Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.07.2014, Az.: 9 LB 2/13

Feststellung eines Abschiebungsverbots gegenüber einem afghanischen Staatsangehörigen; Gewährung von subsidiärem nationalen Abschiebungsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.07.2014
Aktenzeichen
9 LB 2/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 21541
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0728.9LB2.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 01.06.2010

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 1. Kammer (Einzelrichter) - vom 1. Juni 2010 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte verpflichtet wird festzustellen, dass für den Kläger das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK in Bezug auf Afghanistan besteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, ein 1983 geborener afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit, reiste Anfang Mai 2009 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Bei seiner persönlichen Anhörung gab er an, dass er mit seiner Frau und zwei acht und sechs Jahre alten Söhnen in einem Dorf der Provinz Nangarhar gelebt habe. Da er von den Taliban bedroht worden sei, weil er sich ihnen nicht habe anschließen wollen, sei er für vier Monate allein nach Pakistan gegangen. Bei seiner Rückkehr in sein Heimatdorf habe er seine Familie nicht wiederfinden können; das zweite Stockwerk ihres Hauses sei durch einen Raketenwerfer zerstört, und sein jüngerer Bruder sei von den Taliban verschleppt worden. Aus Angst vor den Taliban habe er schließlich Afghanistan verlassen.

Mit Bescheid vom 26. Februar 2010 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 5, Abs. 7 AufenthG vorlägen.

Die dagegen gerichtete Klage hat der Kläger während des erstinstanzlichen Verfahrens auf die von ihm begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beschränkt. In der mündlichen Verhandlung hat er mitgeteilt, dass sein jüngerer Bruder und sein Vater zwischenzeitlich von den Taliban getötet worden seien; über das Schicksal seiner Frau und seiner beiden Söhne wisse er nichts.

Mit Urteil vom 1. Juni 2010 hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist, und ferner die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Afghanistan vorliegt. Der Kläger habe bei einer Abschiebung nach Kabul als ungelernte Arbeitskraft ohne verwandtschaftliche oder geschäftliche Kontakte in dieser Stadt keine Chance auf Arbeit, Brot und Obdach und würde daher bei einer Abschiebung einer extremen Gefahrenlage ausgeliefert sein.

Zur Begründung der mit Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 6. April 2011 (7 LA 69/10) zugelassenen Berufung nimmt die Beklagte Bezug auf den angefochtenen Bescheid und ihr Vorbringen im Zulassungsverfahren. Ergänzend stützt sie sich auf das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Februar 2011 - 13a B 10.30394 -, mit dem ihre Auffassung bestätigt worden sei, dass alleinstehende arbeitsfähige gesunde afghanische Männer auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung bei einer zwangsweisen Rückführung in ihr Heimatland in der Lage seien, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul zumindest ein kümmerliches Einkommen zu erzielen. Die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, bei einer Abschiebung nach Afghanistan dort alsbald zu verhungern oder ähnlich existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt zu sein, liege daher nicht vor.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass in der vorhandenen Rechtsprechung, die eine Rückführung von alleinstehenden volljährigen gesunden arbeitsfähigen Männern nach Kabul auch dann als zumutbar ansehe, wenn dort kein familiärer Rückhalt für den Betroffenen bestehe, nicht berücksichtigt werde, dass sich die Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul sowohl durch zurückkehrende Flüchtlinge als auch wegen eines Vordringens der Taliban zwischenzeitlich verschlechtert habe.

Der Senat hat den Kläger informatorisch angehört; insoweit wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung von 8. Februar 2013 verwiesen. Ferner hat der Senat Beweis erhoben zum Verfolgungsschicksal des Klägers durch Vernehmung der Zeugin D. E.; wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28. Juli 2014 Bezug genommen. Der Senat hat außerdem Beweis erhoben durch Einholung von Sachverständigengutachten sowie einer amtlichen Auskunft zu den Fragen, (1.) ob in den letzten Jahren in Afghanistan Fälle von Rückkehrern aus dem Ausland oder von Binnenflüchtlingen bekannt geworden sind, die in der Stadt Kabul von Anhängern der Taliban aufgespürt und getötet oder auf andere Weise bestraft worden sind, weil sie sich durch Flucht einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban entzogen hatten, (2.) ob die Taliban in der Stadt Kabul über Netzwerke verfügen, mittels derer sie gezielt Nachforschungen anstellen, ob sich unter den Rückkehrern und Binnenflüchtlingen in dieser Stadt Personen befinden, die sich in ihrer Heimatregion einer Zwangsrekrutierung entzogen hatten, und (3.) ob Rückkehrer und Binnenflüchtlinge, die sich einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban entzogen hatten, einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, in Kabul von Anhängern der Taliban entdeckt und identifiziert zu werden, wenn sie aus einer Region im näheren Umkreis von Kabul stammen. Hinsichtlich des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf die gutachterlichen Stellungnahmen von Dr. Mostafa Danesch vom 30. April 2013 und von Amnesty International vom 15. Juli 2013 sowie auf die amtlichen Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 3. September 2013 und vom 15. Mai 2014 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen. Die vom Senat in das Verfahren eingeführten und zum Gegenstand der Entscheidung gemachten Erkenntnismittel ergeben sich aus den Erkenntnismittellisten, die den Beteiligten unter den Daten vom 4. Februar 2013 und vom 23. Juli 2014 per Telefax übersandt worden sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.

Streitgegenstand der Berufung ist nach der vom Kläger bereits im erstinstanzlichen Verfahren erklärten teilweisen Klagerücknahme und der daran anknüpfenden teilweisen Verfahrenseinstellung durch das Verwaltungsgericht nur noch das auf die Gewährung von subsidiärem nationalen Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der seit dem 1. Dezember 2013 geltenden Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 <BGBl. I S. 3474>) gerichtete Verpflichtungsbegehren des Klägers. Die teilweise Klagerücknahme ist allerdings prozessual gegenstandslos, soweit sie sich auch auf das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG bezieht. Bei dem nationalen Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen. Eine Abschichtung der einzelnen nationalen Abschiebungsverbote im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ist daher nicht möglich (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319, Rdnr. 17; Nds. OVG, Urteil vom 26.01.2012 - 11 LB 97/11 - InfAuslR 2012, 149, Rdnr. 23 in [...]). Somit kann dieser unteilbare Verfahrensgegenstand nicht durch eine auf einzelne Anspruchsgrundlagen bezogene teilweise Klagerücknahme prozessual "auseinandergerissen" werden. Nichts anderes folgt daraus, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 29. Juni 2010 (- 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226) das Ausscheiden des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG als Streitgegenstand nach einer Beschränkung des Klagebegehrens auf das in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geregelte Abschiebungsverbot als wirksam angesehen hat. Diese Entscheidung betrifft einen Ausnahmefall, in dem die teilweise Klagerücknahme bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (BGBl. I 2007 S. 1970) am 28. August 2007, mit dem das nationale subsidiäre Abschiebungsverbot als einheitlicher unteilbarer Verfahrensgegenstand erst geschaffen worden ist, erklärt worden war (dies klarstellend: BVerwG, Urteil vom 8.9.2011, a. a. O.; vgl. auch Berlit, NVwZ 2012, 193 in Fußn. 57).

Die auf diesen Streitgegenstand bezogene Berufung der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage im Ergebnis zu Recht stattgegeben, denn der Kläger hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) Anspruch auf die Gewährung von subsidiärem nationalen Abschiebungsschutz. Der Anspruch ergibt sich aus § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK (1.). Der Senat kann daher offen lassen, ob darüber hinaus auch die Voraussetzungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben sind (2.).

1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Aufgrund des Verweises auf die Vorgaben der EMRK kann sich ein Abschiebungsverbot u. a. aus § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK ergeben, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Die Anspruchsvoraussetzungen für die Feststellung dieses Abschiebungsverbotes sind im vorliegenden Fall gegeben. Die vom Kläger geltend gemachte Gefahr einer Bestrafung durch die Taliban fällt in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK (a). Der Senat sieht das vom Kläger geschilderte Verfolgungsschicksal, wonach er sich vor seiner Ausreise aus Afghanistan einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban entzogen hat, als erwiesen an (b). Es sprechen begründete Tatsachen dafür, dass für den Kläger das tatsächliche Risiko besteht, bei einer Rückführung nach Afghanistan am Abschiebungszielort Kabul von den Taliban entdeckt und infolge dessen in einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Weise bestraft zu werden (c). Für ihn besteht auch keine inländische Fluchtalternative innerhalb des Abschiebungszielstaates Afghanistan (d).

a) Der sachliche Regelungsbereich des nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK ist weitgehend identisch mit dem des unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i. V. m. § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG, ohne dass das unionsrechtliche Abschiebungsverbot den nationalen Abschiebungsschutz als lex specialis verdrängt (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12, Rdnr. 36). Unter das in Art. 3 EMRK ausgesprochene Verbot der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung fallen jedenfalls sämtliche Maßnahmen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. Bergmann, in: Renner u. a., Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 60 AufenthG Rdnr. 35 m. w. Nachw.). Der Kläger stützt sein Schutzgesuch im gerichtlichen Verfahren u. a. darauf, dass er sich vor seiner Ausreise aus Afghanistan einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban verweigert habe und deshalb bei einer Rückführung nach Afghanistan mit einer Bestrafung durch die Taliban rechnen müsse. Nach den Erkenntnismitteln, die dem Senat vorliegen, betrachten es die Taliban aufgrund der religiösen Legitimierung ihres Herrschaftsanspruchs als einen Abfall vom Islam und somit als besonders schweres, todeswürdiges und nicht verjährendes Verbrechen, sich durch Flucht einer Rekrutierung zu entziehen. Ein Rückkehrer muss daher auch nach jahrelanger Abwesenheit damit rechnen, deswegen zur Verantwortung gezogen und wahrscheinlich getötet oder jedenfalls schwerwiegenden Körperstrafen wie etwa dem Brechen von Beinen und Händen und der Verätzung von Augen und Gesichtshaut mit Säure unterzogen zu werden (vgl. Dr. Danesch an den Hess. VGH vom 7.10.2010 zu 8 A 101659/10.A, S. 5 ff.; Amnesty International an den Hess. VGH vom 21.12.2010, S. 2 f.; siehe dazu auch das im vorliegenden Verfahren erstellte Sachverständigengutachten von Dr. Danesch, S. 1 f.). Dass in derartigen Bestrafungsmethoden eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK liegt, steht außer Zweifel.

Die Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK scheidet auch nicht deshalb aus, weil die vom Kläger geltend gemachte Gefahr einer menschenrechtswidrigen Bestrafung nicht von Vertretern des afghanischen Staates, sondern von den Taliban ausgeht. Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fallen unter Art. 3 EMRK zwar grundsätzlich nur Misshandlungen durch staatliche Organe (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 15.95 - BVerwGE 99, 331). Diese Rechtsauffassung hat das Bundesverwaltungsgericht aber zwischenzeitlich in seinem Urteil vom 13. Juni 2013 (- 10 C 13.12 - NVwZ 2013, 1489, Rdnr. 25) ausdrücklich aufgegeben. Der Senat folgt der neuen Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts, zumal sie der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entspricht, wonach Art. 3 EMRK auch dann anwendbar ist, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen von Personen ausgeht, die nicht Vertreter des Staates sind (vgl. EGMR, Urteil vom 29.04.1997 - 11/1996/630/813 - NVwZ 1998, 163; Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 - NVwZ 2012, 681, Ziff. 213).

b) Abschiebungsschutz kann einem Ausländer in Bezug auf Gefahren, die auf seinem Verfolgungsschicksal vor seiner Ausreise aus dem Abschiebungszielstaat beruhen, nur dann zugesprochen werden, wenn das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des von ihm geschilderten individuellen Schicksals erlangt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.11.1985 - 9 C 27.87 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 41, Rdnr. 15 f. in [...]). Der Senat sieht es als erwiesen an, dass der Kläger aus seiner Heimatregion in der Provinz Nangarhar fliehen musste, weil er sich zuvor einer Rekrutierung durch die Taliban verweigert hatte. Auf der Grundlage der informatorischen Befragung des Klägers durch den Senat, der Protokolle der Befragung durch das Verwaltungsgericht und der Anhörung im Asylverfahren, der Vernehmung der Zeugin E. sowie der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel verbleiben keine vernünftigen Zweifel in Bezug auf die Wahrheit des vom Kläger geschilderten Verfolgungsschicksals.

Im Rahmen der drei im Asylverfahren sowie im Verwaltungsprozess durchgeführten Befragungen hat der Kläger geschildert, dass er in seinem Heimatdorf bedrängt worden sei, sich den Taliban anzuschließen, und er deshalb zunächst nach Pakistan geflohen sei. Bei einer kurzzeitigen Rückkehr in seine Heimatregion habe er feststellen müssen, dass seine Familie - abgesehen von seinem Onkel - aus seinem Heimatdorf verschwunden gewesen und das Obergeschoss des Hauses der Familie zerstört worden sei; ferner habe er in Erfahrung bringen können, dass die Taliban seinen jüngeren Bruder verschleppt hätten. Während seines Aufenthaltes in Deutschland habe er erfahren, dass die Taliban zwischenzeitlich seinen jüngeren Bruder und seinen Vater getötet hätten, weil sie seiner eigenen Person nicht hätten habhaft werden können. Diese Aussagen des Klägers sind in sich schlüssig und frei von auffälligen Widersprüchen. Dem Senat drängen sich auf der Grundlage des persönlichen Eindrucks, den er von dem Kläger in den beiden durchgeführten Verhandlungsterminen gewonnen hat, auch keine Zweifel an seiner persönlichen Glaubwürdigkeit auf.

Darüber hinaus ist das vom Kläger geschilderte Verfolgungsschicksal im Wesentlichen von der Zeugin E. bestätigt worden. Die Zeugin, die selbst aus Afghanistan stammt, hat vor dem Senat ausgesagt, dass ihr der Kläger aufgrund ihrer Tätigkeit in einem Hannoveraner Flüchtlingsbüro bekannt sei und sie Ende Mai/Anfang Juni 2014 nach Afghanistan gereist sei, um bei dieser Gelegenheit Recherchen zum Flüchtlingsschicksal des Klägers anzustellen. Sie konnte gemäß ihrer Aussage aufgrund der Vermittlung von in Afghanistan lebenden Verwandten mit dem Leiter der lokalen unabhängigen Wahlkommission in Jalalabad, Herrn F., sprechen. Dieser habe für sie eine Reise in das Heimatdorf des Klägers und ein Gespräch mit dem Dorfältesten vermittelt; er habe ihr für die Fahrt in das Dorf auch ein Fahrzeug, einen Fahrer sowie eine weitere Person zu ihrem Schutz zur Verfügung gestellt. Im Heimatdorf des Klägers habe der Dorfälteste ihr bestätigt, dass der Bruder und der Vater des Klägers getötet worden seien und das Haus der Familie zerstört sei. Außerdem habe sich Herr F. Informationen über das Schicksal des Klägers beschafft und ihr bei einem weiteren Gespräch mitgeteilt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr "Schlimmes" passieren könne; die Dörfer in seiner Heimatregion befänden sich in den Händen des mit den Taliban verbundenen Haqqani-Netzwerkes. Für den Senat haben sich im Rahmen der Zeugenvernehmung keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieser Aussagen ergeben, zumal die Zeugin dem Senat sehr anschaulich und detailreich über ihre Erlebnisse und Eindrücke berichtet hat.

Zweifel an der Glaubhaftigkeit des vom Kläger geschilderten und von der Zeugin bestätigten Verfolgungsschicksals ergeben sich auch nicht aus den Erkenntnismitteln, die dem Senat vorliegen:

Das gilt zunächst für die Behauptung des Klägers, dass zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Afghanistan sein Heimatdorf von den Taliban beherrscht gewesen sei. Das Dorf, das gemäß den Angaben des Klägers im Asylverfahren "ganz abgelegen" liegt und nach der Aussage der Zeugin E. aufgrund der schlechten Beschaffenheit der Straßen schwer zu erreichen ist, gehört zum Distrikt Jalalabad der Provinz Nangarhar. Diese östlich von Kabul gelegene Provinz ist Teil des Gürtels der südlichen, südöstlichen und östlichen Regionen Afghanistans entlang der Grenze zu Pakistan, für den die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel für den Zeitraum etwa ab 2006/2007 bis zur Einreise des Klägers in die Bundesrepublik Deutschland im Mai 2009 übereinstimmend von einer Zunahme der gewaltsamen Übergriffe der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte berichten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebricht vom 28.10.2009, S. 6, 16; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, 11.8.2010, S. 9; UNHCR an Bay. VGH vom 30.11.2009, S. 2). Konkret zur Sicherheitslage in der Provinz Nangarhar heißt es in einem gemeinsamen Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, des Bundesasylamtes der Republik Österreich und des Bundesamtes für Migration der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Sicherheitslage in Afghanistan - Vergleich zweier afghanischer Provinzen (Ghazni und Nangarhar) - und den pakistanischen Stammesgebieten, März 2011), dass dort u. a. die Taliban, das Haqqani-Netzwerk, die Al Qaida sowie die Hezb-e Islami aktiv seien. Die aufständischen Kräfte hätten für die Provinz und die einzelnen Distrikte ihre eigenen Schattengouverneure bestimmt. Die Sicherheitslage sei zwiespältig und habe sich verschlechtert. Im städtischen Kerngebiet und entlang der Khyber-Route hätten die Sicherheitskräfte die Lage weitgehend unter Kontrolle, um das Kerngebiet herum habe sich die Präsenz von aufständischen Kräften jedoch verstärkt.

Zweifel an der Glaubhaftigkeit ergeben sich auch nicht hinsichtlich der Behauptung des Klägers, er sei von den Taliban bedroht worden, weil er sich von ihnen nicht habe rekrutieren lassen. Im aktuellen Lagebericht des Auswärtige Amtes heißt es in Übereinstimmung mit den vorangegangenen Lageberichten, dass in Afghanistan Zwangsrekrutierungen durch Milizen, Warlords oder kriminelle Banden nicht auszuschließen seien; konkrete Fälle kämen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihre Familien kaum an die Öffentlichkeit (Lagebericht vom 4.6.2013, S. 11). Dr. Danesch berichtet in dem im vorliegenden Verfahren erstellten Sachverständigengutachten, dass die Taliban nicht nur in ihrer Regierungszeit bis zu ihrem Sturz 2001 einen großen Teil ihrer Krieger für ihren Kampf gegen die Nordallianz zwangsrekrutiert hätten, sondern diese Rekrutierungsmethoden auch nach ihrem Sturz 2001 und dem anschließenden Rückzug fortsetzen würden. Überall, wo sie heute Einfluss ausübten, insbesondere in ländlichen Gebieten und Dörfern und vor allem in den paschtunischen Gebieten im Süden und Osten, würden sie die Praxis der Zwangsrekrutierung fortsetzen (vgl. S. 1 f. des Sachverständigengutachtens; vgl. auch Dr. Danesch an den Hess. VGH vom 3.9.2013, S. 1). Unterschiedliche Aussagen zur Zwangsrekrutierungspraxis der Taliban finden sich in einer Zusammenfassung mehrerer Erkenntnismittel durch ACCORD (Afghanistan: Zwangsrekrutierung von erwachsenen Männern durch die Taliban, 8. Februar 2012). Dort wird aus einem Bericht der Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) zitiert, wonach die Taliban Zwangsrekrutierungen nur in Flüchtlingslagern durchführen würden. Ferner wird ein Bericht des norwegischen Herkunftsländerinformationssystems "Landinfo" erwähnt, wonach in Interviews mit Dorfältesten und anderen Teilen der Bevölkerung, die in mehreren Gebieten Afghanistans im Jahr 2011 durchgeführt worden seien, niemand Zwangsrekrutierung als Problem erwähnt habe. Andererseits zitiert ACCORD auch einen Bericht des UNHCR, wonach es in den Gebieten Jawzjan, Balkh und Sare Pul zu Zwangsrekrutierungen von Männern zwischen 18 und 40 Jahren durch "regierungsfeindliche Elemente" gekommen sei. Das European Asylum Support Office (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan - Rekrutierungsstrategien der Taliban - Juli 2012) berichtet, aus aktuellen Quellen (2010 bis 2012) gehe hervor, dass in der Provinz Helmand Rekrutierungen unter unmittelbarem Druck durchgeführt worden seien. Ferner lägen auch aus Kunduz, Kunar und Gebieten in Pakistan Berichte vor, wonach die Menschen Furcht vor Vergeltung hätten, wenn sie sich der Rekrutierung widersetzten. Zwei Quellen würden auf den Einsatz von Zwang oder Einschüchterung zu Rekrutierungszwecken in Urusgan verweisen. Hingegen würde in anderen Quellen darauf hingewiesen, dass in den Provinzen Ghazni, Herat und Logar bei der Rekrutierung weder Gewalt noch Zwang ausgeübt worden seien. Aus den Quellen gehe in vielen Fällen hervor, dass Zwangsrekrutierungen selten vorkämen. Bisweilen werde auf Bereiche verwiesen, in denen dies anders sei: Flüchtlingscamps und Regionen, in denen der Einfluss der Taliban ausgeprägt sei (EASO, a. a. O., S. 29 bis 31). Aus alledem entnimmt der Senat, dass zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus Afghanistan die Gefahr, von den Taliban zwangsrekrutiert zu werden, nicht in sämtlichen Landesteilen Afghanistans in gleicher Weise gegeben war, aber jedenfalls in Herrschaftsgebieten der Taliban, wie sie auch in Teilen der Provinz Nangarhar zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus Afghanistan bestanden haben, vorhanden war. In welcher Häufung dort Zwangsrekrutierungen vorgekommen sind, ist für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des vom Kläger geschilderten individuellen Verfolgungsschicksals unerheblich.

Zweifel an der Glaubhaftigkeit des vom Kläger geschilderten Verfolgungsschicksals bestehen schließlich auch nicht in Bezug auf seine Behauptung, dass die Taliban, weil sie seiner nach der versuchten Zwangsrekrutierung nicht hätten habhaft werden können, anstelle dessen seinen Vater und seinen jüngeren Bruder ermordet hätten. Denn nach der afghanischen Mentalität und Tradition ist mit der Vergeltung strafwürdigen Verhaltens auch das Prinzip der Sippenhaft verbunden, das gebietet, (Blut-)Rache gegebenenfalls auch an den Familienangehörigen des "Missetäters" zu üben (vgl. Dr. Danesch an den Hess. VGH vom 03.12.2008, S. 6).

c) Der Kläger muss mit einer Wahrscheinlichkeit, die dem auf das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK anzuwendenden Prognosemaßstab genügt, damit rechnen, am zur Zeit einzig in Frage kommenden Abschiebungszielort Kabul von den Taliban entdeckt und infolge dessen den oben (unter a) geschilderten menschenrechtswidrigen Bestrafungsmethoden unterzogen zu werden.

Im Hinblick auf die anzustellende Gefahrenprognose besteht Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK dann, wenn begründete Tatsachen dafür sprechen, dass der Betroffene nach seiner Rückführung in den Abschiebungszielstaat dem tatsächlichen Risiko (real risk) von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen ist (vgl. EGMR, Urteil vom 7.7.1989 - 1/1989/161/217 - NJW 1990, 2183, Ziff. 91; Urteil vom 30.10.1991 - 45/1990/236/302-306 - NVwZ 1992, 869). Dies entspricht im Ansatz dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wobei das Verfolgungsrisiko allerdings dadurch gekennzeichnet sein muss, dass gerade dem jeweiligen Kläger individuell die konkrete Gefahr einer geplant und vorsätzlich gegen seine Person gerichteten unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.6.1996 - 9 C 134.95 - NVwZ 1996, Beilage Nr. 12, 89, Rdnr. 6 f. in [...]). Das bedeutet allerdings nicht, dass die Gewährung von Abschiebungsschutz in dem vorliegenden Fall dann ausscheiden würde, wenn sich in Afghanistan derzeit eine Vielzahl von Männern im wehrfähigen Alter in der vom Kläger geltend gemachten Gefahrensituation einer drohenden Bestrafung durch die Taliban befinden sollten. Eine dem § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechende Einschränkung des Abschiebungsschutzes für Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, enthält § 60 Abs. 5 AufenthG gerade nicht (vgl. zur wortgleichen Vorgängerregelung zu § 60 Abs. 5 AufenthG in § 53 Abs. 4 AuslG 1990: BVerwG, a. a. O.). Geht es - wie hier bei der drohenden Bestrafung durch die Taliban - um eine Gefahr, die nicht von Vertretern des Abschiebungszielstaates ausgeht, muss im Rahmen der Gefahrenprognose auch festgestellt werden, dass die Behörden des Bestimmungslandes nicht in der Lage sind, die Gefahr durch angemessenen Schutz zu beseitigen (vgl. EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 - NVwZ 2012, 681, Ziff. 213).

Im Rahmen der Beweiserhebung, die vom Senat zur Einschätzung der dem Kläger bei einer Rückführung nach Kabul drohenden Verfolgungsgefahr durchgeführt worden ist, haben das Auswärtige Amt und Amnesty International jeweils mitgeteilt, dass sie zur Bewertung des Risikos, dass eine Person wie der Kläger in Kabul von den Taliban aufgespürt wird, nicht über hinreichende Informationen verfügen würden. Allerdings hat das Auswärtige Amt in seiner amtlichen Auskunft vom 3. September 2013 zumindest bestätigt, dass in der Stadt Kabul Netzwerke der Taliban bestehen und die Taliban auch über die Möglichkeit verfügten, Nachforschungen zum Verbleib von Personen anzustellen, die sich in ihrer Heimatregion einer Zwangsrekrutierung entzogen hätten; dies sei auch in Einzelfällen bereits vorgekommen. Es lägen jedoch keine Erkenntnisse vor, dass diese Nachforschungen gezielt und flächendeckend angestellt würden. Amnesty International hat sich zumindest dahingehend geäußert, es könne sicher nicht ausgeschlossen werden, dass eine Person, die sich einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban verweigert habe, nach der Abschiebung Opfer einer Racheaktion der Taliban werde, da die Taliban teils sehr gut vernetzt seien; hinzu komme, dass der Kläger nicht weit von Kabul gelebt habe.

Ausführlich geäußert zu den Beweisfragen des Senats hat sich der Sachverständige Dr. Danesch. In seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 30. April 2013 heißt es, dass es für die Taliban ein Leichtes sei, aus den umliegenden Provinzen unkontrolliert in die Hauptstadt Kabul einzusickern. Täglich seien Tausende von Paschtunen in traditioneller Tracht in die Hauptstadt unterwegs, und weder die afghanische Polizei noch die Armeekräfte ausländischer Truppen seien in der Lage, diese massenhaften Bewegungen zu kontrollieren, um etwa Taliban festzusetzen. Er sei aufgrund von Recherchen, die er selbst vor Ort angestellt sowie durch Informanten habe durchführen lassen, zu der Überzeugung gelangt, dass die Taliban sogar in Kabul selbst konzentrierte militärische Basen und auch Informationszentren aufgebaut hätten, um ihre militärischen Aktionen in der Hauptstadt zu koordinieren. Ihm seien mehrere Fälle von Asylbewerbern sowie von Binnenflüchtlingen bekannt, die von den Taliban zwangsrekrutiert werden sollten. Sie seien nach ihrer Abschiebung bzw. Flucht nach Kabul dort von den Taliban erneut bedroht worden und seien deshalb wieder landesintern oder nach Europa geflüchtet. Seine Informanten in Afghanistan würden berichten, dass es häufig zu Fällen komme, in denen junge Männer getötet würden oder einfach verschwänden und Gerüchte wissen wollten, dass es sich um Racheakte der Taliban handele. Auch die Kabuler Kriminalpolizei habe seinen Informanten bestätigt, dass Racheaktionen der Taliban nicht selten seien. Konkret könne er die Frage nach der Häufigkeit solcher Racheaktionen aber nicht beantworten. Er könne auch die Frage nicht beantworten, ob die Taliban ihre Netzwerke in Kabul gezielt dazu nutzen würden, um nach Personen zu suchen, die sich einer Zwangsrekrutierung entzogen hätten. Er müsse jedoch aufgrund der ihm bekannt gewordenen Fälle davon ausgehen, dass die Taliban mindestens in der Lage seien, viele der Personen, die eine Zwangsrekrutierung abgelehnt hätten, zu finden. Eine Person, die - wie der Kläger - aus einer Region im näheren Umkreis von Kabul stamme und einem paschtunischen Stamm angehöre, sei in Kabul für die Taliban leichter zu identifizieren als jemand, der aus einem nicht-paschtunischen Volk stamme. Für einen Mann aus einem Dorf in der Provinz Nangarhar bestehe eine größere Gefahr, in Kabul entdeckt zu werden, da aus dieser Region viele Menschen nach Kabul ziehen und den Taliban auch Informationen liefern würden. Nach seiner Überzeugung würden sich hunderte Taliban-Krieger gerade aus der Provinz Nangarhar in Kabul aufhalten, die durch Zufall oder auch gezielt Personen wie den Kläger aufspüren und identifizieren könnten. Aufgrund der starken Präsenz von Taliban aus seiner Heimatregion sei die Gefahr also groß, dass eine Person wie der Kläger erkannt und identifiziert werden könne, ohne dass man dies exakt in Prozenten beziffern könnte.

Auf der Grundlage dieser Beweiserhebung vermag der Senat es zwar nicht als gesichert anzusehen, dass die Taliban mit ihren in Kabul vorhandenen Netzwerken gezielt nach dem Verbleib von Personen - wie dem Kläger - forschen, die sich einer Zwangsrekrutierung verweigert haben. Aufgrund der Einschätzung des Gutachters Dr. Danesch, dass sich in Kabul hunderte Taliban aus der Heimatregion des Klägers aufhalten, geht der Senat aber davon aus, dass für den Kläger zumindest das tatsächliche Risiko besteht, durch Zufall in Kabul von den Taliban entdeckt und identifiziert zu werden. Zu einer anderen Bewertung der Gefahrenprognose sieht der Senat sich auch nicht dadurch veranlasst, dass die Stadt Kabul nach Schätzungen ca. 3,5 bis 4 Millionen Einwohner hat und der Kläger somit möglicherweise in der Anonymität dieser Großstadt "untertauchen" und sich vor den Taliban versteckt halten könnte. Zum einen ist der Kläger mittellos und damit nicht frei in seiner Entscheidung, wo er sich in Kabul aufhalten und insbesondere wohnen wird, zumal in den afghanischen Städten wie Kabul die Versorgung mit Wohnraum zu einem angemessenen Preis schwierig ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10.01.2012, S. 27). Der Senat muss daher davon ausgehen, dass der Kläger bei einem Verbleib in Kabul voraussichtlich zunächst keine Alternative dazu haben wird, in einem der Flüchtlingslager, die rund um Kabul entstanden sind, unterzukommen. Diese sind von überschaubarer Größe als die Gesamtstadt Kabul, auch wenn die offizielle Angabe, dass dort etwa 35.000 Menschen leben, angezweifelt wird (vgl. Dr. Danesch an den Hess. VGH vom 3.9.2013, S. 6). Hinzu kommt, dass der Kläger darauf angewiesen sein wird, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeitskraft zu bestreiten. In Afghanistan liegt die soziale Absicherung traditionell bei den Familien und Stammesverbänden; insbesondere ist die Fürsprache eines Familien-, Stammes- oder Clanzugehörigen häufig eine wichtige Voraussetzung für die Vermittlung eines Arbeitsplatzes (UNHCR an das OVG Reinl.-Pfalz vom 11.11.2011, S. 11; Dr. Lutze an das OVG Rheinl.-Pfalz vom 08.06.2011 zu 6 A 11048/10.OVG, S. 11). Das bedeutet, dass der Kläger, der nach seinen Angaben über keine besondere berufliche Qualifikation verfügt und in Afghanistan vor seiner Ausreise als Bauarbeiter tätig war, voraussichtlich darauf angewiesen sein wird, Kontakt mit Stammesangehörigen aus seiner Heimatregion zu suchen, um eine Erwerbsmöglichkeit zu finden. Hierdurch steigt jedoch für ihn auch das Risiko, dass sich seine Rückkehr nach Kabul zu den Taliban, die aus seiner Heimatregion stammen, "herumspricht" und er dadurch entdeckt wird. Schließlich hat der Senat bei der Bewertung der Gefahrenprognose auch zu berücksichtigen, dass dem Kläger bei einer Entdeckung durch die Taliban der Tod droht. Der bei der Prüfung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK anzuwendende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist nicht schematisch zu prüfen, sondern muss in Abhängigkeit von der Schwere der drohenden Rechtsgutsverletzung variiert werden: Je schwerwiegender diese ist, desto geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen (vgl. Zimmermann, in: EMRK/GG - Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kapitel 27 Rdnr. 52 m. w. Nachw.). Im hier gegebenen Fall einer drohenden Tötung bedarf es daher eines geringeren Schadensrisikos als bei weniger schwerwiegenden Misshandlungen, damit der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK durchgreift.

Der Kläger kann vor der Gefahr, in Kabul von den Taliban entdeckt und getötet zu werden, auch nicht in angemessener Weise durch die afghanischen Sicherheitsbehörden geschützt werden. Dem Senat ist aus einer Vielzahl von Erkenntnismitteln bekannt, dass die Taliban aufgrund ihrer Netzwerke in Kabul kontinuierlich dazu in der Lage sind, in dieser Stadt öffentlichkeitswirksame Anschläge mit Todesopfern und Verletzten zu verüben (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4.6.2013, S. 14; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, 30.9.2013, S. 11; Dr. Danesch an den Hess. VGH vom 3.9.2013, S. 4 f.). So ist der Dokumentation "Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul" von ACCORD vom 23. Mai 2014 zu entnehmen, dass die Taliban im Zeitraum zwischen Januar 2013 bis Mai 2014 in jedem Monat einen oder mehrere Anschläge in Kabul verübt haben, von denen die meisten Todesopfer und Verletzte gefordert haben. Im Hinblick darauf, dass die afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte in Kabul nicht in der Lage sind, derartige Anschläge zu unterbinden, vermag der Senat nicht davon auszugehen, dass sie einen gewöhnlichen einzelnen Mann wie den Kläger, der nicht damit rechnen kann, besonderen Personenschutz zu erhalten, vor einem Mordanschlag durch die Taliban schützen können. Zudem sprechen gegen die Fähigkeit der afghanischen Sicherheitsbehörden, Personen aus der Zivilbevölkerung in angemessener Weise vor Anschlägen der Taliban zu schützen, auch Berichte, wonach die Angehörigen der Afghanischen Nationalen Polizei (ANP) schlecht ausgebildet und ausgerüstet sind, häufiger desertieren als Angehörige der afghanischen Armee, häufig in lokale Partei- sowie ethnische Streitigkeiten verwickelt sind, als korrupt gelten und bei der afghanischen Bevölkerung kaum über Vertrauen verfügen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, a. a. O., S. 8 m. Nachw. zu weiteren Erkenntnismitteln).

d) Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, dem für ihn am Abschiebungszielort Kabul bestehenden Verfolgungsrisiko dadurch auszuweichen, dass er in einem anderen Landesteil Afghanistans internen Schutz sucht.

Das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK ist nur dann zu bejahen, wenn die Verfolgungsgefahr im Abschiebungszielstaat landesweit besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12, Rdnr. 26, 38). Ebenso wie beim Asylgrundrecht besteht für den betroffenen Ausländer auch im Rahmen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK dann eine inländische Fluchtalternative, wenn - erstens - der landesinterne Schutzort für ihn vom Abschiebungszielort aus tatsächlich erreichbar ist, - zweitens - die ihm am Abschiebungszielort drohende Verfolgungsgefahr am internen Fluchtort nicht besteht und er - drittens - am Fluchtort nicht sonstigen existenziellen Gefährdungen ausgesetzt ist; insbesondere muss er sein wirtschaftliches Existenzminimum am Fluchtort sichern können (vgl. dazu: Bergmann, in: Renner u. a., 10. Aufl. 2013, Art. 16a GG Rdnr. 66 ff. m. w. Nachw.). Jedenfalls an der zweiten und dritten Voraussetzung fehlt es hier.

aa) Der Kläger ist auch in anderen Landesteilen Afghanistans von einer Entdeckung und Tötung durch die Taliban bedroht. In Betracht kommt für den Kläger, der seine wirtschaftliche Existenz in Afghanistan durch eigene Arbeit wird sichern müssen (näher dazu unter bb), ohnehin nur die Flucht in eine größere Stadt, in der zumindest ein gewisses Reservoire an Arbeitsplätzen vorhanden ist, etwa nach Herat im Westen oder Mazar-e-Sharif im Norden des Landes. Der Senat geht davon aus, dass auch in diesen und anderen Städten Afghanistans Netzwerke der Taliban bestehen, auch wenn die Orte nicht im Hauptgebiet der bewaffneten Anschläge und Angriffe der Taliban, das sich über den Süden, Südosten und Osten des Landes erstreckt, gelegen sind. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe, dass die Taliban auch in Gebieten, welche unter der Kontrolle der afghanischen und internationalen Streitkräfte stehen, über Drohbriefe, Einschüchterung, Familien- und Stammesnetzwerke oder Imame Einfluss ausüben und dass auch im Norden und Westen des Landes die Anschläge regierungsfeindlicher Gruppierungen zugenommen haben (Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, 30.9.2013, S. 6 f., 10 f.). Auch ACCORD (Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 23.5.2014) berichtet, dass sich der Einfluss der Taliban auf die bisher friedlicheren Regionen im Norden und Westen Afghanistans vergrößert hat. Der Senat geht ferner davon aus, dass der Kläger bei einer Ankunft etwa in den Städten Herat oder Mazar-e-Sharif den dort agierenden Angehörigen der Taliban-Bewegung als ortsfremder, aus Südostafghanistan stammender Paschtune und aufgrund seines nach über fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland verwestlichten Äußeren schnell auffallen würde. Wie die Zeugin E. dem Senat in ihrer Aussage bestätigt hat, sind Internet und Handy in Afghanistan überall verfügbar, und viele Menschen haben ein Smartphone. Das bedeutet, dass die lokalen Netzwerke der Taliban, sobald der Kläger an einem internen Fluchtort in ihr Blickfeld gerät, ohne größere Schwierigkeiten mit Hilfe von elektronischen Kommunikationsmedien Kontakt mit Taliban aus seiner Heimatregion aufnehmen und sich auf diesem Wege Informationen darüber beschaffen können, dass der Kläger sich in seiner Heimat einer Zwangsrekrutierung entzogen hat.

bb) Unabhängig davon ist der Kläger auch deshalb nicht auf internen Schutz in einem anderen Landesteil Afghanistans zu verweisen, weil er außerhalb Kabuls voraussichtlich sein wirtschaftliches Existenzminimum nicht sichern kann.

Ein landesinterner Schutzort bietet dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum grundsätzlich immer dann, wenn er durch eigene Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das ist nicht der Fall, wenn der Ausländer am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führt, oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums" (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.7.2002 - 1 B 128.02 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 326; Beschluss vom 21.5.2003 - 1 B 298.02, 1 PKH 72.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270).

Bei Anwendung dieses Maßstabes ist in dem hier zu entscheidenden Einzelfall das wirtschaftliche Existenzminimum des Klägers bei einer Verweisung auf eine inländische Fluchtalternative außerhalb Kabuls nicht gesichert. Der Senat stützt sich dabei auf die folgenden Erkenntnismittel, die die wirtschaftliche und soziale Lage in Afghanistan sowie die Situation auf dem dortigen Arbeitsmarkt wiedergeben:

Das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 4.6.2013, S. 17 f.) berichtet, dass Afghanistan trotz erheblicher und anhaltender Anstrengungen laut dem Human Development Index von UNDP im Jahr 2011 unter 187 ausgewerteten Ländern nur den 172. Rang belegt habe. Der Entwicklungsbedarf sei weiterhin beträchtlich: Rund 36 % der Bevölkerung lebten unterhalb der Armutsgrenze. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte fehle es an vielen Orten an grundlegender Infrastruktur für Transport, Energie und Trinkwasser. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere besondere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Die Möglichkeiten des afghanischen Staates, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, gerieten dadurch zusätzlich unter Druck. Die afghanische Wirtschaft sei zwar in den vergangenen Jahren aufgrund der internationalen Präsenz ständig gewachsen, unterliege aber derzeit besonderen Herausforderungen, insbesondere weil in letzter Zeit die Währungen der Nachbarstaaten drastisch abgewertet worden seien. Die dort somit niedrigeren Arbeitskosten sowie die qualitativ besseren Produktionsstätten bedeuteten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der afghanischen Wirtschaft. Die Situation am Arbeitsmarkt stelle Afghanistan vor besondere wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Künftig würden pro Jahr 400.000 Afghanen auf den Arbeitsmarkt kommen, wobei Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan noch nicht eingerechnet seien. Es fehle an einer politischen Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen, die z. B. auch das Phänomen berücksichtige, dass zunehmend Arbeiter aus Bangladesch, Iran und Pakistan nach Afghanistan kämen, da hier höhere Gehälter gezahlt würden. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Dies gelte für Rückkehrer naturgemäß in besonderem Maße. Eine hohe Arbeitslosigkeit werde verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch. Das gelte auch für den Norden, der eigentlich die "Kornkammer" des Landes sei.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, 30.9.2013, S. 20) berichtet, dass Afghanistan weiterhin eines der ärmsten Länder weltweit sei. Die über drei Jahrzehnte andauernden gewaltsamen Konflikte hätten eine äußerst verletzliche Bevölkerung zurückgelassen, die sich aufgrund der anhaltenden Gewalt weiterhin mit Zerstörung, Flucht, fehlender Lebensmittelsicherheit, der Verbreitung einst ausgerotteter Krankheiten, Menschenrechtsverletzungen sowie einer zunehmenden Kriminalitätsrate konfrontiert sehe. Den zahlreichen Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Fluten oder Lawinen, stehe die geschwächte Bevölkerung relativ hilflos gegenüber, da sie kaum oder auf keine Hilfe seitens der Regierung zurückgreifen könne. Gemäß dem Human Development Index 2013 seien im Jahr 2012 80,3 % der Männer berufstätig gewesen. Die Zahl der Unterbeschäftigten sei jedoch hoch. Die Landwirtschaft bleibe für die Mehrheit der Bevölkerung die wichtigste Einkommensquelle. 34 % der Bevölkerung leide an Lebensmittelunsicherheit und 43 % hätten keinen gesicherten Zugang zu Trinkwasser. Im Winter 2012/13 seien über 2 Millionen Menschen durch Unterernährung, Krankheit und Kälte gefährdet gewesen.

Bezogen auf die Erwerbsmöglichkeiten und die soziale Lage von arbeitsfähigen männlichen Rückkehrern ohne Ausbildung und Fremdsprachenkenntnisse, die in Kabul nicht mit der Hilfe von Verwandten oder Bekannten bei der Wiedereingliederung rechnen können, hat das Auswärtige Amt die Auskunft gegeben (an das OVG Rheinland-Pfalz vom 1.11.2011, S. 2 f. - Bl. 134 ff. GA), dass traditionell die Familienstruktur die Basis sei, auf die sich Rückkehrer verlassen könnten. Sei diese nicht vorhanden, existierten kaum weitere soziale Auffangmechanismen. Es bestehe die Möglichkeit, als Tagelöhner mit Aushilfsjobs, z. B. in der Baubranche, ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Unkenntnis der Lebensumstände in Afghanistan erschwere diese Erwerbsmöglichkeit erheblich. Außerdem sei aufgrund der sehr hohen Arbeitslosigkeit nicht gewährleistet, dass solche Gelegenheitsjobs regelmäßig und dauerhaft angeboten würden. Es sei zumindest nicht auszuschließen, dass sich die genannte Personengruppe ausschließlich von Tee und Brot ernähren müsse; es bestehe auch die Möglichkeit, dass das eventuell Erwirtschaftete nicht einmal für Tee und Brot ausreiche. Junge Männer, die sich in solch einer hilflosen Situation befänden, liefen zudem Gefahr, von kriminellen Kreisen ausgenutzt zu werden, z. B., indem sie verstümmelt und als Bettler eingesetzt würden.

Auch der UNHCR (an das OVG Reinl.-Pfalz vom 11.11.2011, S. 11; an den Bay. VGH vom 30.11.2009, S. 4, 6 f.) berichtet, dass in der afghanischen Gesellschaft weiterhin der erweiterte Familien- und Bekanntenkreis das soziale Sicherheitsnetz des Einzelnen darstelle. Von diesen Strukturen und Verbindungen hänge nicht nur die persönliche Sicherheit, sondern auch das wirtschaftliche Überleben des Einzelnen einschließlich des Zugangs zu einer Unterkunft und zu einem angemessenen Lebensunterhalt ab. Nicht zuletzt bei der Jobsuche und -vermittlung spielten die Beziehungen des Verwandten- und Bekanntenkreises eine ausschlaggebende Rolle. Folglich könne für einen Rückkehrer die Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts an einem Ort, an dem keine familiären sozialen Bindungen bestehen, unmöglich sein. Auch sei Arbeitslosigkeit in Afghanistan weit verbreitet. Dies führe dazu, dass für einen großen Teil der Bevölkerung der notwendige Lebensunterhalt nicht mehr gewährleistet sei. Personen aus ländlichen Gegenden ohne besondere berufliche Qualifikationen hätten oftmals große Schwierigkeiten, an einem anderen Ort eine Existenz aufzubauen, u. a. wegen fehlendem Vermögen, einem nicht vorhandenen sozialen Netzwerk und gegebenenfalls sogar Kommunikationsschwierigkeiten aufgrund mangelnder sprachlicher Fähigkeiten oder eines bestimmten Dialekts.

Dr. Danesch (an den Hess. VGH vom 07.10.2010, S. 8 f.) geht davon aus, dass die Lebensverhältnisse in Afghanistan zwischenzeitlich so dramatisch seien, dass ein alleinstehender Rückkehrer keinerlei Aussicht habe, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu verschaffen. Am ehesten fänden noch junge, kräftige Männer - häufig als Tagelöhner - einfache Jobs, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt sei. In diesen Sektor - meist im Baugewerbe - ströme massiv die große Zahl junger Analphabeten. Ein etwa 40jähriger Mann gelte nach afghanischen Maßstäben bereits als alter Mann und habe daher keine Chance auf einen dieser wenigen Arbeitsplätze. Soweit er vor seiner Abschiebung über einen Zeitraum von acht Jahren im Westen gelebt habe, werde dies zusätzlich auch durch sein verwestlichtes Äußeres bedingt sein.

Dr. Lutze (an das OVG Rheinl.-Pfalz vom 8.6.2011 zu 6 A 11048/10.OVG und 6 A 11050/10.OVG) berichtet, dass es in Afghanistan für jegliche Art von qualifiziertem Personal ein umfangreiches Stellenangebot gebe, das durch das vorhandene Potential der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten aber nicht gedeckt werden könne, da diese nicht über die nachgefragten Qualifikationen verfügten und eine Nachqualifizierung aufgrund des zu niedrigen Grundbildungsstandards kaum möglich sei. Derzeit erwirtschafteten rund 80 % aller erwerbsfähigen Afghanen ihr Einkommen in der Landwirtschaft, nur 6 % im industriellen sowie 14 % im Dienstleistungsbereich. Langfristige, dauerhafte Anstellungsverhältnisse kämen kaum vor, reguläre Arbeitsverträge mit Kündigungsfristen in der Privatwirtschaft seien kaum üblich; bei Aushilfsjobs würden in der Regel Vertragsbedingungen per Handschlag vereinbart. Es sei demzufolge davon auszugehen, dass für einen nicht oder gering qualifizierten Rückkehrer geringe Chancen für eine dauerhafte Beschäftigung mit geregeltem Einkommen bestünden. Bei Aushilfsjobs sei mit einer großen Konkurrenz an Bewerbern zu rechnen. Ein Verbleib in Kabul werde von Rückkehrern häufig bevorzugt, da dort die wirtschaftliche Entwicklung augenscheinlicher sei und mehr Bewegungsmöglichkeiten für die Jobsuche geboten seien. In Kabul seien weiterhin die wesentlichen Bauaktivitäten zu verzeichnen, und zugleich sei es der Hauptsitz für internationale Organisationen und staatliche Institutionen. Dies schaffe ein wesentlich breiteres Spektrum an Beschäftigungsmöglichkeiten, aber die Konkurrenzsituation gerade zwischen Hilfskräften sei auch groß. Für einfache sog. Tagelöhnerjobs sei die körperliche Konstitution (z. B. bei Bauarbeiten), bei anderen handwerklichen Tätigkeiten sei das Vorhandensein von eigenem Werkzeug in der Regel ausschlaggebend für den Arbeitgeber. Bei längerfristig angelegten, auch einfachen Tätigkeiten sei eine Vermittlung über einen Stammes- oder Clanzugehörigen häufig eine wichtige Voraussetzung. Von rund 3.000 Rückkehrerfällen in den vergangenen fast 10 Jahren seien ihr keine Fälle bekannt geworden, in denen Menschen aufgrund von Hunger oder Unterernährung verstorben seien. Die Überlebens- und Versorgungschancen bei chronischen Krankheiten seien weiterhin schlecht. Szenarien, die besagten, dass Deutschland-Rückkehrer mehrere Monate ausschließlich von Brot und Tee lebten, seien von keinem lokalen Mitarbeiter bestätigt worden. Migranten, denen es gelungen sei, schwierige Wege und Situationen bis nach Europa zu meistern, gehörten zum mobileren Teil der afghanischen Bevölkerung und würden es erfahrungsgemäß schaffen, ihre Beziehungen so zu gestalten, dass sie ihr Überleben sichern könnten. Im afghanischen Kontext zählten soziale Kompetenzen wie Kommunikations- und Durchsetzungsfähigkeit weit mehr, um die Überlebensfähigkeit zu sichern, als eine formale Ausbildung.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnismittel vermag der Senat nicht davon auszugehen, dass der Kläger außerhalb Kabuls durch eigene Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Er kann nach seinen Angaben zwar in seiner Heimatsprache Paschtu lesen und schreiben, verfügt aber nicht über eine darüber hinaus gehende Berufsausbildung und hat vor seiner Ausreise aus seinem Heimatland dort auf dem Bau gearbeitet. Er wird daher darauf angewiesen sein, seinen Lebensunterhalt nach einer Rückkehr nach Afghanistan wieder als Bauarbeiter oder mit einer anderen körperlichen Arbeit als Tagelöhner zu bestreiten. Gemäß seinen Auskünften hat er keine Angehörigen mehr, die noch in Afghanistan leben, abgesehen von seinem zwischenzeitlich in der Stadt Jalalabad lebenden betagten Onkel und dessen zwei Söhnen. Zu diesem Onkel sowie zu anderen Angehörigen seines Stammes kann der Kläger zur Aktivierung eines sozialen Netzwerks, das ihm Obdach bietet, bei der Bestreitung seines Lebensunterhalts unterstützt und bei der Suche nach einer Beschäftigung hilft, keinen Kontakt aufnehmen, weil er sich dadurch der Gefahr aussetzen würde, dass seine Rückkehr nach Afghanistan den Taliban aus seiner Heimatregion, die wissen, dass er sich einer Zwangsrekrutierung entzogen hat, bekannt wird. Das gilt umso mehr, als der Kläger dem Senat mitgeteilt hat, dass sich einer der Söhne seines Onkels zwischenzeitlich den Taliban angeschlossen habe. Verfolgungsbedingt müsste der Kläger den Arbeitsmarkt in Kabul, wo die wesentlichen Bauaktivitäten zu verzeichnen sind und sich das breiteste Spektrum an Beschäftigungsmöglichkeiten in Afghanistan bietet, meiden. Er wäre somit darauf angewiesen, sich anderenorts in Afghanistan - etwa in den Großstädten Herat oder Masar-e-Scharif - um eine Beschäftigung als Tagelöhner sowie um Nahrung und Unterkunft zu bemühen, ohne dabei auf die Unterstützung seiner Familie oder seines Stammes zurückgreifen zu können. Der etwa 30jährige Kläger gehört zwar zweifellos zum physisch robusteren und mobileren Teil der afghanischen Bevölkerung, zumal er im Asylverfahren angegeben hat, dass er die zehn Monate lange Reise von Afghanistan nach Deutschland unter sehr widrigen Bedingungen zurückgelegt hat. Er wird aber unter den Bedingungen des harten Wettbewerbs, der auf dem afghanischen Arbeitsmarkt um die durch körperliche Arbeit geprägten Tagelöhnerjobs, z. B. in der Baubranche, stattfindet, unter dem starken Konkurrenzdruck einer Vielzahl von jüngeren Mitbewerbern stehen, die aufgrund der Bevölkerungsstruktur in Afghanistan derzeit in sehr großer Zahl (ca. 400.000 Personen jährlich) auf den Arbeitsmarkt drängen. Der Senat geht nach alledem davon aus, dass der Kläger bei einer Rückführung nach Afghanistan und einem Aufenthalt außerhalb Kabuls auch längerfristig von einer sich extrem schwierig gestaltenden Arbeitssuche, Mangelernährung und prekären Wohnverhältnissen betroffen sein wird. Die Sicherung seines Lebensunterhalts wird sich für ihn insbesondere deshalb schwierig gestalten, weil er keinerlei familiäre Hilfe erwarten und zudem seine Herkunft nicht offenbaren kann, ohne in die Gefahr einer Entdeckung durch die Taliban zu geraten. Er muss bei einer Rückführung nach Afghanistan somit damit rechnen, am Rande des Existenzminimums "dahinzuvegetieren".

2. Da der Anspruch auf nationalen Abschiebungsschutz hier bereits aus § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK folgt, kann offen bleiben, ob auch die Anspruchsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben sind, wonach von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden soll, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Der Senat weist allerdings darauf hin, dass die tragende Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts, der gesunde und arbeitsfähige Kläger habe Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung, weil er bei einer Abschiebung nach Kabul als ungelernte Arbeitskraft ohne verwandtschaftliche oder geschäftliche Kontakte in dieser Stadt keine Chance auf Arbeit, Brot und Obdach habe, nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Senates und anderer Oberverwaltungsgerichte zur aktuellen Situation in Afghanistan steht. Danach begründet derzeit die schlechte soziale Lage in diesem Staat für volljährige gesunde arbeitsfähige Männer, auch wenn sie weder über eine Ausbildung noch über familiären Rückhalt am Abschiebungszielort Kabul verfügen, nicht einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung (vgl. Senatsbeschluss vom 03.07.2013 - 9 LA 128/13 -; Bay. VGH, Urteile vom 31.5.2011 - 13a B 11.30083 -, vom 15.3.2012 - 13a B 11.30439 - und vom 30.01.2014 - 13a B 13.30279 -; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 6.3.2012 - A 11 S 3177/11 - und vom 27.4.2012 - A 11 S 3079/11 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21.3.2012 - 8 A 11050/10 -; Sächs. OVG, Urteil vom 10.10.2013 - A 1 A 474/09 -; Hess. VGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A - sämtlich veröffentlicht in [...]). Diese Rechtsprechung sieht der Senat durch seine Auffassung, dass der Kläger unter anderem deshalb nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann, weil er außerhalb des Abschiebungszielortes Kabul voraussichtlich sein wirtschaftliches Existenzminimum nicht wird sichern können (siehe oben unter 1.d)bb)), auch nicht in Frage gestellt. Das gilt zum einen deshalb, weil das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung anhand eines strengeren Maßstabs zu prüfen ist als die Frage, ob am Ort einer inländischen Fluchtalternative das wirtschaftliche Existenzminimum des betroffenen Ausländers gesichert ist. Während ein von Verfolgung bedrohter Ausländer bereits dann nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann, wenn er am internen Schutzort nichts anderes zu erwarten hat als ein längerfristiges "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums", ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung erst dann zu gewähren, wenn der Ausländer mit der Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren (Hunger-)Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, wobei sich die Gefahr bereits alsbald nach seiner Rückkehr realisieren muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226, Rdnr. 12 ff.; Urteil vom 8.9.2011 - 10 C 14.10 - a. a. O., Rdnr. 20 ff.; Urteil vom 29.9.2011 - 10 C 24.10 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 41 = NVwZ 2012, 451). Zum anderen bezieht sich die Rechtsprechung des Senates und anderer Oberverwaltungsgerichte zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auf die wirtschaftliche Lage eines Rückkehrers in Kabul. Dem Kläger ist es aber nicht möglich, sich in Kabul aufzuhalten und dort Arbeit zu suchen, da er sich damit der Gefahr einer Entdeckung und Tötung durch die Taliban aussetzen würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.