Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 17.03.2003, Az.: L 6 U 10/02
Sehminderung und krankhafte Augeninnendruckerhöhung als Folge eines Arbeitsunfalls; Anspruch auf Verletztenrente; Ansprüche auf Leistungen der Unfallversicherung wegen eines Glaukoms; Vorliegen der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhanges zwischen krankhaften Beschwerden und einem Unfallereignis
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 17.03.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 10/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 21076
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0317.L6U10.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - 29.11.2001 - AZ: S 3 U 87/99
Rechtsgrundlagen
- § 44 SGB X
- § 580 RVO
- § 581 RVO
- § 212 SGB VII
- § 142 Abs. 2 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Für die hinreichende Wahrscheinlichkeit im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht der Vollbeweis erforderlich. Ausreichend ist vielmehr, dass nach der geltenden ärztlichen-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang von vorliegenden krankhaften Beschwerden und einem Unfallereignis spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 29. November 2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt Verletztenrente. Streitig ist, ob eine Sehminderung und eine krankhafte Augeninnendruckerhöhung rechts Folgen eines Arbeitsunfalls vom 19. Januar 1993 sind.Der im Mai 1951 geborene Kläger erlitt am 19. Januar 1993 als Monteur auf einer Baustelle einen Arbeitsunfall. Beim Einsetzen eines Fensters flog ein Fremdkörper in sein rechtes Auge. Der Kläger selbst gab hierzu unter dem 19. April 1993 an, dass "Kalk entsprungen und unter starkem Druck in sein rechtes Auge gelangt" sei. Er suchte am 21. Januar 1993 den Augenarzt C. auf. Dieser fand am rechten Auge einen geringen konjunktivalen Reizzustand oben und eine Hornhautstippung im Bereich der oberen Hornhaut. Intraokular lag kein Reizzustand vor. Die Sehkraft betrug rechts 0,2 und links 0,5 ohne Korrektur. Er wischte das rechte Auge unter Umdrehen des Oberlides aus. Ein Fremdkörper wurde dabei nicht sichtbar. Der Arzt C. legte einen Salbenverband an (Durchgangsarztbericht vom 21. Januar 1993; Bericht vom 1. Mai 1993). Am 17. Februar 1993 gab der Kläger eine anhaltende Sehverschlechterung rechts an. Das Sehvermögen betrug 0,8 rechts und 0,1 links jeweils mit Korrektur der Kurzsichtigkeit. Auf dem rechten Auge fand sich ein Engwinkelglaukom mit stark erhöhten Augendruckwerten. Die daraufhin eingeleitete ambulante Druckeinstellung erwies sich als schwierig. In mehreren stationären Aufenthalten im Kreiskrankenhaus D. wurde u.a. eine Kältebehandlung des rechten Auges durchgeführt (Arztbriefe vom 7. Mai 1993). Nach der am 24. August 1993 erfolgten Glaukomoperation stieg der Augendruck wieder an. Der Augenarzt C. verneinte den Zusammenhang zwischen dem Engwinkelglaukom und dem Unfall (Bericht vom 1. Mai 1993).Die Beklagte holte zunächst die medizinischen Unterlagen der behandelnden Ärzte ein. Die Beratungsärztin Dr. E. verneinte den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Glaukom des rechten Auges mit glaucomatöser Opticusatrophie und entsprechendem Sehnervenschwund sowie subjektiver Herabsetzung der Sehschärfe (Stellungnahme vom 11. November 1993). In einem Zeitraum von 4 Wochen zwischen dem Unfall und der Diagnose des Glaukoms könne sich weder eine Opticusatrophie noch ein so starker Gesichtsfeldausfall wie er hier bestehe, entwickeln. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Dezember 1993 die Gewährung von Verletztenrente ab. Den Widerspruch wies die Beklagte nach Einholung einer weiteren Stellungnahme der Dr. E. vom 18. Februar 1994 zurück (Widerspruchsbescheid vom 14. April 1994).Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) Aurich hat in dem damaligen Verfahren - S 3 U 30054/94 - zwei Arztbriefe des Kreiskrankenhauses D. vom 6. Oktober 1993, einen Arztbrief des Augenarztes C. vom 2. August 1994 und ein Gutachten des Augenarztes Dr. F. vom 6. Januar 1995 und dessen ergänzende Stellungnahme vom 28. Juni 1995 eingeholt. Anschließend nahm der Kläger die Klage zurück.Im August 1998 bat der Kläger die Beklagte um Überprüfung ihrer ablehnenden Bescheide und legte hierzu den Arztbrief vom 6. August 1998 vor. Bei der Operation vom 16. Juli 1998 sei ihm in der Augenklinik G. die Linse des rechten Auges entfernt worden. Der behandelnde Arzt habe den Kausalzusammenhang bejaht. In seiner Stellungnahme vom 4. März 1999 verneinte der Augenarzt C. eine Kalkverätzung durch den Unfall vom 19. Januar 1993. Zwar sei der Endzustand der Hornhaut vor der Keratoplastik dem Zustand wie nach einer Kalkverätzung ähnlich gewesen, und auch die morphologischen Veränderungen seien ähnlich gewesen. Gegen eine Kalkverätzung spreche aber die jahrelang klare Hornhaut des Klägers. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. März 1999 die Rücknahme ihrer bestandskräftigen Bescheide (vom 15. Dezember 1993 und 14. April 1994) ab. Es lägen keine wesentlich neuen Erkenntnisse vor, die gegen die damalige Beurteilung sprächen. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 1999).Hiergegen hat der Kläger am 17. Juni 1999 Klage erhoben und Berichte aus der Uniklinik G. auch über eine Operation vom 13. August 2001 sowie einen Auszug aus Fritze, "Ärztliche Begutachtung", 4. Auflage 1992, vorgelegt. Auf Antrag des Klägers ist das Gutachten des Augenarztes Dr. H., Zentrum der Augenheilkunde der Universität G. vom 14. August 2000 erstattet worden. Danach ist das Gutachten des Augenarztes Dr. I., Evangelisches Krankenhaus J., vom 4. Dezember 2000 eingeholt worden. Das SG hat ergänzend eine Auskunft des Augenarztes C. vom 16. Februar 2001 beigezogen. Gestützt auf das Gutachten des Dr. I. hat das SG Aurich mit Urteil vom 29. November 2001 die Klage abgewiesen. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Unfall vom 19. Januar 1993 eine stärkere Verätzung mit Kalk im rechten Auge des Klägers verursacht habe. Zwar könne eine Kalkverätzung zu Kammerwinkelveränderungen und zu einem Sekundärglaukom führen. Dies setze aber eine stärkere Verätzung mit einer Beeinträchtigung der Horn- und Lederhaut voraus, die hier nicht nachgewiesen sei. Der Augenarzt C. habe diese auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts verneint. Auch die weiteren Anzeichen - massive Bindehautschwellung, eine Weißfärbung der Bindehaut oder ein Reizzustand im Auge - habe der Augenarzt C. nicht festgestellt. Außerdem habe in den nachfolgenden Untersuchungen stets eine völlig klare Hornhaut ohne Gefäßeinsprossung vorgelegen. Hinzu käme, dass die mehrfach beschriebenen Veränderungen im Bereich des rechten Kammerwinkels mit einer mehr oder weniger ausgedehnten Vertiefung durch Einriss in dem vorderen so genannten Ziliarkörper auf eine massive Einwirkung auf das rechte Auge hindeuten. Eine Bagatellverätzung durch einen normalen Fremdkörper oder einem winzigen Kalkfremdkörper, wie sie der Kläger offensichtlich erlitten habe, sei nach übereinstimmender Auffassung der Dres. K. nicht in der Lage, derartige Kontusionsveränderungen hervorzurufen. Auch die kurz nach dem Unfall beschriebene Excavation (Aushöhlung) des Sehnervkopfes trete nicht binnen weniger Wochen auf, sondern deute auf eine bereits seit längerer Zeit bestehende Augeninnendruckerhöhung hin. Der anders lautenden Einschätzung des Dr. H. vermochte die Kammer nicht zu folgen. Der Sachverständige habe außer Acht gelassen, dass sich zeitnah nach dem Unfall keine Hinweise für eine stärkere Verätzung des Auges fanden und er räume außerdem selbst ein, dass die morphologischen Befunde der im August 1998 entnommenen Hornhaut nicht zwingend auf eine Kalkverätzung hindeuten. Gegen dieses ihm am 28. Dezember 2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10. Januar 2002 Berufung eingelegt. Er trägt vor, dass hier mehr für als gegen einen Zusammenhang zwischen seinen Gesundheitsstörungen im rechten Auge und dem Unfall spreche: Hierfür spreche zunächst der enge zeitliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Auftreten seiner Augenbeschwerden. Vor dem Unfall habe er unter keinen Einschränkungen seiner Sehfähigkeit gelitten. Insbesondere habe er auch nicht unter Gesichtsfeldausfällen gelitten, was aber bei einem chronischen Glaukom hätte der Fall sein müssen. Auch der Augenarzt C. habe zwei Tage nach dem Unfall keine Hinweise auf ein Glaukom festgestellt. Seinem Schreiben vom 16. Februar 2001 sei zudem zu entnehmen, dass eine Zerstörung des Sehnervkopfes in dem Zeitraum vom 19. Januar 1993 bis zur Feststellung der Excavation möglich sei. Zudem habe auch Dr. I. einen ursächlichen Zusammenhang nicht sicher ausschließen können, sondern lediglich ausgeführt, dass nach der medizinischen Lehrmeinung eine derartige Verletzung nicht in der Lage sei, eine derartige Augenerkrankung hervorzurufen. PD Dr. H. habe darauf hingewiesen, dass der Krankheitsverlauf beim Kläger erheblich von der eines gewöhnlichen chronischen Glaukoms abweiche. In die gleiche Richtung weise die Einschätzung des Augenarztes C ... Dem engen zeitlichen Zusammenhang sei angesichts der Tatsache, dass sein Krankheitsverlauf nicht typisch sei, ein größeres Gewicht beizumessen.Der Kläger beantragt,1. das Urteil des SG Aurich vom 29. November 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 26. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1999 aufzuheben,2. festzustellen, dass die massive und dauerhafte Visusreduktion am rechten Auge und das Sekundärglaukom Folgen des Arbeitsunfalls vom 19. Januar 1993 sind,3. die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Rücknahme des Bescheides vom 15. Dezember 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 1994 Verletztenrente in Höhe von 25 v.H. der Vollrente ab 1. Januar 1994 zu zahlen.Die Beklagte beantragt,die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Aurich vom 29. November 2001 zurückzuweisen.Dr. H. habe lediglich Möglichkeiten oder Vermutungen aufgezeigt, auf die der Kausalzusammenhang in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht gestützt werden könne. Dieser sei vielmehr durch vier Ärzte und Gutachter - Dres. L. - übereinstimmend verneint worden.Mit Verfügung der Berichterstatterin vom 17. Januar 2003 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet und er beabsichtige, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen. Den Beteiligten ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
II.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist aber unbegründet. Das SG Aurich hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der bestandskräftigen Bescheide vom 15. Dezember 1993 und 14. April 1994 nach § 44 Sozialgesetzbuch - SGB - X, da sich diese Bescheide als rechtmäßig erweisen. Die Gesundheitsstörungen im Bereich seines rechten Auges sind wahrscheinlich keine Folgen des Unfalls vom 19. Januar 1993. Der Kläger hat aus diesem Grunde auch keinen Anspruch auf Verletztenrente nach den auf diesen Sachverhalt noch anwendbaren §§ 580, 581 Reichsversicherungsordnung (RVO, vgl Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII). Zur Begründung bezieht sich der Senat auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des SG Aurich und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 142 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - ).Lediglich zum Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren wird ergänzend auf Folgendes hingewiesen:Zwar ist für die hinreichende Wahrscheinlichkeit im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung nicht der Vollbeweis erforderlich. Ausreichend ist vielmehr, dass nach der geltenden ärztlichen-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Hierauf hat der Kläger zutreffend hingewiesen. Entgegen seiner Auffassung sprechen vorliegend jedoch mehr und gewichtigere Gründe gegen den Kausalzusammenhang seiner Gesundheitsstörungen im rechten Auge mit dem Unfall vom 19. Januar 1993. Gegen den Zusammenhang spricht, dass eine starke Kalkverätzung, wie sie für ein Glaukom erforderlich wäre, nicht vorgelegen hat. Auch fehlten die damit verbundenen Begleitverletzungen, worauf bereits das SG Aurich zutreffend hingewiesen hat. Hinzu kommt, dass sich ein Glaukom nicht innerhalb von 4 Wochen, sondern über mehrere Jahre - oft sogar über 10 bis 15 Jahre hinweg (Gutachten des Dr. I. S. 13) - , entwickelt. Auch die Schädigung des Sehnervkopfes - Excavation - entsteht nicht plötzlich innerhalb weniger Wochen, sondern vollzieht sich über einen längeren chronischen Verlauf (Gutachten des Dr. I., Stellungnahme des Augenarztes C. vom 16. Februar 2001). Entgegen der Auffassung des Klägers hat keiner der Gutachter den Krankheitsverlauf als außergewöhnlich oder atypisch bezeichnet, um daraus auf eine unfallbedingte Entstehung des Glaukoms schließen zu können. Insbesondere enthält das Gutachten des PD Dr. H. keinen Hinweis darauf, dass der Krankheitsverlauf erheblich von dem eines chronischen Glaukoms abweicht. Auch der Augenarzt C. hat in seiner Stellungnahme vom 16. Februar 2001 lediglich ausgeführt, dass ein derartiger Krankheitsverlauf - glücklicherweise - sehr selten sei. Daraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, dass das Glaukom traumatisch verursacht ist. Infolgedessen rechtfertigt der enge zeitliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem erstmaligen Auftreten der Beschwerden keine für den Kläger günstigere Beurteilung. Allein aus dem Umstand, dass er vor dem Unfall vom 19. Januar 1993 keine Beeinträchtigungen seiner Sehkraft auf dem rechten Auge bemerkt und die Gesichtsfeldausfälle erst nach dem Unfall wahrgenommen hat, berechtigt nicht zu der Annahme, dass das Glaukom tatsächlich erst nach dem Unfall entstanden ist. Nach der übereinstimmenden Einschätzung von Dres. M. ist es keineswegs ungewöhnlich, sondern gerade typisch, dass Patienten, die an einem Glaukom leiden, die damit verbundenen Gesichtsfeldausfälle längere Zeit nicht bemerken (Stellungnahme der Dr. E. vom 18. Februar 1994, ergänzende Stellungnahme des Dr. F. vom 28. Juni 1995).Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.Es liegt kein Grund vor, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG).