Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 31.03.2003, Az.: L 16/12 U 72/00

Anerkennung einer Berufskrankheit; Definition der Berufskrankheiten; Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
31.03.2003
Aktenzeichen
L 16/12 U 72/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 16041
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0331.L16.12U72.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 21.11.2000 - AZ: S 5 U 217/98

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 21. November 2000 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Streitig ist, ob der Kläger an einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) - Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können - leidet und die Beklagte verpflichtet ist, ihm eine Verletztenrente zu zahlen.

2

Der am 17. Mai 1947 geborene Kläger beantragte am 17. März 1995 bei der Beklagten die Anerkennung einer Berufskrankheit u.a. wegen eines Lendenwirbelsäulen- und Halswirbelsäulenschadens. In einem Fragebogen vom 24. September 1996 gab er seine beruflichen Tätigkeiten wie folgt an: 1964 - Juni 1976 (mit Unterbrechungen) Tischler bei verschiedenen Unternehmen; Oktober 1976 - Juni 1977 Zimmermann; Juli 1977 - Mai 1978 Stauer bei dem Unternehmen F., Bremen; Juni 1978 - Februar 1981 Seegüterkontrolleur bei dem Unternehmen G., Bremen; Februar 1981 - Juli 1981 arbeitslos; Juli 1981 - August 1981 Stauer bei dem Unternehmen H., Bremen; November/Dezember 1981 Stauer bei dem Unternehmen I. und 7. Dezember 1981 - 31. März 1996 Stauer bei der J., Bremen. Ferner gab er an, dass er seit dem 1. November 1993 arbeitsunfähig sei. - In einem weiteren Fragebogen vom 31. August 1995 beschrieb er seine von 1976 - 1981 und seit 1981 ausgeübten Tätigkeiten näher, insbesondere im Hinblick auf Heben und Tragen von schweren Lasten. Auf diesen Fragebogen (Bl. 7 Verwaltungsakte) wird Bezug genommen.

3

In einer Stellungnahme vom 23. Mai 1996 kam der Technische Aufsichtsdienst (TAD) zu dem Ergebnis, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Berufskrankheit nach Nr. 2108, 2109 und 2110 der Anlage 1 zur BKVO vorlägen (2109: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter; 2110: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen). Er stützte sich auf Ermittlungsergebnisse des TAD Bremen vom 21. November 1995 über die Tätigkeiten des Klägers ab 7. Dezember 1981 als Stauer und Gabelstaplerfahrer bei der J., als Zimmermann bei der Stauerei K. von 1976 - 1978, als Hafenarbeiter von 1978 - 1979 bei der Stauerei L. und als Tallymann von 1979 - 1981 bei dem Unternehmen M ... Wegen der Stellungnahme des TAD im Einzelnen wird auf Bl. 15-26 Verwaltungsakte Bezug genommen.

4

Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Oldenburg-Bremen übersandte der Beklagten ein für das Sozialgericht (SG) Bremen in einem Rentenstreitverfahren erstattetes Gutachten der Orthopäden Dr. med. N./Dr. med. O. vom 31. Juli 1996. Darin sind u.a. folgende Diagnosen genannt: Lokales Lumbalsyndrom mit Pseudoradikulärsyndrom beidseits bei geringer Spondylolisthese L5/S1, geringgradige statische linkskonvexe Lumbalskoliose. Ferner führten sie aus, die Spondylolisthesis (Wirbelgleiten des 5. Lendenwirbelkörpers gegenüber dem Kreuzbein) komme auf Grund einer Verlängerung in der Zwischengelenksportion des 5. Lendenwirbels zu Stande; diese Verlängerung habe ihre Ursache in einer nicht vollständig knöchernen Anlage des Wirbelbogens. Man nehme an, dass diese Störung schon in der frühen Kindheit in ihrer Anlage vorhanden sei, der entscheidende Gleitprozess sich in der Kindheit und der Adoleszenz abspiele und sich zwischen dem 20. und 25. Jahr stabilisiere. Ferner holte die Beklagte einen Krankheitsbericht des Orthopädischen Reha-Klinikums, P., vom 25. September 1996 über eine stationäre Behandlung des Klägers während eines Heilverfahrens vom 29. März - 26. April 1994 ein. Darin heißt es, bei der Aufnahme habe der Kläger über seit etwa 5-10 Jahren bestehende rezidivierend auftretende Schmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich mit vereinzelten Lumboischialgien geklagt, die sich seit Herbst 1993 erheblich verstärkt hätten. Auf den angefertigten Lendenwirbelsäulen-Schrägaufnahmen lasse sich die Frage des Vorliegens einer Spondylolyse L5 nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Es bestehe ein leicht skoliotischer Aufbau der Wirbelsäule mit verstärkter Kyphosierung der Brustwirbelsäule und Hyperlordose der Lendenwirbelsäule.

5

Die Beklagte forderte von dem Arzt für Neurochirurgie Dr. med. Q. eine beratungsärztliche Stellungnahme vom 18. Dezember 1996 an, in der er ausführte, zusammen mit dem von ihm erhobenen Röntgenbefund einer geringen Osteochondrose der Lendenwirbelsäule bei praktisch fehlender Spondylose und unsicheren Zeichen eines angeborenen Wirbelgleitens könne er das Vorliegen einer berufsbedingten Bandscheibenerkrankung nicht erkennen. Hinzu kämen noch die Feststellungen in dem Gutachten von Dr. med. N./Dr. med. O. mit Hinweis auf ein Pseudoradikulärsyndrom, das sich auf eine Beteiligung der Wirbelgelenke beziehen würde und nicht auf eine Beteiligung der Bandscheibe.

6

Die Beklagte legte den Vorgang dem Landesgewerbearzt beim Senator für Arbeit der Freien Hansestadt Bremen, Dr. med. R., vor. Zusammenfassend legte er in einer Stellungnahme vom 23. März 1998 dar, das Vorliegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung lasse sich bei dem Kläger nicht sichern. Vielmehr liege ein anlagebedingtes Krankheitsbild vor, das die Entstehung eines Bandscheibenschadens begünstige. Nach der Magnetresonanztomographie (MRT) sei es bereits zu einem Schaden im Bereich der hauptbetroffenen Bandscheibe gekommen. Die bildgebenden Verfahren böten eine gute Erklärung für Schmerzzustände und bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen. Es handele sich nicht um eine bandscheibenbedingte Erkrankung im ursprünglichen Sinne, sondern um ein Wirbelgleiten, das in der Regel anlagebedingt sei.

7

Mit Bescheid vom 27. Mai 1998 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, die Wirbelsäulenbeschwerden, die der Kläger auf seine berufliche Tätigkeit zurückführe, seien keine Berufskrankheiten nach den Nrn. 2108-2110 der Anlage zur BKVO. Sie stützte sich auf die Stellungnahmen von Dr. med. Q. vom 18. Dezember 1996 und des Landesgewerbearztes Dr. med. R. vom 23. März 1998.

8

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid am 8. Juni 1998 Widerspruch ein, den er damit begründete, die Beurteilung der genannten Ärzte sei unzutreffend, denn sein Leiden könne nur auf seine langjährige berufliche Tätigkeit zurückgeführt werden. Es sei zu berücksichtigen, dass er im Monat durchschnittlich 500 Stunden gearbeitet habe. - Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. September 1998). Die Beklagte stellte vor allem darauf ab, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer berufsbedingten Wirbelsäulenerkrankung nicht erfüllt seien, denn der Kläger leide an einem Wirbelgleiten, das anlagebedingt sei. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf den Widerspruchsbescheid (Bl. 119-120 Verwaltungsakte) Bezug genommen.

9

Der Kläger hat am 13. Oktober 1998 beim SG Bremen Klage erhoben, mit der er die Zahlung einer Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKVO begehrt hat. Er hat geltend gemacht, seine Beschwerden, insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule, seien ausschließlich auf die Auswirkungen seiner beruflichen Tätigkeiten zurückzuführen. Bis 1993 habe er keinerlei Rückenbeschwerden gehabt, vielmehr seien sie erst ab diesem Zeitpunkt aufgetreten. Bis dahin habe er etwa 15-17 Jahre in Stauereibetrieben gearbeitet, vor allem bei der J. Wenn auch bei ihm keine bandscheibenbedingte Erkrankung habe diagnostiziert werden können, liege es auf der Hand, dass seine Wirbelsäulenbeschwerden durch die jahrzehntelangen Trage- und Hebebewegungen, durch extreme Körperhaltungen und durch Ganzkörperschwingungen herbeigeführt worden seien. Ärztlicherseits sei ihm mitgeteilt worden, dass jedenfalls das Wirbelgleiten keineswegs zu den vorliegenden Beschwerden geführt haben könne, unabhängig davon, dass eine derartige Krankheit ärztlicherseits nicht einordbar sei. Durch die Wirbelsäulenerkrankung sei eine MdE von mindestens 20 v. H. vorhanden.

10

Die Beklagte hat sich auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid und den übrigen Inhalt der Akte bezogen.

11

Das SG hat Befundberichte der Orthopäden S. vom 20. Januar 1999 und Dr. med. T. (mit ärztlichen Unterlagen) vom 2. Februar 1999 eingeholt. Der Arzt S. hat die Diagnosen eines lokalen Lumbalsyndroms mit Myogelosen und eines Facettensyndroms L4/L5 genannt; Dr. med. T. hat die Diagnosen u.a. eines Pseudoradikulärsyndroms und einer Retrolisthesis L5 mitgeteilt und ferner angegeben, eine Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule habe eine Spondylolisthesis L5 über S1 um 4 mm und eine leichte Osteochondrose L4/S1 gezeigt. - Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG ferner ein Gutachten von dem Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie Dr. med. U. vom 22. November 1999 eingeholt. Er hat zusammenfassend ausgeführt, die technischen Voraussetzungen für die Annahme einer Bandscheibenschädigung seien gegeben; eine solche liege, auch monosegmental bzw. schwerpunktmäßig monosegmental im Areal L5/S1, vor. Bei dem Kläger bestehe keine Spondylolisthesis, sondern eine sogenannte Pseudospondylolisthesis. Hierunter sei eine Bandscheibenschädigung mit entsprechendem Wirbelgleiten zu verstehen, das ursächlich auf die Bandscheibenschädigung zurückzuführen sei und nicht - wie bei der Spondylolisthesis - auf das fehlende Zusammenwachsen der Bogenwurzel. Die Pseudospondylolisthesis lasse sich hinsichtlich des klinischen Befundes "zwanglos mit den Auswirkungen sowohl in therapeutischer Notwendigkeit, als auch in der Annahme, die zur Berufsunfähigkeit führten, in Übereinstimmung bringen. Der technische Befund des Röntgens spricht dafür." Damit lägen sämtliche Kriterien für die Annahme einer Berufskrankheit nach der BKVO vor. Die MdE sei auf 20 v. H. einzuschätzen.

12

Nach ärztlicher Beratung durch den Orthopäden Dr. med. V. hat die Beklagte den Feststellungen des Sachverständigen widersprochen. Sie hat insbesondere dargelegt, das sogenannte Pseudogleiten, von dem Dr. med. U. ausgehe, sei nur dann möglich, wenn es sich um eine erhebliche Degeneration der Bandscheibe handele. Eine solche liege nicht vor. Die kernspintomographischen Aufnahmen zeigten nur eine angedeutete Höhenminderung der Bandscheibe, vorwiegend im hinteren Bereich, ansonsten könne von einer entscheidenden Höhenminderung nicht gesprochen werden. Eine voreilende Degeneration der Bandscheibe und damit ein Pseudogleiten schieden daher aus. - Auf Antrag des Klägers hat das SG daraufhin von Dr. med. U. eine ergänzende Stellungnahme vom 3. Juli 2000 eingeholt, in der dieser u.a. ausgeführt hat, er sehe keinen Ansatzpunkt, von seinen gutachtlichen Äußerungen abzuweichen.

13

Mit Urteil vom 21. November 2000 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dem Gutachten von Dr. med. U. (i.V.m. seiner ergänzenden Stellungnahme) sei nicht zu folgen, denn der Kläger sei nicht mindestens 10 Jahre wirbelsäulenbelastend tätig gewesen und darüber hinaus liege kein schädigungsbedingtes, sondern ein anlagebedingtes Wirbelgleiten vor. Das Gutachten von Dr. med. U. überzeuge nicht, auch nicht hinsichtlich der Einschätzung der MdE auf 20 v. H. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf das Urteil (Bl. 152-157 Prozessakte) Bezug genommen. - Mit Beschluss vom 21. November 2000 hat das SG es ferner abgelehnt, die Kosten der Begutachtung durch Dr. med. U. auf die Staatskasse zu übernehmen. Die Beschwerde ist erfolglos geblieben (Beschluss des LSG Bremen vom 28. Juni 2001, Bl. 195-200 Prozessakte).

14

Der Kläger hat gegen das ihm am 15. Dezember 2000 zugestellte Urteil am 22. Dezember 2000 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Bremen Berufung eingelegt. Er macht geltend, das SG hätte dem Gutachten von Dr. med. U. folgen müssen, der eine langjährige Erfahrung als Chirurg und Sozialmediziner aufweise. Das Gutachten von Dr. med. N./ Dr. med. O. vom 31. Juli 1996 sei in dem vorliegenden Verfahren nicht verwertbar, denn es sei zu der Frage, ob er berufs- oder erwerbsunfähig sei, erstellt worden. Er hat ferner einen Bericht des Nervenarztes Dr. med. W. vom 25. Januar 1989 zur Akte gereicht; hierzu trägt er vor, dem Bericht sei zu entnehmen, dass bei ihm keine Vorschädigungen im Sinne einer Entwicklungsstörung bestanden hätten. Der Bericht betrifft Folgen eines Unfalls vom 26. Oktober 1988, bei dem er mit dem rechten Fuß auf ein Kantholz trat und nach außen abrutschte, und beschreibt u. a folgenden Befund: "Neurologisch: ... Wirbelsäule einschließlich HWS und LWS o.B."

15

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 21. November 2000 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Mai 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 1998 zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente zu gewähren.

16

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

17

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, drei medizinische Sachverständige (Dr. med. N./Dr. med. O., Dr. med. R. und Dr. med. V.) hätten herausgearbeitet, dass bei dem Kläger anlagebedingte Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule bestünden. Eine Anlage zur Ausbildung einer Krankheitserscheinung, die bereits in der Kindheit bestehe oder entstehe, müsse nicht zwangsläufig zu Beschwerden in der Kindheit oder im jugendlichen Alter führen. - Sie hat auf Anforderung des Gerichts die Stellungnahme von Dr. med. V. vom 16. März 2000 überreicht, auf die Bezug genommen wird (Bl. 235-250 Prozessakte).

18

Mit Schreiben vom 28. Februar 2003 hat das Gericht die Beteiligten davon in Kenntnis gesetzt, dass es in Erwägung ziehe, über die Berufung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG zu entscheiden und sie zurückzuweisen. Es hat ihnen eine Anhörungsfrist von drei Wochen gesetzt. Auf das Schreiben wird Bezug genommen (Bl. 252/3 Prozessakte). - Der Kläger macht daraufhin geltend, frühere ärztliche und radiologische Untersuchungen hätten nicht den Befund einer Spondylolisthesis erbracht. Nicht nur Dr. med. U., sondern auch sein Hausarzt Dr. med. T. sei der Auffassung, dass es sich um eine berufsbedingte Bandscheibenschädigung handele. Die Stellungnahme von Dr. med. V. überzeuge nicht, zumal er ihn, den Kläger, nicht untersucht habe.

19

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten (Az. 1/00880/952) und die Gerichtsakte des Sozialgerichts Bremen/Landessozialgerichts Bremen (Az. S 3 Vs 191/96, L 3 SB 34/98) beigezogen. Ferner hat das Arbeitsamt Bremen dem Gericht ein arbeitsamtsärztliches Gutachten vom 19. März 2002 übersandt. Die genannten Akten und Unterlagen sowie die Prozessakte (Az. L 16/12 U 72/00, S 5 U 217/98) sind Gegenstand der Beratung gewesen.

20

II.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§ 143 SGG). Sie ist nicht begründet.

21

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit.

22

Im vorliegenden Fall ist die Reichsversicherungsordnung (RVO) und nicht das am 1. Januar 1997 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) anzuwenden, denn der Versicherungsfall wäre vor dem 1. Januar 1997 eingetreten (Arbeitsunfähigkeit seit dem 1. November 1993) und die von dem Kläger begehrte Leistung (Verletztenrente) wäre - wenn die Voraussetzungen hierfür vorlägen - vor diesem Zeitpunkt festzusetzen gewesen, d. h. der Anspruch darauf wäre vor dem 1. Januar 1997 entstanden (§§ 212, 214 Abs. 3 SGB VII, § 40 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil -, SGB I).

23

Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 547 Reichsversicherungsordnung - RVO -) sind dann zu gewähren, wenn ein Versicherter einen Arbeitsunfall im Sinne der §§ 548 ff. RVO erlitten hat. Nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall ferner eine Berufskrankheit. Berufskrankheiten sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei den in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (Satz 2). Die Bundesregierung ist ermächtigt worden, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (Satz 3). Für die Berufskrankheiten gelten die für Arbeitsunfälle maßgeblichen Vorschriften entsprechend (§ 551 Abs. 3 RVO).

24

Nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO ist eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule unter den bereits genannten Voraussetzungen eine Berufskrankheit. Eine solche Erkrankung liegt bei dem Kläger nicht vor.

25

Im Gegensatz zu der Auffassung des SG, das die haftungsbegründende Kausalität (mindestens 10-jährige wirbelsäulenbelastende Tätigkeit) verneint hat, muss davon ausgegangen werden, dass diese Voraussetzung vorliegt. Die Beklagte holte im Verwaltungsverfahren die Arbeitsplatzanalyse ihres TAD vom 23. Mai 1996 ein, in der er zu dem Ergebnis kam, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Berufskrankheit u.a. nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO vorliegen. Er stützte sich dabei auf die Ermittlungsergebnisse des TAD Bremen vom 21. November 1995 über die Tätigkeiten des Klägers ab 7. Dezember 1981 als Stauer und Gabelstaplerfahrer bei der J., von 1976 bis 1978 als Zimmermann bei der Stauerei K., von 1978 bis 1979 als Hafenarbeiter bei der Stauerei L. und von 1979 bis 1981 als Tallymann bei dem Unternehmen M ... Danach sind die arbeitstechnischen Voraussetzungen für das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO erfüllt.

26

Nach den vorliegenden medizinischen Äußerungen, soweit sie überzeugen, ist die haftungsausfüllende Kausalität (ursächlicher Zusammenhang zwischen der geltend gemachten Gesundheitsstörung und der generell-schädlichen beruflichen Einwirkung) nicht wahrscheinlich. Hierzu wird insbesondere auf das Gutachten von Dr. med. N./ Dr. med. O. vom 31. Juli 1996, auf die Stellungnahmen von Dr. med. Q. vom 18. Dezember 1996 und von Dr. med. R. vom 23. März 1998 sowie auf die von der Beklagten im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Stellungnahme von Dr. med. V. vom 16. März 2000 verwiesen, die schlüssig und überzeugend erscheinen und denen sich das Gericht anschließt. Danach handelt es sich bei der Erkrankung des Klägers im Bereich der Lendenwirbelsäule um ein lokales Lumbalsyndrom mit Pseudo-radikulärsyndrom beiderseits bei geringer Spondylolisthese L5/S1 und geringgradiger statischer linkskonvexer Lumbalskoliose. Die Spondylolisthesis ist eine schon in der frühen Kindheit in ihrer Anlage vorhandene Störung, deren entscheidender Prozess sich in der Kindheit und der Adoleszenz abspielt und sich zwischen dem 20. und 25. Jahr stabilisiert. Dr. med. Q. und Dr. med. R. haben überzeugend ausgeführt, nach dem Ergebnis der bildgebenden Verfahren könne von einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule im Sinne der Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO keine Rede sein. Maßgeblich für die Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers sind vielmehr vor allem fortgeschrittene degenerative Veränderungen der Wirbel-gelenke mit Facettenveränderungen und entsprechenden Ausstrahlungen. Sie haben ihre Ursache in der jugendlichen Aufbaustörung.

27

Der Auffassung des nach § 109 SGG gehörten Chirurgen Dr. med. U. in seinem Gutachten vom 22. November 1999 mit der ergänzenden Stellungnahme vom 3. Juli 2000 kann der Senat nicht folgen. Dieser Sachverständige nennt als Einziger die Diagnose "Pseudospondylolisthesis" und meint, dieses Krankheitsbild sei ursächlich auf eine Bandscheibenschädigung zurückzuführen und nicht - wie die Spondylolisthesis - auf das fehlende Zusammenwachsen der Bogenwurzel. Alle übrigen Ärzte, die die Röntgenbilder und die MRT ausgewertet haben, sprechen jedoch von einer Spondylolisthesis. In dem von Dr. med. T. eingereichten Entlassungsbericht der Rheuma-Klinik der LVA Oldenburg/Bremen, Bad Wildungen, in der der Kläger vom 28. August 1997 bis 8. September 1997 ein Heilverfahren durchlaufen hat, ist ebenfalls die Diagnose genannt: Pseudoradikuläres LWS-Syndrom bei Spondylolisthesis L5/S1 Grad I-II nach Meyerding. Sie stützt sich auf eine orthopädische Untersuchung des Klägers in der Orthopädischen Abteilung der Klinik Am Homberg in Bad Wildungen einschließlich einer Auswertung der Röntgenaufnahmen (Bericht von Dr. med. X. vom 22. September 1997). Dr. med. V. hat ferner in seiner von der Beklagten zitierten Beurteilung des Gutachtens von Dr. med. U. überzeugend dargelegt, dass angesichts des nur gering ausgeprägten Bandscheibenschadens die von Dr. med. U. genannte Pseudospondylolisthesis nicht vorliege, sondern eine echte Spondylolisthesis bestehe. Dieser Beurteilung schließt sich das Gericht an. Unerheblich ist, dass Dr. med. V. den Kläger nicht untersucht hat, denn ausreichend ist die Beurteilung der Röntgenbilder und der MRT. Im Gegensatz zu der Auffassung des Klägers hat Dr. med. T. in seinem Befundbericht vom 2. Februar 1999 nicht von einer berufsbedingten Bandscheibenschädigung gesprochen, sondern die in dem Bericht von Dr. med. X. vom 22. September 1997 genannten Diagnosen übernommen.

28

Unzutreffend ist ferner die Ansicht des Klägers, das Gutachten von Dr. med. N./ Dr. med. O. vom 31. Juli 1996 dürfe nicht verwertet werden, denn es sei in einem Verfahren eingeholt worden, in dem die Zahlung einer Erwerbsunfähigkeitsrente streitig gewesen sei. Das Gutachten enthält orthopädische Diagnosen und beschreibt hinsichtlich des Wirbelgleitens die Ursache dieser Störung. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) darf das Gericht dieses Gutachten im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, §§ 415 ff. Zivilprozessordnung - ZPO -) verwerten.

29

Da der Sachverhalt auf Grund des Gutachtens von Dr. med. N./ Dr. med. O., der Stellungnahmen von Dr. med. Q., Dr. med. R. und Dr. med. V. sowie des Berichts von Dr. med. X. aufgeklärt ist und das Gutachten von Dr. med. U. i.V.m. seiner ergänzenden Stellungnahme nicht überzeugt, ist die Einholung eines weiteren Gutachtens nicht erforderlich.

30

Nach allem war die Berufung zurückzuweisen. Das Gericht hat durch einstimmigen Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG entschieden, denn einer nochmaligen mündlichen Verhandlung bedarf es nicht.

31

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

32

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, und der Senat weicht nicht von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts ab.