Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 25.06.2018, Az.: 6 A 3984/17

Atheismus; Atheist; Irak; Kurdische Autonomieregion; Religion; Religiöse Verfolgung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.06.2018
Aktenzeichen
6 A 3984/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 73967
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid der Beklagten vom 28. April 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, sofern der Kläger nicht vor der Vollstreckung Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der am D. geborene Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- sowie ehemals sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angabe zufolge am 25. November 2015 aus dem Irak aus und am 17. Dezember 2015, u.a. über Griechenland kommend, auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag, den er später auf den Antrag auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes beschränkte.

In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 9. März 2017 gab er an, den Irak verlassen zu haben, da ihn seine Familie mit dem Tod bedroht habe, weil er Atheist geworden sei. Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte der Kläger, er habe bis zu seiner Ausreise in der Stadt Smud in der Region Sulaimaniyya mit seinen Eltern und seiner Schwester gelebt. Letzteren wohnten mittlerweile in Halabja. Im Irak lebten noch eine weitere Schwester, ein Bruder sowie Mitglieder seiner Großfamilie. Zwei seiner Brüder hielten sich mittlerweile dauerhaft in Deutschland auf. Zum seinem beruflichen Werdegang gab der Kläger an, er habe die Schule bis zur achten Klasse besucht und nach seinem Abschluss bis zum 10. Dezember 2013 im Einzelhandel in einem kleinen Laden gearbeitet. An diesem Tag habe er einen Autounfall erlitten und sei dann für fast ein Jahr bettlägerig gewesen. Von Januar bis November 2015 habe er in einer Betonsteinfabrik gearbeitet.

Zu den Gründen seiner Flucht schilderte der Kläger, er stamme aus einer sehr religiösen Familie; sein Vater sei Moscheesprecher. Er selbst habe viel im Koran gelesen und sei irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass alles, was der „Islamische Staat“ (IS) tue, so auch im Koran stehe. Deshalb habe er begonnen, seine Religion in Frage zu stellen. Im September 2013 habe er für sich selbst erkannt, dass er nicht mehr an Gott glaube und habe dies auch Freunden und Bekannten mitgeteilt, mit denen er früher gemeinsam zur Moschee gegangen sei. Diese hätten ihn hierfür stark kritisiert. Ebenso habe er mit seinem jüngeren Bruder, der damals noch im Irak gelebt habe, ausführlich über seine atheistischen Gedanken gesprochen. Mit seinen Eltern habe er hierüber nicht gesprochen.

Am 10. Dezember 2013 sei er dann auf dem Weg nach Kalar gewesen, als ihn ein Auto erfasst habe. Er sei sich sicher, dass man ihn absichtlich angefahren habe, weil die Straße zu dieser Zeit leer gewesen sei und er sich auf dem Randstreifen bzw. Gehweg bewegt habe. Das Letzte, woran er sich erinnere, sei, wie ein Auto auf ihn zugefahren sei, dann sei er bewusstlos geworden. Als er aufgewacht sei, hätten sich sein Vater und einer seiner Brüder neben dem Krankenbett in der Notaufnahme befunden. Man habe ihn dann am Folgetag ins Krankenhaus in Sulaimaniyya verlegt. Eine Woche, nachdem er nach Hause zurückgekehrt sei, habe sein Vater einen Anruf von einem Unbekannten erhalten. Wer diese Person sei, habe selbst nie erfahren und wisse auch nicht, ob sein Vater dies gewusst habe. Der Betreffende habe seinem Vater mitgeteilt, dass sein Sohn schlecht über den Islam rede und dieses Mal entkommen sei, beim nächsten Mal würde er dies jedoch nicht. Sein Vater, ein Onkel und ein Cousin seien gegen frühen Abend in sein Zimmer gekommen und hätten ihn zur Rede gestellt. Sein Vater habe ihn angeherrscht, dass er ein bekannter Gläubiger sei und wie er, der Kläger, ihm derartiges antun könne. Er selbst habe aus Angst alles abgestritten, aber sie hätten ihm nicht geglaubt. Sein Onkel habe ihn um die Zigarette gebeten, die er gerade in der Hand gehalten habe, und habe begonnen, diese auf seinem Arm auszudrücken. Sein Vater und sein Cousin hätten ihn sodann auf Lippe, Mund und Nase geschlagen. Hierdurch habe er starke Schmerzen erlitten. Im Anschluss hätten die drei das Zimmer verlassen und die Tür abgeschlossen. Bis ca. September 2014 sei er bettlägerig gewesen. In dieser Zeit hätten ihn sein Vater und sein Onkel tyrannisiert, d.h. massiv beschimpft und schlecht behandelt, indem sie beispielsweise im Hochsommer die Klimaanlage seines Krankenzimmers ausschalteten. In dieser Zeit sei er depressiv geworden und habe psychische Probleme bekommen. Seine Mutter und seine Schwester seien auch aufgebracht gewesen, seien aber nachsichtiger mit ihm gewesen; außerdem habe ihn seine Schwester gepflegt. Er habe sich die ersten zehn Monate überhaupt nicht bewegen können, danach habe er langsam mit Gehstöcken gehen und alleine zur Toilette gehen können.

Anfang des Jahres 2015, ca. zwei Wochen nach Silvester, habe er dann auf Umwegen erfahren, dass sein jüngerer Bruder einen Koran verbrannt habe. Sein Bruder habe in dieser Zeit bereits in Kirkuk und Sulaimaniyya gearbeitet und sei lediglich ein oder zweimal im Monat zuhause bei seinen Eltern gewesen. Telefonisch habe er ihn zur damaligen Zeit nicht mehr erreichen können. Erst später in Deutschland habe er dann von seinem Bruder erfahren, dieser habe mit seiner Aktion die Theorie widerlegen wollen, dass jemandem im Falle der Beschädigung des Korans ein Unheil widerfahre, beispielsweise in Gestalt einer Lähmung. Überdies habe sein Bruder gesagt, dass die Aktion rückwirkend betrachtet ein Fehler gewesen sei, weil die Gesellschaft seine Handlung nicht verstehe. Er, der Kläger, habe den Eindruck gewonnen, dass sein Bruder durch seine religionskritischen Ausführungen mittelbar zu der Maßnahme bewegt worden sei, aber eben auch, dass sein Bruder selber in der Lage sei, eigenständig zu denken und zu entscheiden. Angestiftet habe er ihn zur Koranverbrennung jedenfalls nicht. Als er von der Tat seines Bruders erfahren habe, habe er Angst bekommen, dass man ihm dieses anhänge und ihn umbringen werde. Immerhin hätten ja einige Freunde und Bekannte zweifellos von seinem Wandel zum Atheismus gewusst. Deshalb habe er seine Sachen gepackt und sei nach Sulaimaniyya geflohen, wo er sich im Industriegebiet Tanjaro versteckt gehalten und von Januar bis November 2015 in einer Betonsteinfabrik gearbeitet habe. Auf der Arbeit habe er sich bedeckt gehalten und niemandem von seinen atheistischen Ansichten erzählt. In der ersten Woche nach seinem Weggang habe ihn sein Vater ständig angerufen und beschimpft und bedroh; entsprechende Anrufe habe er auch von seinem Onkel, seinen Cousins und von Unbekannten erhalten. Er habe dies nicht mehr ertragen und infolgedessen seine SIM-Karte gewechselt. Später habe er dann über Facebook Kontakt mit seinem anderen Bruder aufgenommen, der bereits seit 20 Jahren in Deutschland lebe. Dieser habe ihm geraten, das Land zu verlassen, weil es für ihn keine Sicherheit mehr gebe. Dies habe er zu dieser Zeit bereits selbst ernsthaft erwogen, und der Rat seines Bruders habe ihn in dieser Entscheidung bestätigt. Sein älterer Bruder habe ihm auch mitgeteilt, dass sein jüngerer Bruder im Juli 2015 ausgereist sei. Er habe dann gewartet, bis er seinen Lohn erhalten habe und sei am 25. November 2015 von Sulaimaniyya aus mit einem Reisebus in die Türkei gefahren. Sein in Deutschland lebender Bruder habe ihn finanziell bei der Ausreise unterstützt. In der Zeit, in der er in der Fabrik gearbeitet habe, habe er dort auch gelebt und Lebensmittel erhalten, so dass er das Gelände nicht habe verlassen müssen. Er habe zwar auf der Arbeitsstätte seine Ruhe gehabt, aber sein Leben sei trotzdem in Gefahr gewesen. Er habe auch nicht versucht, innerhalb von Kurdistan eine neue Heimat zu finden, weil er vor dem Hintergrund seiner atheistischen Weltanschauung überall verfolgt worden wäre. Im Falle einer Rückkehr in den Irak fürchte er, dass seine Familie, seine Verwandten oder seine Freunde ihn wegen seiner atheistischen Weltanschauung umbringen würden. Er habe jedoch auch generell Angst, dort mit seinen Ideen über den Islam zu leben. Selbst in Deutschland habe er sich im Flüchtlingswohnheim nicht getraut, mit Anderen über seine atheistischen Gedanken zu sprechen. Abschließend gab der Kläger an, er habe wegen des erlittenen Unfalls immer noch Schmerzen, zudem befinde er sich in seit Mai 2016 in psychotherapeutischer Behandlung. Die Situation nach dem Unfall habe dazu geführt, dass er Depressionen bekommen habe. In seinem Heimatland habe er nach dem Unfall lediglich Schmerz- bzw. Beruhigungsmittel erhalten, nicht aber Medikamente gegen seine Depressionen, weil seine Familie ihn nicht zum Arzt gebracht habe. Als er in der Fabrik gearbeitet habe, sei er ebenfalls nicht zum Arzt gegangen, weil er unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln nicht hätte arbeiten können. Lediglich nach Feierabend habe er Beruhigungsmittel genommen. In diesem Zusammenhang legte der Kläger ein ärztliches bzw. psychotherapeutisches Attest aus Dezember 2016 vor, dem zufolge er sich seit dem 20. Mai 2016 in Behandlung befindet und an einer bipolaren Psychose leidet.

Mit Bescheid vom 28. April 2017, dem Kläger zugestellt am 3. Mai 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie des subsidiären Schutzstatus ab (Nr. 2). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 4). Zur Begründung führte die zuständige Entscheiderin u.a. aus, der Kläger sei nicht vorverfolgt aus dem Irak ausgereist. Die Gewährung von Flüchtlingsschutz setze in diesem Zusammenhang voraus, dass zwischen der Verfolgung und der Flucht ein Kausalzusammenhang bestehe, wobei entscheidend sei, ob sich die Ausreise bei objektiver Betrachtung nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als eine unter dem Druck der Verfolgung stattfindende Flucht darstelle. Dieses erfordere regelmäßig einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Ausreise. Je länger der Ausländer nach erlittener Verfolgung in seinem Heimatstaat verbleibe, desto mehr könne bereits der bloße Zeitablauf dazu führen, dass eine Ausreise den Charakter einer unter dem Druck erlittener Verfolgung stehenden Flucht verliere. So liege es im Falle des Klägers. Im Übrigen drohe diesem auch im Falle einer Rückkehr in den Irak keine Verfolgung, da er dort nach seiner Abkehr vom islamischen Glauben im September 2013 habe leben können, ohne einer ernsthaften Verfolgungshandlung ausgesetzt gewesen zu sein.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 15. Mai 2017 Klage erhoben und zudem Prozesskostenhilfe beantragt.

Mit Schriftsatz vom 4. September 2017 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit, ausweislich der fernmündlichen Auskunft des behandelnden Allgemeinmediziners und Psychotherapeuten habe sich der Kläger am 25. August 2017 in dessen Praxis an den Pulsadern verletzt und sei in ein Krankenhaus gebracht worden. Er überreichte des Weiteren eine Stellungnahme des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V. vom 13. Juli 2017, der zufolge der Kläger mit Unterstützung einer Dolmetscherin Folgendes als Ergänzung zur Anhörung beim Bundesamt zu Protokoll gegeben habe, er habe nicht seine gesamte Verfolgungsgeschichte erzählen können. Ursache hierfür sei gewesen, dass er unter starkem Einfluss zahlreicher ärztlich verschriebener Beruhigungsmittel gestanden und sich nach einer langen Wartezeit und einer Anhörung von über drei Stunden nicht mehr habe konzentrieren können. Deshalb habe er vergessen, bestimmte Inhalte zu berichten und habe sich auch das Anhörungsprotokoll nicht mehr rückübersetzen lassen. Tatsächlich sei er am 2. November 2015 in Sulaimaniyya bei der Arbeit auf einer Baustelle hinterrücks niedergeschlagen worden. Nach dem Aufwachen habe er sich auf dem Bauernhof seines Chefs außerhalb der Stadt wiedergefunden. Dieser habe ihm erzählt, dass zwei Männer ihn angegriffen hätten und nur mit Mühe von ihm und anderen Mitarbeitern hätten vertrieben werden können. Augenscheinlich seien sie von seiner Familie geschickt worden. Er habe sich dann bis zum 25. November 2015 auf dem Bauernhof seines Chefs versteckt, dann habe dieser ihm ein Busticket gekauft und er sei von Sulaimaniyya nach Istanbul gefahren.

Ausweislich des Entlassungsberichts des Klinikums Region B-Stadt – Psychiatrie Wunstorf vom 28. Oktober 2017 war der Kläger dort in der Zeit vom 27. August 2017 bis zum 28. Oktober 2018 in Behandlung. Gegenüber den Mitarbeitern des zuvor behandelnden Klinikums Neustadt habe sich der Kläger in suizidaler Absicht geäußert, ohne sich hiervon glaubhaft distanzieren zu können. Diagnostiziert wurde beim Kläger u.a. eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2), eine posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1), eine Opiatabhängigkeit (F 11.2), eine Benzodiazepinabhängigkeit (F 13.2) und eine absichtliche Selbstschädigung im Rahmen eines Suizidversuchs (X 84.9; Bl. 106 d. Gerichtsakte (GA)). Nach der ärztlichen Stellungnahme der Psychiatrie Wunstorf vom 19. Januar 2018 befand sich der Kläger seit dem 22. November 2017 in stationärer Behandlung; bis zum 22. Januar 2018 erfolge wegen akuter Suizidalität auf Basis einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts Neustadt a. Rbge. vom 11. Dezember 2017 eine Unterbringung nach § 16 Niedersächsisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG). Die bisherigen Diagnosen ergänzte die Klinik um eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F 33.33) sowie eine paranoid halluzinatorische Psychose (F 20.0; Bl. 95 d. GA). Mit Beschluss vom 5. Februar 2018 verlängerte das Landgericht B-Stadt unter Berücksichtigung der Gutachten der behandelnden Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie die Unterbringung des Klägers in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bis zum 19. März 2018 (Bl. 115 d. GA). Im Arztbrief vom 28. Februar 2018 diagnostizierte die Psychiatrie Wunstorf dem Kläger ergänzend eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtiger schweren psychiotischen Symptomen (F 33.3) sowie eine posttraumatische Belastungsstörung mit paranoider Schizophrenie (F 43.1) und stufte den Kläger als latent suizidal ein (Bl. 132 f. d. GA). In der Zeit vom 6. März bis zum 9. April 2018 begab sich der Kläger freiwillig in die Psychiatrie Wunstorf zur stationären Behandlung (Bl. 152 d. GA), ferner in der Zeit vom 17. bis 27. April 2018 (Bl. 166 d. GA). Im Verlauf des letzteren Aufenthalts musste der Kläger wegen zunehmender Suizidgedanken von der allgemeinpsychiatrischen Station des Krankenhauses auf eine geschützte Station verlegt werden.

Mit Schreiben vom 14. Juni 2018 gab die Psychiatrie Wunstorf auf Bitte des Gerichts eine fachärztliche Stellungnahme zur Frage der gesundheitlichen Risiken für den Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak ab. Hierin diagnostizierten die behandelnden Ärzte beim Kläger abermals schwere rezidivierende depressive Episoden mit psychotischen Symptomen, die zu suizidalem und selbstverletzendem Verhalten führen (X 84.9) sowie einer posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1). Als Folgeerkrankungen bestünden eine Opiatabhängigkeit (Schmermzmittel; F 11.2), eine Benzodiazepinabhängigkeit sowie eine Zwangserkrankung (F 42.1). Aufgrund der posttraumatischen Belastungsstörung und in Kenntnis der besonderen Umstände der Traumatisierung, d.h. unter Beteiligung von nahen Angehörigen als Täter mit religiös motivierten Handlungen und in Anbetracht der erheblichen Schwere der Traumatisierung wie auch der Folgeerkrankungen sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak schweren gesundheitlichen Schaden an Leib und Leben erleiden werde. Dieser Befund gelte auch dann, wenn er an einen von seiner Familie und seinem ursprünglichen Wohnort entfernten Ort ginge. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger die Sprache, die Kultur und die Ausübung der religiösen Praktiken als Trigger bzw. Schlüsselreize erlebe mit der Folge von dissoziativen Zuständen mit erneuter Retraumatisierung oder auch Selbsttötung. Die Gabe starker Medikamente, wie sie der Kläger in seiner gegenwärtigen Behandlung erhalte, sei nicht in der Lage, einen Schutz gegen die Reizaufnahme zu bieten (Bl. 182 f. d. GA).

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 28. April 2017 zu verpflichten,

1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen,

4. höchst hilfsweise, über das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.

Das Gericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 2. Mai 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen; dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom selben Tag Prozesskostenhilfe bewilligt. Das Gericht hat die Beklagte ferner mit Verfügung vom 2. Mai 2018 gebeten, die ladungsfähige Anschrift des ebenfalls ausgereisten jüngeren Bruders des Klägers mitzuteilen, auf dessen Asylverfahren das Protokoll der Anhörung vom 9. März 2017 auf Seite 7 f. Bezug nimmt. Ebenfalls hat der Einzelrichter um Mitteilung gebeten, ob in diesem Asylverfahren bereits eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung ergangen sei und, sollte dies zu bejahen sei, welchen Inhalt diese habe. Das Bundesamt hat hierauf nicht reagiert.

In Bezug auf den Inhalt der informatorischen Anhörung des Klägers wird auf die Sitzungsniederschrift vom 25. Juni 2018 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere bezüglich des Inhalts der fachärztlichen Atteste, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 25. Juni 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

1.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 28. April 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Der Kläger war nach Überzeugung des Gerichts vor seiner Ausreise aus dem Irak aufgrund seiner Religion von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion dabei insbesondere theistische, nichttheistische und – so wie im vorliegenden Fall in Rede stehend – atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen einer religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 AsylG vor. Das Gericht ist aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger wegen seiner atheistischen Weltanschauung von Angehörigen seiner Familie und unbekannten Dritten mit schwerer körperlicher Gewalt bis hin zur Tötung bedroht wurde.

Ausweislich der dem Gericht zum Irak vorliegenden Erkenntnismittel besteht für Personen, die sich – wie der Kläger – offen zu ihren atheistischen Anschauungen bekennen, eine besondere Gefahr, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch religiöse Fundamentalisten zu werden. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln hat der Atheismus im Irak tiefgehende historische Wurzeln, wobei sich die Verbreitung in allen Gesellschafts- und Altersschichten jedoch als neues Phänomen erweist. In einer 2011 veröffentlichten Umfrage der kurdischen Nachrichtenagentur AKnews wurden irakische Bürger befragt, ob sie an Gott glauben. Vier Prozent antworteten mit „wahrscheinlich nicht“, sieben Prozent mit „Nein“ (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Doccumentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 1 f. der Druckversion). Ergänzend führt ACCORD in seiner Stellungnahme aus September 2017 aus (ACCORD, a.a.O., S. 3 der Druckversion):

 „Die irakische Nachrichtenwebsite The Baghdad Post schreibt im Januar 2017, dass laut Angaben von Experten die Anzahl junger irakischer Männer und Frauen, die sich dem Atheismus zuwenden würden, steige. Sie würden meist aus einem intellektuellen Milieu kommen und ihre radikalen Meinungen auf sozialen Medien verbreiten. Dort würden sie Gott, sowie den Propheten Mohammed und seine Familie angreifen. Das Phänomen des Atheismus habe soziale und intellektuelle Gründe, so The Baghdad Post weiter. Laut Experten habe sich der Atheismus ausgebreitet, da sunnitische und schiitische Politiker und Milizen die Religion missbraucht hätten, um mehr Anhänger zu gewinnen […]“

Nach irakischem Recht besteht dabei keine ausdrückliche Strafandrohung für Menschen, die vom islamischen Glauben abfallen. Die Verfassung erklärt einerseits den Islam als die offizielle Religion und legt fest, dass kein Gesetz beschlossen werden darf, das den „bestehenden Vorschriften des Islam“ widerspricht, andererseits gewährt sie das Recht auf Religionsfreiheit für Muslime, Christen, Jesiden, und Saebäer/Mandäer. Ein vom Islam abkehrender Religionswechsel wird jedoch rechtlich nicht anerkannt, so das beispielsweise auf der Identitätskarte einer (zum Christentum) konvertierten Person auch nach deren Konversion noch steht, dass sie/er Muslimin/Muslim ist (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 125 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20. Mai 2016 zu Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 1).

Feindseligkeiten gegenüber Konvertiten oder Atheisten sind im Irak darüber hinaus weit verbreitet. Gefahren gehen zum Teil durch Mitarbeiter staatlicher Behörden aus, vor allem aber durch private Dritte, insbesondere religiöse Milizen, welche die im Irak bestehenden Strafgesetze zu Lasten von Atheisten oder Konvertiten auslegen (siehe ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 5 der Druckversion). Streng gläubige irakische Muslime halten Atheismus für strafrechtlich relevant und berufen sich hierbei auf Art. 372 des irakischen Strafgesetzbuches, in dem das Thema Blasphemie behandelt wird, obgleich unter den aufgelisteten strafbaren Handlungen Apostasie und Atheismus an keiner Stelle erwähnt werden (Humanistischer Pressedienst (HPD), Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak, S. 2 der Druckversion):

Iraks Muslime sind überdies nach wie vor der Scharia untergeordnet, d.h. dem islamischen Recht, welches Apostasie bzw. den Abfall vom islamischen Glauben verbietet. Menschen, die den islamischen Glauben ablegen wollen, sind auf dieser Basis oft ernsthafter Verfolgung durch die Gesellschaft ausgesetzt, oftmals durch Familienangehörige oder Bekannte, welche bis hin zu tödlicher Gewalt reichen kann (BFA, a.a.O., S. 125 f. m.w.N.). Ein im April 2007 verfasstes Gutachten des German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Institut für Nahost-Studien, erläutert dieses religiös-dogmatische Begriffsverständnis eines mit dem Tode zu ahndenden Abfalls vom Islam wie folgt (GIGA, Stellungnahme vom 2. April 2007 an das Verwaltungsgericht Aachen im Verfahren 4 K 605/05.A). Hierzu führt das Gutachten aus (GIGA, a.a.O., S. 6, 1-4):

„Die individuelle Entscheidung für eine andere Religion ist nach dem eigentlichen Bedeutungsgehalt des Abfalls vom Islam überhaupt nicht von diesem Begriff erfasst, denn das gibt es eigentlich nach den dortigen Vorstellungen nicht, ein Muslim kann nicht individuell über seine Glaubenszugehörigkeit disponieren, da diese eben auch einer „Nationalität“ und einer Zugehörigkeit zu einem Staat entspricht, deshalb sind für solche Vorstellungen eigentlich auch nach dem „Recht der Shariah“ kein Raum.“

„Im Islam gibt es keine Trennung zwischen Staats- und Glaubensgemeinschaft. Der Muslim ist qua definitionem nicht nur Mitglied der Gemeinschaft der Gläubigen, sondern, als solcher, auch Mitglied der dieser Gemeinschaft entsprechenden „Staatsbevölkerung“. Der Islam geht – gedanklich – davon aus, dass die Gemeinschaft der Gläubigen in dem von ihr dominierten Gebiet auch die Staatsgewalt innehat. Das folgt aus den geschichtlichen Anfängen des Islams, in welcher mit der Ausbreitung der Religion automatisch auch die territorial-staatspolitische Ausbreitung einherging. […] Ihrem Wesen und ihrer geschichtlichen Herkunft nach, ist daher die Strafbarkeit des Abfalls vom Islam gleichbedeutend mit dem politischen Hochverrat […] Auch die nach den religiösrechtlichen Vorstellungen vorgesehene Todesstrafe für den Abfall vom Islam hat ihren Grund in diesem eigentlichen Bedeutungsinhalt des „Abfalls vom Islam“, der eben zur gedanklich-geistigen Voraussetzung hat, dass jemand nicht allein seinen Glauben aufgibt, sondern dass er sich als Gläubiger, und deshalb Angehöriger sowohl einer „islamischen Nation als auch des islamischen Staates“ seiner Loyalitätspflichten entschlägt, und in ein anderes Lager übergeht.“

Zugleich betont das Gutachten, wie stark die Bejahung eines mit dem Tode zu ahndenden Abfalls vom Islam im konkreten Fall vom Begriffsverständnis des jeweiligen religiösen Akteurs abhängt (GIGA, a.a.O., S. 4-6; ebenso: HPD, Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak, S. 3 der Druckversion).

„Die heutigen Fundamentalisten und gewalttätigen oder gewaltbereiten Fanatiker schert naturgemäß auch der politisch-geschichtliche Kontext nicht, für sie ist jeder, der den Islam verlässt, ein Abtrünniger und, nach der religiös-rechtlichen Vorgabe mit dem Tode zu bestrafen […]. Dies bedeutet, dass es hier darauf ankommt, wer für sich in Anspruch nimmt, das „Recht der Shariah“ auf den Kläger anzuwenden: Unter „Taliban-Umständen“, also vor dem Hintergrund der Herrschaftsausübung äußerst düster und verbohrt denkender Fundamentalisten, die normalerweise über die nötigen Rechtskenntnisse gar nicht verfügen, würde ein solcher „reiner Religionsabfall“ ausreichen (können). Normalerweise wäre freilich zu verlangen, dass der Abfall von der Religion auch eine Stoßrichtung gegen die Gemeinschaft der Gläubigen hat, der typische Tabubruch ist insoweit die Mission, die in allen islamischen Ländern strikt verboten ist. Wer also etwa versucht, andere zum Abfall vom Islam und zur Annahme eines neuen Glaubens zu bewegen […], der würde nach dortiger Vorstellung daran mithelfen, die Gemeinschaft der Gläubigen zu verkleinern und damit einen Angriff gegen diese Gemeinschaft richten, und das könnte dann schon eher zu einer Todeswürdigkeit des Abfalls vom Islam passen. Ebenso der Abgefallene, der seinerseits dann seinen „neuen Glauben“ weiterverbreiten will, oder der sich aus religiös motivierten Gründen gegen die Glaubens-/Staatsgemeinschaft wendet.“

Im Irak dominiert dabei die gesellschaftliche Haltung gegenüber Atheisten, es handele sich bei ihnen um moralisch verdorbene Personen oder Agenten ausländischer Gruppen bzw. Mächte. ACCORD weist zudem darauf hin, dass Politiker islamischer Parteien in Wahlkampfansprachen gezielt gegen Atheisten Stimmung machen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 2 der Druckversion):

 „Al-Monitor schreibt in einem weiteren Artikel vom Juni 2017, dass islamische Bewegungen im Irak in den letzten Wochen ihre gegen Atheismus gerichtete Rhetorik intensiviert hätten, Iraker über die Verbreitung des Phänomens gewarnt und von einer Notwendigkeit gesprochen hätten, Atheisten entgegenzutreten. Die islamischen Bewegungen und Parteien seien besorgt, dass die öffentliche Stimmung sich gegen sie richten und sich dies wiederum auf die Wahlen auswirken könne, die für Ende 2017/Anfang 2018 angesetzt seien. Ammar al-Hakim, der Führer des zumeist schiitischen Parteienbündnisses Irakische Nationalallianz, das die große Mehrheit im Parlament und in der Regierung stelle, habe gegen die Verbreitung des Atheismus gewarnt. Manche Menschen, so alHakim, würden die Orientierung der irakischen Gesellschaft an religiösen Prinzipien und ihre Verbindung zu Gott verübeln. Er rufe dazu auf, diesen fremden atheistischen Ideen mit gutem Denken zu konfrontieren und den Unterstützern solches Gedankenguts mit einer „eisernen Faust“ entgegenzutreten, indem man die Methoden offenlege, mit denen sie ihre Ideen propagieren würden. […] Während des Ramadan hätten religiöse Predigten in schiitischen Städten im Zentral- und Südirak die Verbreitung säkularer und atheistischer Ideen angegriffen, da diese als Bedrohung der irakischen Gesellschaft aufgefasst würden. Der ehemalige Premierminister Nuri al-Maliki, der weitreichenden Einfluss innerhalb der pro-iranischen Fraktionen der Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Units) habe, habe im Mai 2017 vor einer angeblichen gefährlichen Verschwörung säkularer und nichtreligiöser Bewegungen gewarnt, die die islamischen Parteien entmachten und selbst die Kontrolle erlangen wollen würden.“

In einem Bericht für den Zeitraum von 2013 bis September 2016 hob das Immigration and Refugee Board of Canada überdies hervor (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 2 f. der Druckversion), dass es nach Erkenntnissen der Zeitschrift Al-Monitor zahlreiche irakische Websites für Atheisten gebe. Ihre Mitgliederlisten würden diese jedoch geheim halten aus der Angst heraus, verfolgt oder getötet zu werden, sei es durch extremistische religiöse Milizen oder Gruppen, sei es gar durch einfache Bürger auf der Straße.

Zu den Gefahren offen religionskritischer Äußerungen auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion führt der Humanistische Pressedienst aus (HPD, Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak):

„Das gilt zum Teil auch für die als vergleichsweise tolerant bekannte Autonome Region Kurdistan im Nordirak mit einer eigenen Regionalregierung in Erbil. Sie beansprucht für sich eine noch weitergehend säkularere Ausrichtung, als sie offiziell im übrigen Irak gilt. Und in der Tat werden dort Islam-kritische Diskussionen weniger rigide unterdrückt als anderswo. Religiöse Minderheiten können sich in Kurdistan außerdem erheblich sicherer fühlen als im übrigen Irak und suchen dort auch gezielt Schutz vor dem IS. Gleichzeitig ist besonders in Erbil die Gesellschaft nach wie vor sehr konservativ und erwartet, dass islamische Normen von allen respektiert werden. Auch in den kurdischen Autonomiegebieten ist es daher nicht überall ratsam, sich offen als Atheist zu bekennen.“

In seiner Stellungnahme aus September 2016 zitiert das Immigration and Refugee Board of Canada zudem einen kurdischen Journalisten aus Erbil mit den Worten, es sei in Kurdistan einfacher als im Rest des Irak, sich zum Atheismus zu bekennen, was jedoch nicht heiße, dass die Menschen vor Ort diesen Schritt auch akzeptieren würden. Ein Vertreter des Kurdistan Secular Center, einer Einrichtung, welche die Trennung von Staat und Religion propagiere, habe zudem in einem Telefoninterview im August 2016 hervorgehoben, die generelle öffentliche Haltung sei, dass man sich nicht gegen Religionen aussprechen dürfe. Menschen mit säkularen Ansichten hätten generell große Angst davor, öffentlich ihre Ansichten zur Religion kundzutun. Sich öffentlich als Atheist zu bekennen, könne tödlich sein, da die Gefahr bestehe, auf der Straße angegriffen oder von der eigenen Familie verstoßen zu werden. Hiermit korrespondierend habe die kurdisch-irakische Nachrichtenseite Safaq News am 16. Mai 2014 darüber berichtet, dass Atheisten im Irak fürchteten, wegen ihrer Anschauungen getötet zu werden (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 1-3 der Druckversion).

Diese Erkenntnisse zur Bedrohung von Atheisten durch Familienangehörige und sonstige Mitglieder der örtlichen Gemeinschaft finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften Schilderungen des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass ihm insbesondere Mitglieder seiner Familie im Januar 2015 schwere Gewalt androhten, nachdem sie ihn bereits in der Vergangenheit wegen seiner atheistischen Auffassungen körperlich massiv misshandelt hatten.

Bereits die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts dokumentierte Aussage des Klägers enthielt zahlreiche Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Diesen Eindruck hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent mit quantitativen Detailreichtum, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Beschreibung deliktsspezifischer Merkmale sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung in Bezug auf das Kerngeschehen im Wesentlichen als inhaltlich konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Der Kläger hat insbesondere die Umstände seines Autounfalls, der anschließenden Bettlägerigkeit und die nachfolgende Misshandlung durch Familienangehörige plastisch geschildert, wobei er auf seinem linken Unterarm zudem zahlreiche kreisförmige Brandnarben vorzeigen konnte. Ebenso konnte er plastisch schildern, wie sein jüngerer Bruder Nassir, den das Bundesamt seiner Kenntnis zufolge zwischenzeitlich als Flüchtling anerkannte, an Silvester 2014/2015 einen Koran verbrannt habe.

Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen wurde der Kläger von seinen Familienangehörigen im Januar 2015 im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Abs. 3 AsylG verfolgt, d.h. mit dem Tode bedroht. Anlass hierfür war, dass man ihn, d.h. seine atheistischen Anschauungen bzw. seinen ideologischen Einfluss, für die vorgenannten Handlungen seines jüngeren Bruders verantwortlich machte.

Der Annahme einer Vorverfolgung steht auch nicht entgegen, dass der Kläger sich noch bis November 2015 im Irak aufhielt. Auch die anschließende Ausreise geschah nach den Feststellungen der mündlichen Verhandlung unter dem Eindruck der vorangegangenen Verfolgung. Wie der Kläger glaubhaft geschildert hat, hat er sich in dieser Zeit nicht etwa frei auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion bewegt, sondern sich auf seinem Arbeitsplatz, den er nicht einmal zum Einkaufen verließ, versteckt gehalten, wobei er versuchte, mit seinem ebenfalls geflohenen jüngeren Bruder bzw. seinem in Deutschland lebenden älteren Bruder in Kontakt zu treten, um seine Ausreise vorzubereiten. Ob der Kläger tatsächlich, so wie nachträglich vorgetragen, Anfang November 2015 auf dem Fabrikgelände von Verwandten angegriffen wurde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen. Im Übrigen weist das Gericht auf Basis der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse darauf hin, dass auch im Falle der Verneinung einer Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie dem Kläger im Falle seiner Rückkehr jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch seine Familienangehörigen drohen würde. Die vorstehenden Ausführungen gelten insoweit entsprechend.

Die dem Kläger (weiterhin) drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG. Hiernach kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der irakische Staat sowie die in § 3c Nr. 2 AsylG genannten Akteue sind nämlich erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, Atheisten im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3d Abs. 2 AsylG muss der Schutz vor Verfolgung wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in § 3d Abs. 1 AsylG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Letzteres setzt voraus, dass die Betroffenen einen realistischen Zugang zu den Schutzmaßnahmen haben, was insbesondere erfordert, dass sie den Schutz gefahrenfrei in Anspruch nehmen können (Kluth, in: BeckOK AuslR, Stand: November 2017, § 3d AsylG, Rn. 3). Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers nicht gegeben. Dem Kläger ist es nicht möglich, im Falle seiner Rückkehr auf eine für ihn zumutbare Weise wirksamen Schutz vor der Bedrohung durch Familiengehörige oder religiöse Extremisten zu erlangen.

So beschreibt ACCORD in seiner Anfragebeantwortung aus September 2017, es sei angesichts der vorherrschenden Atmosphäre religiöser Auseinandersetzungen und des religiösen Fundamentalismus im Irak dringend notwendig, Atheisten, Agnostiker und Säkularisten zu schützen, da diese als Gruppe nicht anerkannt seien und keine irakischen oder internationalen Einrichtungen existierten, die sie schützen oder verteidigen würden (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 2 der Druckversion). Der Humanistische Pressedienst (HPD) ergänzt diesen Befund in seinem Artikel aus Januar 2017 wie folgt (HPD, Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak, S. 3 der Druckversion):

„Dass sich im Irak die staatliche Rechtsordnung weder an der Scharia orientiert noch Atheismus unter Strafe gestellt ist, hält auch Polizeivertreter und Richter vereinzelt nicht davon ab, Atheismus als Blasphemie zu deuten. Ein Atheist, der Feindseligkeiten seiner Umgebung ausgesetzt ist, wird daher zögern, sich damit an die Polizei zu wenden. Denn es könnte ihm ergehen wie Yousef Muhammad Ali aus der Region Darbandikhan in Irakisch-Kurdistan. Der erstattete 2014 bei der Polizei Anzeige gegen mehrere Personen, die ihn aufgrund seiner atheistischen und Islam-kritischen Äußerungen mit dem Tode bedroht hatten. Statt die Täter juristisch zu belangen, fand er selber sich plötzlich wegen Blasphemie auf der Anklagebank wieder. […] Manche Eltern möchten zwar von ihren atheistischen Kindern nicht hören, es gäbe keinen Gott, tolerieren gleichzeitig aber deren Areligiosität. In anderen Familien ist man da rigoroser, wie der Fall Ahmad Sherwan aus Erbil zeigt, der 2014 durch die Medien ging. Nachdem der damals 15jährige seinem Vater in einer privaten Religionsstunde mitgeteilt hatte, er glaube nicht an Gott, benachrichtigte dieser die Polizei, die seinen Sohn in Einzelhaft nahm und tagelang folterte. Nach 13 Tagen wurde er wieder freigelassen.“

Auch das Immigration and Refugee Board of Canada betont, dass Menschen, die wegen ihrer atheistischen Auffassungen bedrängt würden, sich eher versteckten, als die Polizei um Hilfe zu bitten. Viele Polizisten und Richter würden Atheismus nämlich als nach Artikel 382 des Irakischen Strafgesetzbuchs zu ahndende Blasphemie ansehen (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authori-ties in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 4).

Es sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht wird. Bei der Beurteilung der Frage, ob stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung sprechen, sind nämlich insbesondere die Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen und das Ausmaß der drohenden Gefahr zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19; Nds. OVG, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 30). Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A - juris Rn. 38). Dieser Gedanke greift auch im Falle des Klägers.

Dem Kläger steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr insbesondere kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Im Übrigen kann sich der Kläger auch nicht in einen anderen Teil der kurdischen Autonomieregion begeben. Angesichts der gegenwärtigen humanitären Lage in diesem Gebiet sowie unter Berücksichtigung der gravierenden Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers, die nach Würdigung der Vielzahl der vorgelegten fachärztlichen Atteste außer Zweifel stehen, ist er zum einen gegenwärtig außer Stande, seinen Lebensunterhalt eigenverantwortlich zu bestreiten, d.h. ohne Unterstützung seiner Familie. Zum anderen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er auch auf dem Gebiet der Autonomieregion niemals seine atheistischen Anschauungen würde offen kundtun können. In dieser Gesellschaft könne er nicht mehr leben, denn er befürchte, dass im Falle seiner Rückkehr eines Tages aufgrund seines Verhaltens bzw. seiner Mentalität festgestellt werde, dass er Atheist sei. Schließlich hat er glaubhaft dartun können, dass er sich nur unter Preisgabe jedweder gesellschaftlichen Teilhabe in Kurdistan aufhalten könne. Andernfalls müsse er Entdeckung durch seine Familie befürchten, weil man sich zum Beispiel im Falle einer Heirat oder eines Hauskaufs sofort nach der Familie des Betreffenden erkundige.

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.