Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 03.03.2003, Az.: L 5 SB 43/02
Höhe des Grades der Behinderung (GdB); Voraussetzungen der Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung; Anwendbarkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP); Bestimmung des Grades der Behinderung (GdB) bezüglich der einzelnen Funktionsbeinträchtigungen und Bildung eines Gesamt-Grades der Behinderung; Bildung eines Gesamt-Grades der Behinderung (GdB)
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 03.03.2003
- Aktenzeichen
- L 5 SB 43/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 10040
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0303.L5SB43.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - AZ: S 3 SB 60/01
Rechtsgrundlagen
- § 48 Abs. 1 SGB X
- § 69 Abs. 1 SGB IX
- § 69 Abs. 3 SGB IX
Redaktioneller Leitsatz
Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) sind antizipierte Sachverständigengutachten, das heißt letztenendes die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und von den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden.
Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 70 zusteht.
Bei dem am E. geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt (VA) zuletzt mit Bescheid vom 22. November 1994 einen GdB von 60 sowie die Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche "G" und "RF" fest. Gestützt auf einen Arztbrief des Radiologen Dr. F. beantragte der Kläger am 20. September 2000 Erhöhung des GdB auf 90. Das VA holte einen Befundbericht des Neurochirurgen Dr. G. ein und lehnte nach versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 27. Oktober 2000 mit Bescheid vom 2. Januar 2001 den Antrag ab, weil die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) nicht erfüllt seien. Der auf Arztbriefe der neurochirurgischen Abteilung des H. vom 20. November 2000 und 27. Dezember 2000 sowie des Radiologen Dr. I. vom 28. Dezember 2000 gestützte Widerspruch führte nach versorgungsärztlicher Stellungnahme des Dr. J. zum Teil-Abhilfebescheid, mit dem ab 20. September 2000 ein GdB von 70 (nebst den schon bisher zuerkannten Nachteilsausgleichen) festgestellt wurde (Teil-Abhilfebescheid vom 27. April 2001). Zu Grunde lagen die Funktionseinschränkungen:
- 1.
Umformende Wirbelsäulenveränderungen, Bandscheibenleiden, enger Spinalkanal, Fehlstatik des Beckens (verwaltungsinterne Bewertung: 40),
- 2.
Taubheit rechts, geringgradige Innenohrschwerhörigkeit links (verwaltungsinterne Bewertung: 30),
- 3.
Hüft- und Kniegelenksveränderungen beidseits (verwaltungsinterne Bewertung: 30),
- 4.
Schultergelenksveränderungen mit sekundärer Muskelverschmächtigung im rechten Oberarmbereich, Einschränkung der Unterarmdrehbeweglichkeit beidseits (verwaltungsinterne Bewertung: 20).
Der weiter gehende Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. April 2001).
Gegen den Widerspruchsbescheid hat sich der Kläger mit der am 17. Mai 2001 beim Sozialgericht (SG) eingegangenen Klage gewandt, mit der er einen GdB von mindestens 90 erstrebt hat. Er hat sich auf ein augenärztliches Attest des Dr. K. gestützt. Das SG Lüneburg hat Beweis erhoben durch Untersuchungsgutachten des Chirurgen Dr. L. vom 16. August 2001 mit Erläuterung vom 15. November 2001. Dem Gutachten folgend hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. Februar 2002 abgewiesen und sich die Ausführungen des Sachverständigen zu Eigen gemacht.
Gegen den am 11. Februar 2002 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit der am 11. März 2002 eingegangenen Berufung. Diese stützt er auf Arztbriefe des Urologen Prof. Dr. M. vom 26. November 2001 sowie der Chirurgin Frau Dr. N. vom 15. Februar 2002, einen Befund des Krankengymnasten O. vom 18. Februar 2002 sowie auf den Operationsbericht der Frau Dr. N. vom 23. Mai 2002.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 5. Februar 2002 aufzuheben und den Bescheid vom 2. Januar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2001 in der Fassung des Teil-Abhilfebescheides vom 27. April 2001 zu ändern,
- 2.
den Beklagten zu verpflichten, einen GdB von 90 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Frau Dr. P. vom 2. Juli 2002 für richtig.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehinderten-Akten des VA Hannover (Q.) sowie die Akten S 11 Vs 79/87 und S 3 VS 158/93 des SG Lüneburg vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet mit Zustimmung der Beteiligten gemäß § 155 Abs. 1, 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
Die gemäß § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein höherer GdB als 70 nicht zu.
Prüfungsmaßstab ist § 48 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein mit Dauerwirkung ausgestatteter Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Denn die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers haben sich gegenüber den dem Bescheid vom 22. November 1994 zu Grunde liegenden Verhältnissen wesentlich verändert. Insbesondere hat sich eine Veränderung im Wirbelsäulenbereich ergeben. Die übrigen Funktionseinschränkungen haben sich nicht wesentlich verschlechtert.
Die Maßstäbe des ursprünglich heranzuziehenden Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) finden sich in § 69 Abs. 1 und 3 des vom Senat infolge der zwischen-zeitlichen Rechtsentwicklung im Rahmen der Verpflichtungsklage anzuwendenden Sozialgesetzbuchs - Neuntes Buch - (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen wieder. Ergänzend ist hinzuzufügen, das die Bewertungsmaßstäbe des SchwbG und des SGB IX inhaltlich durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) ausgefüllt werden. Diese sind keine Normen, nicht einmal Verwaltungsvorschriften, denn u.a. fehlt jede entsprechende Ermächtigungsgrundlage. Sie sind aber antizipierte Sachverständigengutachten, das heißt letztenendes die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und von den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden (BSGE 72, 285; 75, 176; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6).
Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, hat das Gericht alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und entsprechend § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) mit ärztlicher Hilfe selbstständig zu bewerten. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen (BSGE 81, 50; 82, 176).
Der Teil-Abhilfebescheid vom 27. April 2001 bewegt sich vollständig im Rahmen der Maßstäbe der rechtsnormähnlichen AHP. Ein GdB darüber hinaus ist nicht festzustellen:
Im Vordergrund steht die Einschränkung der Wirbelsäulenfunktion. Diese bestand ausweislich des Arztbriefes der Neurochirurgischen Klinik des H. vom 20. November 2000 in einer ausgeprägten Spinalkanalstenose im Segment L4/5 mit erheblicher Schmerz- und Beschwerdebeeinträchtigung. Insoweit hat sich eine Verschlimmerung der Funktionsbeeinträchtigung ergeben, die Grundlage des Bescheides vom 22. November 1994 war. Die im erstinstanzlichen Gutachten mitgeteilten Bewegungsausmaße der Wirbelsäule zeigen die eingeschränkte Beweglichkeit, die sich vorwiegend in der Lendenwirbelsäule, in geringerem Umfang an der Halswirbelsäule zeigt. Während die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule bei dem eingeschränkten Schoberzeichen (Ausmaß 10/12 gegenüber 10/15 als Normalwert) das Vorneigen und Rückneigen gegenüber dem Normalwert von 80-0-40 bei dem Kläger mit Werten von 40-0-10 und das Drehen im Sitzen bei einem Normalwert von 45-0-45 bei dem Kläger mit Werten von 10-0-10 erheblich eingeschränkt ist, zeigen sich die Bewegungsausmaße im Halswirbelsäulenbereich weniger ausgeprägt. Von daher ist die versorgungsärztlich vorgeschlagene Bemessung der Beeinträchtigung im Wirbelsäulenbereich mit einem Wert von 40 nicht zu beanstanden (vgl. AHP S. 140).
Die Hörbehinderung ist nach den Grundsätzen der AHP (S. 69) mit einem Wert von 30 ebenfalls zutreffend bemessen; dies wird vom Kläger auch nicht in Zweifel gezogen.
Nicht zu beanstanden ist auch die Bewertung der Hüft- und Kniegelenksveränderungen. Jeweils durch den erstinstanzlichen Sachverständigen mitgeteilten Bewegungsausmaße der Hüftgelenke im Bereich Streckung/Beugung lassen kaum Einschränkungen erkennen, während es bei Abspreizen/Anführen sowie Drehung auswärts/einwärts bei 90 Grad-Beugung im Hüftgelenk Einschränkungen mit Schmerzangabe durch den Kläger gab. Nach den Maßstäben der AHP (S. 149) ist hierfür ein GdB von 20 angemessen. Die spezielle Untersuchung der Kniegelenke ergab durch den Sachverständigen keine Auffälligkeiten. Allerdings auffällig waren die unterschiedlich großen Umfangsmaße der unteren Gliedmaßen, die rechts deutlich größer waren als links. Nach den Bewertungsmaßstäben der AHP (S. 151) ist insoweit eine Bewertung mit maximal 20 gerechtfertigt. In den angefochtenen Bescheiden ist die Einschränkung der Hüfte und der Knie zu einem Wert von 30 zusammengefasst. Dies ist nicht zu beanstanden.
Die Einschränkungen im Schultergelenk und Unterarm links sind mit einem Wert von 20 einzustufen (AHP S. 143). Eine Versteifung des Schultergelenks links liegt nicht vor. Die Bewegungseinschränkung des Schultergelenks einschließlich Schultergürtel ist mit einem Wert von 10 einzustufen, wenn der Arm nur um 120 Grad zu heben und mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit verbunden ist. Bei dem Kläger ist davon auszugehen, dass der linke Arm seitwärts/körperwärts mit einem Bewegungsausmaß von 60-0-20 (statt 180-0-40 als Normalwert) sowie rückwärts/vorwärts mit einem Bewegungsausmaß von 30-0-90 (statt 40-0-160) bewegt werden kann. In Verbindung mit der eingeschränkten Unterarmdrehung des linken Arms von 50-0-50 (gegenüber Normalwert von 85-0-85) ist es gerechtfertigt, diesen Komplex zusammenzufassen. Die Gesamtbewertung von 20 für diesen Bereich ist gerechtfertigt.
Keine mit einem GdB zu bedenkende Funktionseinschränkung ergibt sich aus dem augenärztlichen Attest des Dr. K., welches den Zustand im Oktober 2001 beschreibt (vgl. AHP S. 63). Denn der Kläger weist auf dem rechten Auge eine Sehschärfe von 1,0, also ein volles Sehvermögen, und auf dem linken Auge von 0,9, also lediglich mit geringer Einschränkung auf.
Angesichts dieser Funktionseinschränkungen, deren Schwergewicht im Bereich der Wirbelsäule liegt, ist mit Rücksicht auf die übrigen Einschränkungen der GdB von 70 gerechtfertigt. Denn die Beeinträchtigung im Wirbelsäulenbereich wirkt sich auch auf die Einschränkung im Bereich der Hüfte aus, die nicht vollkommen isoliert von der Wirbelsäule gesehen werden kann. Selbstständig steht neben der im Vordergrund stehenden Einschränkung die Beschränkung der Hörfähigkeit des Klägers. Nach den Vorgaben der AHP (S. 35) ist es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Wert von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Nimmt man die im Vordergrund bestehenden Ausfälle der Funktionsfähigkeit der Wirbelsäule und des Gehörs zusammen, so werden sie durch das Schultergelenk und die Beeinträchtigung insbesondere im Hüftbereich geringfügig ergänzt. Ein höherer GdB als 70 kann danach nicht festgestellt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.