Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 11.03.2003, Az.: L 9 U 45/01
Bewilligung einer Verletztenrente wegen der Folgen einer bereits anerkannten berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit aus der gesetzlichen Unfallversicherung; Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 20 von Hundert über die 26. Woche nach dem Unfallereignis hinaus; Mitentschädigung eines berufsfremden Vorschadens oder Nachschadens; Weitere Verschlechterung einer Lärmschwerhörigkeit nach Beendigung des schädigenden Lärms
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 11.03.2003
- Aktenzeichen
- L 9 U 45/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21021
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0311.L9U45.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 17.01.2001 - AZ: S 7 U 86/00
Rechtsgrundlage
- § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Eine Veränderung in dem sonstigen Gesundheitszustand durch neue selbstständige Entwicklungen kann keine Veränderung der berufskrankheitsbedingten Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE) bewirken.
- 2.
Hörverschlechterungen, die sich zeitlich nach Aufgabe der gehörschädigenden Tätigkeit einstellen, sind versicherungsrechtlich unbeachtliche Nachschäden und bei der Bewertung der MdE nicht zu berücksichtigen.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Bewilligung einer Verletztenrente wegen der Folgen einer bereits anerkannten berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der 1941 geborene Berufungskläger war seit Beginn seiner Lehre 1956 - zuletzt seit Oktober 1968 bei der Standortverwaltung - als Maurer tätig - lediglich unterbrochen durch seinen Wehrdienst in den Jahren 1962 und 1963 und durch seine eineinhalbjährige Tätigkeit als Auslieferungsfahrer von März 1967 bis Oktober 1968.
Anlässlich der Ableistung seines Wehrdienstes hatte der Berufungskläger 1962 ein Knalltrauma. Im Januar 1962 war er deshalb von dem Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. Püschel untersucht und behandelt worden.
Unter dem 28. Mai 1997 erstattete der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. D. eine Berufskrankheitenanzeige unter Hinweis auf die zunehmende Schwerhörigkeit des Berufungsklägers. Die Berufungsbeklagte zog einen Bericht von Dr. D. vom 26. Juni 1997 bei, dem Audiogramme beigefügt waren, die im April 1997 angefertigt worden waren. Hierin wies Dr. D. darauf hin, der Berufungskläger habe einen Vorschaden am linken Ohr. Der Berufungskläger sei vor April 1997 niemals bei ihm untersucht worden. Unter dem 27. Januar 1998 nahm die Wehrbereichsverwaltung II zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen der Anerkennung einer Berufskrankheit Stellung. Sie kam zu der Auffassung, der Berufungskläger sei bei seiner Tätigkeit schädigendem Lärm ausgesetzt gewesen.
Nach einer weiteren Stellungnahme des Betriebsarztes Dr. E. (vom 6. April 1998) erstattete Dr. D. unter dem 8. Juni 1998 ein Zusammenhangsgutachten für die Berufungsbeklagte. Hierin teilte er unter anderem mit, der Berufungskläger sei seit Februar 1998 vorläufig berentet. Der Befund von Dr. F. aus dem Januar 1962 war dem Gutachten beigefügt. Hieraus ergibt sich, dass der Berufungskläger bereits damals angegeben hatte, auf dem linken Ohr schon immer sehr schlecht gehört zu haben. Dr. D. diagnostizierte auf dem linken Ohr des Berufungsklägers Taubheit. Auf dem rechten Ohr befundete er eine gering- bis mittelgradige pantonale Innenohrschwerhörigkeit mit Hochtonabfall. Dieser Schaden sei zwar nicht lärmtypisch, müsse aber der beruflichen Belastung zugeordnet werden. Daher sei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 35 v.H. anzuerkennen.
Hierauf wendete sich der Oberfeldarzt G. mit Schreiben vom 9. Oktober 1998 an Dr. D. und bat um weitere Erläuterungen zur anzusetzenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). In seinem Antwortschreiben vom 20. Oktober 1998 kam Dr. D. zu dem Ergebnis, es müsse eine MdE von 25 v.H. angesetzt werden. Dem schloss sich Oberfeldarzt G. in seiner Stellungnahme vom 23. Oktober 1998 an. Auf erneute Nachfrage der Berufungsbeklagten ergänzte Dr. D. seine Ausführungen unter dem 4. Juni 1999 dahingehend, dass links eine vollständige Taubheit vorliege. Die zwischen 1997 und der Begutachtung 1998 eingetretene Mittel- und Tieffrequenzschwerhörigkeit rechts sei ein BK - unabhängiges Leiden. Die auf dem rechten Ohr anzutreffende Hochtonschwerhörigkeit bewirke einen prozentualen Hörverlust von 10%. Dieser trete gegenüber den anderen Schäden, die später festgestellt worden seien, weit zurück.
Sodann zog die Berufungsbeklagte noch das Vorerkrankungsverzeichnis für den Berufungskläger von der AOK in Wilhelmshaven bei. Aus diesem ergibt sich unter anderem, dass der Berufungskläger vom 12. bis zum 30. Juni 1997 und vom 11. August 1997 bis zum 9. Mai 1998 arbeitsunfähig erkrankt war.
Daraufhin erkannte die Berufungsbeklagte mit Bescheid vom 3. September 1999 in der Gestalt des zurückweisenden Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2000 bei dem Berufungskläger das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) an. Eine Verletztenrente erkannte sie dem Berufungskläger indes nicht zu, da sie der Auffassung war, der Anteil des Hörschadens auf dem rechten Ohr, der auf berufliche Belastung zurückzuführen sei, erreiche in der Höhe der MdE kein rentenberechtigendes Ausmaß.
Am 23. März 2000 ist Klage erhoben worden.
Der Berufungskläger hat im Klageverfahren eine Bescheinigung von Herrn Dr. D. vom 17. Juli 2000 vorlegt.
Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Klage - im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung - durch Urteil vom 17. Januar 2001 abgewiesen. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt:
Soweit der Berufungskläger das Klageziel verfolge, eine BK anerkannt zu bekommen, sei die Klage gegenstandslos, da die BK 2301 nach der Anlage zur BKVO bereits anerkannt worden sei. Sodann ist das SG davon ausgegangen, es liege ein beidseitiger Lärmschaden vor. Selbst wenn dies aber unterstellt werde, so könne nur die Lärmschädigung im Hochtonbereich als Folge der beruflichen Belastung anerkannt werden. Die Verschlimmerung im Tief- und Mittelfrequenzbereich dürfe nicht in die MdE-Schätzung mit einbezogen werden. Hieraus resultiere unter Heranziehung der unfallmedizinischen Einstufungskriterien insgesamt eine nicht rentenberechtigende MdE.
Gegen das seinen Bevollmächtigten am 23. Januar 2001 zugestellte Urteil hat der Berufungskläger am 8. Februar 2001 Berufung einlegen lassen. Zu deren Begründung weist der Berufungskläger im Wesentlichen auf das Königsteiner Merkblatt zur Bewertung von Gehörschäden hin und ist der Auffassung, der nicht klar abgrenzbare BK-unabhängige Anteil seines Hörschadens rechts sei als BK-Folge mitzubewerten.
Der Berufungskläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 17. Januar 2001 und den Bescheid der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung vom 3. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2000 aufzuheben,
- 2.
die Berufungsbeklagte zu verurteilen, dem Berufungskläger wegen der anerkannten Berufskrankheit Nr. 2301 der Anlage zur BKVO eine Verletztenrente zu bewilligen.
Die Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihre angefochtenen Bescheide sowie die erstinstanzliche Entscheidung.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Berufungsbeklagten (2 Bände zum Az.: 97/017113) Bezug genommen. Diese Unterlagen waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht erkannt, dass der Berufungskläger keinen Anspruch auf Bewilligung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der bei ihm anerkannten BK der Nr. 2301 der Anlage zur BKVO hat. Der Bescheid der Berufungsbeklagten vom 3. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2000 ist insoweit rechtmäßig.
Ein Anspruch auf eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung setzt nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - 7. Buch - (SGB VII) voraus, dass die Erwerbsfähigkeit des Versicherten auf Grund des berufsbedingten Schadens über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Dies ist bei dem Berufungskläger nicht der Fall.
Im Falle des Berufungsklägers war insoweit zunächst zu berücksichtigen, dass an seinem linken Ohr ein "Vorschaden" vorliegt. Hierunter ist eine bei Eintritt des Versicherungsfalls unabhängig vom Versicherungsfall bestehende Gesundheitsstörung zu verstehen, die klinisch manifest ist oder Beschwerden bereitet. Ein solcher - berufsfremder - Vorschaden wird grundsätzlich nicht mitentschädigt (Bereiter-Hahn / Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 SGB VII Anm. 10.5; Feldmann, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 4. Aufl., 1997, S. 71,162). Weiter war zu berücksichtigen, dass am rechten Ohr des Berufungsklägers auch ein so genannter Nachschaden vorliegt. Die gesundheitlichen Folgen der beruflich bedingten Schädigung und ihr jeweiliges Ausmaß können nicht von der versicherungsrechtlich geschützten Schädigung losgelöst werden. Eine Veränderung in dem sonstigen Gesundheitszustand durch neue selbstständige Entwicklungen kann keine Veränderung der berufskrankheitsbedingten MdE bewirken (vgl. Bereiter - Hahn / Mehrtens, a.a.O., § 48 Anm. 5.10). Für die Lärmschwerhörigkeit ist insoweit gesicherter Stand der unfallmedizinischen Erkenntnis, dass diese sich nach Beendigung des schädigenden Lärms nicht mehr weiter verschlechtern kann (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl., 1998, S. 416). Hörverschlechterungen, die sich zeitlich nach Aufgabe der gehörschädigenden Tätigkeit einstellen, sind daher versicherungsrechtlich unbeachtliche Nachschäden und bei der Bewertung der MdE nicht zu berücksichtigen (Feldmann, a.a.O., S. 163).
Insoweit stellt der Senat bei der Bewertung der auf die beruflichen Belastungen zurückzuführenden Gehörschädigungen maßgeblich auf die letzte, gutachtliche Äußerung von Dr. D. vom 4. Juni 1999 ab, in der er die am rechten Ohr des Berufungsklägers vorliegenden Schädigungen in berufsbedingte Schäden und Nachschäden abzugrenzen sucht. Dr. D. unterliegt in seiner Äußerung indessen insoweit einem Irrtum, als er davon ausgeht, dass der Berufungskläger noch von April 1997 bis zum Februar 1998 lärmexponiert tätig war. Aus dem von der AOK Wilhelmshaven erstellten Vorerkrankungsverzeichnis ergibt sich indessen, dass der Berufungskläger nach der Erstellung des Audiogramms von Dr. D. vom 24. April 1997 bereits ab dem 11. August 1997 bis zu seiner Berentung arbeitsunfähig erkrankt war. Er war mithin ab dem Erkrankungszeitpunkt nicht mehr berufsbedingtem Lärm ausgesetzt. Während des Zeitraumes vom 24. April 1997 bis zum 11. August 1997 war der Berufungskläger, wie sich ebenfalls aus dem Vorerkrankungsverzeichnis ergibt, darüber hinaus noch vom 12. Juni bis zum 30. Juni 1997 erkrankt. Aus dem Vorerkrankungs-verzeichnis insgesamt ergibt sich also, dass der Berufungskläger nach Erstellung des Audiogramms vom 24. April 1997 lediglich noch ca. drei Monate berufsbedingtem Lärm ausgesetzt war. Daher ist ein wesentlich geringerer Zeitraum weiteren, berufsbedingten Lärms anzusetzen, als dies Dr. D. in seiner Stellungnahme vom 4. Juni 1999 zu Grunde gelegt hat. Selbst bei einem erheblich längeren Zeitraum hat Dr. D. aber angenommen, bei den dann im Juni 1998 festgestellten weiteren Schäden am rechten Ohr des Berufungsklägers habe es sich mit Wahrscheinlichkeit um nicht berufsbedingte Nachschäden gehandelt. Diese nunmehr am rechten Ohr des Berufungsklägers vorliegenden weiteren Schäden sind mithin nicht bei der Bewertung der berufsbedingten MdE zu berücksichtigen ebenso wenig wie die am linken Ohr des Berufungsklägers von Dr. D. durchgängig diagnostizierte Taubheit. Diese ist bereits von Dr. F. im Januar 1962 diagnostiziert worden. Insoweit gehen auch die Überlegungen des SG`es zu der Frage, ob hier ein ein- oder zweiseitiger Hörschaden vorliegt, in die Irre (Feldmann, a.a.O. S. 163). Da hier nämlich das linke Ohr bereits vor Belastung mit berufsbedingtem Lärm ertaubt war, können aus dem Nichtvorhandensein typischer Lärmschäden an eben diesem linken Ohr keine positiven oder negativen Schlussfolgerungen gezogen werden.
Soweit der Berufungskläger vorgetragen hat, es fänden sich Widersprüchlichkeiten in der Befundschilderung von Dr. F. sowie im weiteren Umgang der Bundeswehr anlässlich des vom Berufungskläger abzuleistenden Wehrdienstes mit diesem Schaden, vermag dies zur Klärung der hier zu beantwortenden Rechtsfragen nichts beizutragen. Insoweit käme allenfalls die Geltendmachung einer Wehrdienstbeschädigung nach dem Soldatenversorgungsgesetz in Betracht. Auch die möglicherweise nicht exakten Angaben von Dr. Püschel zum Entstehungszeitpunkt der Gesundheitsstörung am linken Ohr des Berufungsklägers vermögen nichts daran zu ändern, dass dieser jedenfalls bereits 1962 eine Taubheit auf dem linken Ohr des Berufungsklägers diagnostiziert hat.
Dies berücksichtigend hat Dr. D. in der zitierten Stellungnahme vom 4. Juni 1999 die berufsbedingte MdE des Berufungsklägers zu Recht unter Zugrundelegung der Tabelle Nr. 5 unter 4.3.4. des Königsteiner Merkblattes (4. Auflage 1995, abgedruckt bei Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung, M 2301 oder bei Bereiter-Hahn / Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Anhang 12, J 011) letztlich mit 0 v.H. bewertet. Dies war auch für den Senat überzeugend.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.