Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 18.03.2003, Az.: L 5 SB 73/02

Höhe des Grades der Behinderung (GdB); Herzerkrankung, Einschränkung der Wirbelsäule, leichtere psychovegetative oder psychische Störung; Anwendbarkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP 1996); Bestimmung des Grads der Behinderung (GdB) hinsichtlich der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen und Bildung eines Gesamt-Grades der Behinderung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
18.03.2003
Aktenzeichen
L 5 SB 73/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20175
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0318.L5SB73.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - AZ: S 3 SB 147/01

Redaktioneller Leitsatz

Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP 1996) sind antizipierte Sachverständigengutachten, das heißt letztenendes die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden.

Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger ein höherer Grad der Behinderung (GdB) nach den Maßstäben des Neunten Sozialgesetzbuchs Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) zusteht.

2

Der am D. geborene Kläger beantragte am 7. November 2000 nach einem Herzinfarkt die Feststellung des Behindertenstatus sowie die Feststellung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).

3

Das Versorgungsamt (VA) holte Befundberichte des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 30. November 2000 (mit weiteren ärztlichen Unterlagen), des Orthopäden Dr. F. vom 12. Dezember 2000 und des Facharztes für Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten Dr. G. ein und stellte nach versorgungsärztlicher Stellungnahme des Dr. H. mit Bescheid vom 29. März 2001 einen GdB von 20 fest. Auf den mit ärztlichen Stellungnahmen des Dr. E. sowie einem Arztbrief des Dr. F. begründeten Widerspruch stellte das VA mit Teil-Abhilfebescheid vom 14. August 2001 einen GdB von 30 sowie die dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit auf Grund folgender Funktionseinschränkungen fest:

  1. 1.

    Herzleistungsminderung bei koronarer Herzkrankheit mit Infarkt und Kranzgefäßaufweiterungsbehandlung (verwaltungsinterne Bewertung: 20),

  2. 2.

    Verschleißleiden der Wirbelsäule mit Belastungsminderung und ausstrahlender Schmerzsymptomatik (verwaltungsinterne Bewertung: 20).

4

Eine Funktionsminderung der Schultergelenke wirkte sich auf den GdB nicht erhöhend aus. Der weiter gehende, auf die Feststellung eines GdB von 50 gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. August 2001).

5

Mit der am 19. September 2001 eingegangenen Klage hat der Kläger weiterhin einen GdB von 50 begehrt. Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat ein im Termin zur mündlichen Verhandlung erläutertes Untersuchungsgutachten des Internisten Dr. I. eingeholt. Dem Gutachten folgend hat es mit Urteil vom 18. März 2002 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) seien Herzleiden sowie Wirbelsäulenleiden in Verbindung mit den Schulterbeschwerden jeweils mit einem Wert von 20 nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen zu bewerten. Dies führe zu einem zutreffenden GdB von 30.

6

Gegen das am 28. März 2002 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 29. April 2002 (Montag) eingegangenen Berufung, mit der er weiterhin einen GdB von 50 begehrt.

7

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des SG Lüneburg vom 18. März 2002 aufzuheben und den Bescheid vom 14. August 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. August 2001 zu ändern,

  2. 2.

    den Beklagten zu verpflichten, einen GdB von 50 festzustellen.

8

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

10

Der Senat hat Befundberichte des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 5. Oktober 2002 - mit Arztbriefen des Internisten J., des Internisten und Kardiologen Prof. Dr. K. sowie des Radiologen Dr. L. -, des Radiologen Dr. L. sowie des Neurologen und Psychiaters Dr. M. eingeholt.

11

Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehinderten-Akten (N.) des VA Verden vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

12

Der Senat entscheidet mit Zustimmung der Beteiligten gemäß § 155 Abs. 1, 3 und 4 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter.

13

Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein höherer GdB als 30 nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, nicht zu. Die getroffenen Entscheidungen sind nicht zu beanstanden.

14

Die Maßstäbe des ursprünglich heranzuziehenden Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) finden sich in § 69 Abs. 1 und 3 des vom Senat infolge der zwischen-zeitlichen Rechtsentwicklung im Rahmen der Verpflichtungsklage anzuwendenden Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen wieder. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die Bewertungsmaßstäbe des SchwbG und des SGB IX inhaltlich durch die AHP ausgefüllt werden. Diese sind keine Normen, nicht einmal Verwaltungsvorschriften, denn u.a. fehlt jede entsprechende Ermächtigungsgrundlage. Sie sind aber antizipierte Sachverständigengutachten, das heißt letztenendes die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden (BSGE 72, 285; 75, 176; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6).

15

Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, hat das Gericht alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und entsprechend § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) mit ärztlicher Hilfe selbstständig zu bewerten. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen (BSGE 81, 50; E 82, 176).

16

Der Beklagte und das SG haben sich an die nach den vorstehenden Vorgaben verbindlichen Maßstäbe der AHP gehalten. Die Beeinträchtigung durch den Herzinfarkt mit der Herzerkrankung ist mit einem Wert von 20 zutreffend eingeschätzt (vgl. AHP S. 86): Krankheiten des Herzens mit Leistungsbeeinträchtigung bei mittelschwerer Belastung, Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 75 Watt sind mit einem Wert von 20 bis 40 zu bedenken. Nach den Mitteilungen im Arztbrief des Internisten J. vom 5. August 2002 war eine Belastung bis 150 Watt möglich, bei diesem Wert trat eine Enge in der Brust mit Luftnot ein, ohne dass sich eine Ischämie oder Rhythmusstörungen zeigten. Der Arztbrief des Kardiologen Prof. Dr. K. vom 14. August 2002 belegte ein gutes Langzeitergebnis. Angesichts dieser Befunde kommt eine höhere Bewertung nicht in Betracht.

17

Zutreffend bewertet ist die Einschränkung der Wirbelsäule (AHP S. 140) mit einem Wert von 20. Die mitgeteilten klinischen Befunde belegen in der Summe mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, nämlich im Bereich der Halswirbelsäule unter Einschluss des Schulter-Arm-Syndroms sowie der Lendenwirbelsäule. Der Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 5. Oktober 2002 stellt unveränderte Befunde fest. Diese waren zuletzt in dem Arztbrief des Orthopäden Dr. F. vom 19. April 2001 und durch den Arztbrief des Radiologen Dr. L. vom 16. September 2002, der die rechte Schulter mit einem bildgebenden Verfahren abgebildet hat, erhoben worden. Eine selbstständige Bewegungseinschränkung des Schultergelenks einschließlich Schultergürtel, der nach den AHP (S. 143, 144) mit einem Wert von 10 oder 20 einzustufen wäre, ist nicht befundet, sodass das Schulter-Arm-Syndrom und die Beeinträchtigung der Halswirbelsäule mit dem GdB von 20 in Zusammenfassung mit der Beeinträchtigung in der Lendenwirbelsäule zutreffend eingestuft ist.

18

Der in dem Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr. M. vom 13. November 2002 mitgeteilte Zustand eines mehrdimensionalen depressiven Syndroms/Anpassungsstörung nach Herzinfarkt und Verdacht auf Encephalopathie mit zunehmenden kognitiven Störungen ist als leichtere psychovegetative oder psychische Störung mit einem Wert von 10 einzustufen (AHP S. 60). Die radiologische Untersuchung einer Ursache der genannten Encephalopathie hat ein negatives Ergebnis nicht erbracht. Die durch den Befundbericht des HNO-Arztes Dr. G. im Verwaltungsverfahren für den Gehörverlust mit 21,7 am rechten Ohr und 26,7 am linken Ohr durch das Tonaudiogramm vom 6. Februar 2001 ermittelten Werte ergeben einen GdB von 10 (AHP S. 69/72). Die beiden mit einem Teilwert von 10 einzuschätzenden Beeinträchtigungen des Gehörs und im psychischen Bereich erhöhen den aus der Einschränkung der Herzfunktion und der Wirbelsäulenfunktion zu bemessenden GdB von 30 nicht. Denn zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartig leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung, die sich im GdB ausdrückt, zu schließen (AHP S. 35).

19

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

20

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.