 1. September 1992 bis zum 31. Dezember 1993 bezog er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU). Das Beschäftigungsverhältnis als Monteur bestand bis 1995 fort. Seitdem ist er arbeits-los.

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Am 17. Juni 1998 stellte der Kläger erneut einen Rentenantrag und begründete diesen mit "Wirbelsäulenleiden, Magengeschwüre, Fehlen einer Niere". Nach Bei-ziehung eines orthopädischen Befundberichts ließ die Beklagte den Kläger durch den Internisten und Sozialmediziner H. untersuchen und begutachten (Gutachten vom 29.12.1998), der trotz des Bestehens von Beschwerden des Mus-kel- und Skelettsystems, der Neigung zu Magenbeschwerden und des Fehlens der linken Niere mit mäßigen Fettstoffwechsel- und Leberfunktionsstörungen den Kläger für fähig erachtete, leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne häufiges Bücken und ohne überwiegend einseitige Körperhaltungen vollschichtig zu verrichten. Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 17. Februar 1999 ab. Im nachfolgenden Widerspruchsverfahren erfolgte eine Be-gutachtung durch den Nervenarzt I. (Gutachten vom 22.07.1999). Dieser stellte bei dem Kläger ein chronisches Schmerzsyndrom, multiple Band-scheibenvorfälle ohne klinische Symptomatik und einen Alkoholmissbrauch fest. Er erachtete ihn jedoch für fähig, vollschichtig leichte Arbeiten im gelegentlichen Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen, ohne häufiges Heben und Tragen von Lasten über 5 kg, ohne häufiges Bücken und überwiegend einseitige Körperhal-tungen, ohne häufige Überkopfarbeit und ohne Gefährdung durch Erschütterungen und Vibrationen auszuführen. Mit Bescheid vom 2. September 1999, zugegangen am 6. September 1999, wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

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Der Kläger hat am 6. Oktober 1999 Klage beim Sozialgericht (SG) Aurich erhoben und zur Begründung vorgetragen, dass sein Leistungsvermögen nicht zutreffend beurteilt worden sei. Zur Begründung hat er Atteste bzw. Arztbriefe des Facharz-tes für Innere Medizin J. vom 15. November 2000 und des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. vom 25. Januar 2001 und hinsichtlich der Termine am 5. März 2001, 11. Juni 2001 und 15. Oktober 2001 vorgelegt. Das SG hat Befundberichte des Facharztes für Innere Medizin Dr. L. vom 22. Dezember 1999 und vom 1. März 2001 und einen solchen aus der neurologi-schen Klinik des Nordwest-Krankenhauses M. (N.) vom 19. April 2001 beigezogen. Während des Klageverfahrens hat die Beklagte dem Kläger vom 1. Februar 2000 bis zum 7. März 2000 eine stationäre medizinische Reha-Maßnahme in der Parkklinik O., Abt. Psychosomatik, ge-währt. In dem Entlassungsbericht vom 24. März 2000 ist der Kläger trotz einer langjährigen somatoformen Schmerzstörung, trotz Beschwerden im Bereich des Achsenorgans und trotz einer Alkoholkrankheit mit alkoholtoxischer Hepatopathie noch für fähig erachtet worden, vollschichtig leichte Tätigkeiten ohne Überkopfar-beit, ohne Rumpfzwangshaltungen oder Rumpfvorneigung überwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Stehen und Gehen zu verrichten. Darüber hinaus hat das SG eine Untersuchung und Begutachtung durch die Ärztin für Innere Medizin und für Neurologie und Psychiatrie Dr. P. veranlasst. In ihrem Gutachten vom 11. September 2001 hat die Sachverständige die Diagnosen chronisches Schmerzsyndrom, Hyperlopidämie, Hyperuricämie und Fettleber bei langjährigem Alkoholmissbrauch genannt. Gleichwohl ist sie zu der Feststellung gelangt, dass der Kläger noch leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen, ohne Heben und Tragen von Lasten über 5 kg, ohne Zwangshaltungen, ohne Überkopfarbeiten und ohne besonderen Stress oder Zeit-druck vollschichtig verrichten könne. Auf nervenärztlichem Fachgebiet ließen sich derzeit keine schwerwiegenden Befunde nachweisen, die die Leistungsfähigkeit gravierend einschränkten. Es ergebe sich kein Hinweis für eine Wurzelkompressi-onssymptomatik oder für motorische oder sensible Defizite. Psychiatrischerseits fänden sich keine Hinweise für eine schwerwiegende Störung. Auch internistisch ergäben sich keine schwerwiegenden Funktionsstörungen, die den Kläger in sei-ner Leistungsfähigkeit behinderten. Mit Urteil vom 8. November 2001 hat das SG daraufhin die Klage abgewiesen. Mit dem medizinisch festgestellten Restleis-tungsvermögen sei der Kläger weder berufs- noch erwerbsunfähig; auch die Vor-aussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung oder wegen teilweiser Er-werbsminderung bei Berufsunfähigkeit erfülle er nicht. Es bestehe ein vollschichti-ges Leistungsvermögen für leichte bzw. für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten. Als Monteur von Kabeltragesystemen sei er als Angelernter im unteren Bereich einzustufen und müsse sich auf alle Beschäftigungen des allgemeinen Arbeits-marktes verweisen lassen.

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Gegen das seinen Bevollmächtigten am 20. November 2001 zugestellte Urteil richtet sich die am 12. Dezember 2001 eingegangene Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Er ist der Auffassung, aufgrund der vorlie-genden Gesundheitsstörungen eine vollschichtige Tätigkeit nicht mehr verrichten zu können und verweist zur Bestätigung auf die Bescheinigung des ihn behan-delnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. hinsichtlich der Termine am 5. März, 11. Juni und 15. Oktober 2001. Dieser attestiere ein thera-pieresistentes chronisches Schmerzsyndrom und ein therapieresistentes depres-sives Syndrom und befürworte eine Berentung, da er, der Kläger, multimorbid und sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht deutlich vermindert belast-bar sei.

6

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 8. November 2001 und den Be-scheid der Beklagten vom 17. Februar 1999 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 2. September 1999 aufzuheben und

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfs-weise wegen Berufsunfähigkeit, weiter hilfsweise wegen voller und weiter hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

7

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte des Facharztes für Orthopädie Dr. Q. vom 26. Februar 2002, des Facharztes für Innere Medizin Dr. L. vom 15. Mai 2002 und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. vom 13. August 2002, denen umfangreiches weiteres me-dizinisches Material beigefügt worden ist, beigezogen. Darüber hinaus hat das Ge-richt den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. mit der Untersu-chung und Begutachtung des Klägers beauftragt (Gutachten vom 05.12.2002). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 233 bis 261 der Ge-richtsakte verwiesen.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Ge-richtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Ge-genstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind, sowie auf die Niederschrift über die Erörterung des Sachverhalts und die mündli-che Verhandlung am 12. März 2003 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Berichterstatter nach § 155 Abs. 3, 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Einzelrichter.

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Die nach §§ 143 ff. SGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und somit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

12

Das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Dem Kläger steht kein Anspruch auf eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit oder wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu.

13

Ein solcher ergibt sich nicht aus §§ 43, 44 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch -Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden und hier gem. § 300 Abs. 2 SGB VI noch anzuwendenden Fassung (SGB VI auf.). Ebenso wenig lässt sich das Rentenbegehren auf die Vorschriften der §§ 300, 240 SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl... I, S. 1827 ff. -SGB VI n.F. -) stützen, die nach § 300 Abs. 1, 2 SGB VI heranzuziehen sind, wenn der Rentenanspruch bis zum 31. Dezember 2000 noch nicht bestand, aber für die nachfolgende Zeit in Betracht kommen kann (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28. August 2002 - B 5 RJ 12/02 R -). Das SG hat diese hier maßgeblichen Rechtsgrundlagen geprüft und rechtsfehlerfrei angewendet und den medizinischen Sachverhalt aufgeklärt und nachvollziehbar gewürdigt. Nach alledem ist es zu der richtigen Entscheidung gelangt, dass dem Kläger eine Versichertenrente nicht zugesprochen werden kann. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird daher gem. § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des Urteils vom 8. November 2001 Bezug genommen.

14

Im Berufungsverfahren sind neue Gesichtspunkte nicht zu Tage getreten. Die vom Gericht durchgeführte medizinische Sachverhaltsaufklärung hat keine Anhalts-Punkte dafür ergeben, dass das dem Kläger verbliebene Leistungsvermögen nicht richtig beurteilt worden ist. So bestätigt der Sachverständige Dr. R. im psychischen Bereich das Bestehen einer langjährigen leichtgradigen somatoformen Schmerzstörung ohne Angst- und ohne depressives Erkrankungsbild und ohne Inhalte einer eigenständigen Schmerzerkrankung sowie eine Alkoholkrankheit mit Abstinenz. Die von diesen psychischen Auffälligkeiten ausgehenden Einschränkungen der Leistungsfähigkeit bewertet er aber nicht als so ausgeprägt, dass sie eine weitere Erwerbstätigkeit dauerhaft ausschlössen oder als so eingeschliffen, dass sie nicht durch eine zumutbare Willensanstrengung beherrscht bzw. über-wunden werden könnten. An körperlichen Beeinträchtigungen hat der Sachverständige ein pseudoradikuläres Cervicalsyndrom bei Bandscheibenvorfall C3/4, eine Bandscheibenvorwölbung C4/5 ohne aktuelle Beschwerden, ein pseudoradikuläres Lumbalsyndrom bei Osteochondrose L5/S1 und Bandscheibenvorwölbung L4/5 ohne Wurzelirritationssyndrom, ohne Funktionsdefizit und ohne Wurzelschädigung attestiert. Hinsichtlich des nach Aktenlage bestehenden Thorakahlsyndroms habe sich kein Beschwerdezustand gefunden. Bezüglich der nach Aktenlage bestehenden Hyperurikämie und der Hyperlipidämie konnte der Gutachter keine Leistungseinschränkungen feststellen. Das gleiche gilt für die mitgeteilte Adipositas, den arteriellen Hypertonus, die Nierenaplasie links und die Doppelniere rechts. Nachvollziehbar kann dem Gutachten ein vollschichtiges Restleistungsvermögen für leichte körperliche und normale geistige Tätigkeiten entnommen werden. Den im körperlichen Bereich bestehenden Einschränkungen kann im Erwerbsleben durch den Ausschluss vermehrten Hebens, Bückens und Tragens, den Ausschluss ständiger Überkopfarbeiten, den Ausschluss vermehrter Exposition von Kälte, Nässe und Zugluft und den Ausschluss von Heben und Tragen von Lasten über 5 kg angemessen Rechnung getragen werden. Die psychischen Beschwerden schließen lediglich Tätigkeiten mit erhöhter emotionaler Beanspruchung sowie Akkord- und Nachtschichttätigkeiten aus.

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Eine weitergehende Einschränkung der Leistungsfähigkeit war nicht festzustellen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des vom Kläger geklagten chronischen Schmerzsyndroms und des depressiven Syndroms. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. R. besteht - wie bereits ausgeführt - bei dem Kläger insoweit lediglich eine langjährige leichtgradige somatoforme Schmerzstörung ohne depressives Erkrankungsbild, ohne Angsterkrankung und ohne Inhalte einer eigenständigen Schmerzkrankheit. Diese Feststellung wird überzeugend durch die mitgeteilte psychische Befundung bestätigt. Psychische Beschwerden sind trotz wiederholter Nachfragen verneint worden. In den testpsychologischen Eigenangaben waren keine Depression, keine Angsterkrankung und kein Inhalt einer eigenständigen Schmerzerkrankung zu finden. Der Kläger hat kein Behinderungs-Gefühl, kein Katastrophieren und keine Hilf- oder Hoffnungslosigkeit oder angst-neurotische Inhalte bei Schmerzempfinden geschildert. Auch ergab sich eine ungestörte Tagesgestaltung für sämtliche Hausarbeiten, einschließlich des Einkaufens und der Küchenarbeiten und eine ungestörte Freizeitgestaltung.

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Darüber hinaus ist dem Arztbrief des Prof. S. aus der neurologischen Klinik des Nordwest-Krankenhauses M. vom 21. Dezember 2001 (Anlage zum Befundbericht des Dr. K. vom 13.08.2002) zu entnehmen, dass die vom Kläger geklagten Schmerzen durch entsprechende Medikation deutlich gelindert wurden. Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass die vom Kläger vorgebrachte und in dem Arztbrief des Dr. K. hinsichtlich der Termine am 5. März 2001, 11. Juni 2001 und 15. Oktober 2001 und in dem Arztbrief vom 16. Januar 2002 (Anlage zu seinem Befundbericht vom 13.08.2002) erwähnte "Multimorbidität" zu einer maßgeblichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit führt. Insoweit finden sich keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte. Auch die ansonsten durchgeführte medizinische Sachverhaltsaufklärung liefert dafür keinen Hinweis. Mit dem umschriebenen Restleistungsvermögen muss sich der Kläger, der nach Auswertung der Arbeitgeberauskunft vom 9. Februar 1999 als Angelernter im unteren Bereich einzustufen ist, auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisen lassen, ohne dass ihm wegen einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung oder wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen wäre.

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

18

Ein Grund für die Zulassung der Revision bestand nicht, § 160 Abs. 2 SGG.