Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 07.03.2003, Az.: L 6/3 U 112/02

Gewährung von Verletztenrente wegen Berufskrankheiten (bandscheibenbedingte Erkrankungen); Tätigkeit als Maurer, Helfer, Kraftfahrer und Baggerfahrer; Tragen und Heben schwerer Lasten; Voraussetzungen der Berufskrankheiten Nr. 2108, 2109 und 2110 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV)

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
07.03.2003
Aktenzeichen
L 6/3 U 112/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 20155
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0307.L6.3U112.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 17.01.2002 - AZ: S 22 U 438/98

Redaktioneller Leitsatz

Die Berufskrankheiten Nr. 2108, 2109 und 2110 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) setzen bandscheibenbedingte Erkrankungen voraus, die nachzuweisen sind. Statische Rückenbeschwerden oder spondylotische und osteochondrotische Veränderungen reichen nicht aus.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Januar 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger begehrt Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Beteiligten streiten darüber, ob er an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, durch langjährige vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen sowie an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Halswirbelsäule (HWS) durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter leidet (Berufskrankheiten - BKen - der Nrn. 2108, 2109 und 2110 der Anlage - Anl. - zur Berufskrankheiten-Verordnung - BKV).

2

Der 1945 geborene Kläger erlernte von 1959 bis 1962 den Beruf des Maurers. Er war anschließend bei verschiedenen Firmen im erlernten Beruf tätig, aber auch als Helfer und Fahrer eines LKW. Zuletzt arbeitete er bei der Firma C., von 1985 bis 1995 als Maurer, Helfer, Kraftfahrer und Baggerfahrer (vgl. zu den einzelnen Berufstätigkeiten des Klägers den Bericht des Technischen Aufsichtsdienstes - TAD - der Beklagten vom 23. Dezember 1996).

3

Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen des Arztes für Orthopädie Dr. D. sowie Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen Niedersachsen vom 30. Mai sowie 15. Januar 1996 und 18. Oktober 1995 bei. Außerdem veranlasste sie das nach ambulanter Untersuchung erstattete orthopädische Gutachten des Dr. E. vom 3. März 1997. Dieser verneinte eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS und führte u.a. aus, die statischen Rückenbeschwerden stünden derzeit ganz im Vordergrund. Hingegen sei eine messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) durch die Auswirkungen früherer beruflicher Belastungen bei einer altersentsprechend freien Funktion der Wirbelsäulenabschnitte ohne neurologische Ausfallerscheinungen nur mit dem röntgenmorphologischen Substrat nicht zu begründen. Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Juni 1997 die Anerkennung der BKen nach Nrn. 2108 und 2110 der Anl. zur BKV ab. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 1998).

4

Außerdem lehnte die Beklagte nach Einholung eines orthopädischen Gutachtens des Dr. F. vom 11. Januar 1998 die Anerkennung einer BK nach Nr. 2109 der Anl. zur BKV mit Bescheid vom 1. Dezember 1998 ab: Der Kläger habe halswirbelsäulenbelastende Tätigkeiten i.S.d. BK Nr. 2109 nicht in der geforderten zeitlich erheblichen Intensität von wenigstens einem Drittel der täglich wiederkehrenden vollschichtigen Arbeitszeit ausgeübt. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28. September 1999).

5

Der Kläger hat gegen die ablehnenden Bescheide der Beklagten vor dem Sozialgericht - SG - Hannover Klage erhoben. Das SG hat die Klagen mit Beschluss vom 10. Dezember 2001 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Es hat von Amts wegen das nach ambulanter Untersuchung erstattete orthopädische Gutachten des Dr. G. vom 27. Februar 2001 eingeholt.

6

Das SG hat mit Urteil vom 17. Januar 2002 die Klagen abgewiesen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des Urteils Bezug genommen.

7

Der Kläger hat gegen dieses ihm am 6. Februar 2002 zugestellte Urteil am 6. März 2002 Berufung eingelegt. Er macht geltend, dass er seit 1985 Lasten und Gewichte von mindestens 50 kg getragen habe und dies mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten auch auf der Schulter. Den Beweis hierfür hat er durch Benennung von Zeugen angetreten. Außerdem beanstandet er das Gutachten des Dr. G ... Dieser habe die Befunde oberflächlich und inhaltlich nicht zutreffend ermittelt. Es sei daher durch einen weiteren Gutachter festzustellen, dass die Gesundheitsstörungen auf die berufliche Tätigkeit des Klägers zurückzuführen seien. Wegen weiterer Einzelheiten der Begründung wird auf den Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 18. April 2002 Bezug genommen.

8

Anschließend ist das nach ambulanter Untersuchung erstattete Gutachten des Dr. H., Leitender Oberarzt der Orthopädischen Kliniken I., vom 22. Oktober 2002 eingeholt worden.

9

Der Kläger beantragt sinngemäß,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Januar 2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1998 und den Bescheid vom 1. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. September 1999 aufzuheben,

  2. 2.

    bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS und der HWS als BKen Nrn. 2108, 2109 und 2110 der Anl. zur BKV festzustellen,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

10

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 17. Januar 2002 zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Der Berichterstatter hat die Beteiligten mit Verfügung vom 20. November 2002 darauf hingewiesen, dass der Senat erwäge, das Berufungsverfahren gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abzuschließen. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

13

Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

14

II.

Die statthafte Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Der Senat hält sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Entscheidung konnte deshalb durch Beschluss ergehen (§ 153 Abs. 4 Satz 1 SGG).

15

Das SG hat die - hinsichtlich des Feststellungsantrags gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG - zulässigen Klagen zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig, weil die Voraussetzungen der BKen Nrn. 2108, 2109 und 2110 der Anl. zur BKV nicht erfüllt sind. Deshalb hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Verletztenrente (§§ 56 Sozialgesetzbuch - SGB - VII).

16

1.

Die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 sind zwar erfüllt, da die langjährige Berufstätigkeit des Klägers mit regelmäßigem Heben und Tragen schwerer Lasten verbunden war; der vom Kläger hierzu beantragten Beweisaufnahme bedarf es daher nicht. Aus den Gutachten des Dr. E. und des Dr. H. geht aber eindeutig hervor, dass sich schon eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS, wie sie nach der Definition der BK Nr. 2108 vorausgesetzt wird, nicht feststellen lässt. Dr. E. hat dies schlüssig damit begründet, dass die Funktion der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte altersentsprechend frei ist und keine neurologischen Ausfallerscheinungen nachweisbar sind und dass die röntgenologisch festgestellten Veränderungen als solche nicht als Erkrankung gewertet werden können. Die bei dem Kläger im Vordergrund stehenden statischen Rückenbeschwerden lassen sich, wie Dr. E. weiterhin herausgearbeitet hat, durch eine anlagebedingte Fehlstatik mit Kyphosierung (konvexe Krümmung) des dorso-lumbalen Überganges (Übergang von der Brust- zur Lendenwirbelsäule) bei keilförmiger Wirbeldeformierung erklären. Damit stimmt die Beurteilung des Sachverständigen Dr. H. überein, der nach Auswertung der Röntgenaufnahmen und des klinisch-neurologischen Zustandes eine Bandscheibenerkrankung eindeutig ausgeschlossen hat. In diesem Zusammenhang hat er auf das Fehlen von Bandscheibenverschmälerungen und die fehlende Beeinträchtigung nervaler Strukturen hingewiesen. Seinem Gutachten ist - ebenfalls im Einklang mit der Beurteilung des Dr. J. - außerdem zu entnehmen, dass die röntgenologisch nachweisbaren spondylotischen und osteochondrotischen Veränderungen nicht mit einer bandscheibenbedingten Erkrankung gleichzusetzen sind. Schließlich hat auch er auf eine - nicht durch berufliche Belastung entstandene - Kyphose der unteren Brustwirbelsäule und die im Röntgenbild erkennbaren Veränderungen der Grund- und Deckplatten im Sinne einer Scheuermann'schen Erkrankung, also einer berufsfremden Gesundheitsstörung, hingewiesen.

17

Soweit demgegenüber der Sachverständige Dr. G. eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS annimmt, überzeugt seine Beurteilung nicht, da er diese Diagnose nicht einleuchtend zu begründen vermag und darauf hinweist, dass die geklagten Beschwerden und die klinischen Befunde nicht übereinstimmen. Im Ergebnis führt die vorgenannte Meinungsverschiedenheit der ärztlichen Sachverständigen zu keiner für den Kläger günstigeren Beurteilung. Denn auch Dr. G. stellt heraus, dass die Beschwerden des Klägers durch eine in jungen Jahren erworbene keilförmige Deformierung auf Grund einer juvenilen Osteochondrose (Morbus Scheuermann) zurückzuführen sind. Das Gleiche gilt für die Beurteilung des Gutachters Dr. F., der zwar eine "Bandscheibenzerrüttung im Sinne einer Gefügestörung" der beiden unteren Segmente der LWS (L4/5 und L5/S1) annimmt, diese aber ebenfalls nicht auf die Berufstätigkeit des Klägers zurückführt.

18

2.

Die Feststellung einer BK nach Nr. 2110 ist ebenfalls nicht möglich, da sich eine beruflich verursachte bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS nicht feststellen lässt. Auf die Ausführungen zu 1. wird Bezug genommen.

19

3.

Schließlich liegt auch eine bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS nach Nr. 2109 nicht vor. Dies haben die vorgenannten Gutachter übereinstimmend festgestellt. Auf die Frage der arbeitstechnischen Voraussetzungen dieser BK - sie erfasst nur Tätigkeiten von nach vorn und seitwärts erzwungener Kopfbeugehaltung bei gleichzeitiger maximaler Anspannung der Nackenmuskulatur (typisch: die Tätigkeit der Fleischträger) - ist daher nicht näher einzugehen.

20

Eine weitere Sachaufklärung auf medizinischem Gebiet ist nicht erforderlich. Denn den vorliegenden vier Gutachten, die im Kern übereinstimmen, ist zu entnehmen, dass die Berufstätigkeit des Klägers zu keiner beruflich verursachten bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS und der HWS geführt hat.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

22

Ein Grund für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.