Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 27.09.2021, Az.: 1 A 35/19

Abschiebungsverbot; Libanon; Wirtschaftskrise

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
27.09.2021
Aktenzeichen
1 A 35/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 70706
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Die Kläger begehren die Feststellung von Abschiebungsverboten.

Die Kläger sind libanesische Staatsangehörige. Sie stammen aus Beirut. Der 42 Jahre alte Kläger zu 1) und die 31 Jahre alte Klägerin zu 2) sind die Eltern der Kläger zu 3) bis 5), die 12, 11 und 2 Jahre alt sind. Die Kläger zu 1) bis 4) reisten im November 2017 in das Gebiet des Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 11.12.2017 Asylanträge. Das Asylverfahren des in Deutschland geborenen Klägers zu 5) wurde nach § 14a AsylG durchgeführt.

Der Kläger zu 4) leidet an einem angeborenen Herzfehler. Er wurde mit einem sog. Einkammerherzen geboren, wobei in seinem Fall die rechte Herzkammer nicht ausgebildet ist. Dazu traten weitere Anomalien am Herzen (Kammerscheidewanddefekt und unterbrochener Aortenbogen), die nur teilweise operativ behoben werden konnten. Eine Korrekturoperation des Herzfehlers war von vornherein nicht möglich. Ziel der bisherigen Behandlungen war es, die Volumenbelastung für das Herz zu verringern und eine Kreislauftrennung nach dem Fontan-Prinzip zu erzielen. Das bedeutet, dass das Blut aus dem Körper nicht – wie bei einem gesunden Herzen – über eine rechte Kammer in die Lungenschlagader gepumpt wird, sondern direkt in die Lungenschlagader strömt. Noch im Libanon erfolgte im Juni 2011 bei dem Baby eine Operation am Herzen, bei der die Lungendurchblutung durch ein Pulmonalarterien-Banding reduziert und der Aortenbogen rekonstruiert wurde. Im Jahr 2012 folgten drei weitere Operationen. Im Oktober 2015 wurde durch eine modifizierte Fontan-Operation der Kreislauf getrennt. Nach der Flucht aus dem Libanon wird der Kläger zu 4) seit dem Jahr 2018 im Universitätsklinikum A-Stadt behandelt. Im März 2018 erfolgte dort eine weitere Operation. Im Januar 2020 wurde die letzte Operation zur Behebung eines zunehmenden Aneurysmas (Arterienerweiterung) des Aortenbogens und einer Stenose (Verengung) der Aortenbogen-Anastomose durchgeführt. Die Operation verlief ohne zunächst wahrgenommene Komplikationen. Im Nachhinein zeigte der Kläger zu 4) erhebliche neurologische Ausfälle, die auf postoperative Hirninfarkte zurückgeführt werden.

Die Kläger zu 1) und 2) gaben bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 12.12.2017 übereinstimmend im Wesentlichen an, aufgrund der schweren Herzerkrankung des Klägers zu 4) den Libanon verlassen zu haben. Die Aufwendungen für Operationen hätten ihre finanziellen Ressourcen völlig erschöpft. Da sie unterschiedlichen Konfessionen angehörten, hätten sie im Übrigen immer wieder Probleme gehabt.

Mit Bescheid vom 03.01.2019 lehnte das Bundesamt hinsichtlich der Kläger zu 1) bis 4) und mit Bescheid vom 02.09.2019 hinsichtlich des Klägers zu 5) die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung subsidiären Schutzes ab, verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG, forderte die Kläger unter Fristsetzung und Abschiebungsandrohung zur Ausreise auf und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Wegen der Begründung wird auf den jeweiligen Bescheid verwiesen.

Gegen den Bescheid vom 03.01.2019 haben die Kläger zu 1) bis 4) am 18.01.2019 Klage erhoben (1 A 35/19), gegen den Bescheid vom 02.09.2019 hat der Kläger zu 5) am 16.09.2019 Klage erhoben (1 A 281/19). Sie machen im Wesentlichen geltend, im Fall der Rückkehr in den Libanon wegen der besonderen Umstände der Erkrankung des Klägers zu 4) unter den Bedingungen der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise im Libanon kein Leben unter menschenwürdigen Bedingungen führen zu können.

Die Kläger hatten ursprünglich beantragt, sie als Flüchtlinge anzuerkennen, hilfsweise ihnen subsidiären Schutz zu gewähren. Diese Anträge haben sie in der mündlichen Verhandlung vom 27.09.2021 zurückgenommen.

Die Kläger beantragen nunmehr sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 4 bis 6 der Bescheide vom 03.01.2019 () und vom 02.09.2019 (P.) zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist wegen der Erkrankung des Klägers zu 4) darauf, dass die Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorlägen, weil es der Familie noch im Libanon auch gelungen sei, die Aufwendungen für die Behandlungen des Klägers zu 4) zu tätigen. Das sei weiterhin möglich. Die Erkrankung sei nach der letzten Operation nicht lebensbedrohlich, so dass auch die Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen.

Mit Beschluss vom 09.03.2020 hat die Kammer den Rechtsstreit nach Anhörung der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Die Kläger zu 1) und 2) sind in den mündlichen Verhandlungen vom 22.04.2020 und vom 27.09.2021 informatorisch zu ihren Asylgründen angehört worden. Wegen der Anhörung wird auf die jeweiligen Sitzungsniederschriften verwiesen. In der mündlichen Verhandlung vom 22.04.2020 hat die Einzelrichterin die Verfahren 1 A 35/19 und 1 A 281/19 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Sie hat durch Beschluss vom 30.04.2020 Beweis erhoben zu den Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. med. L., Kardiologie, Intensivmedizin und Pneumologie der Universitätsmedizin A-Stadt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Ausländerbehörde verwiesen.

Entscheidungsgründe

Gemäß § 102 Abs. 2 VwGO kann das Gericht trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 27.09.2021 über die Klage verhandeln und entscheiden. Die Beklagte ist geladen worden und verzichtete nach ihrer für das vorliegende Verfahren noch geltenden allgemeinen Prozesserklärung vom 27.06.2017 auf eine Ladung gegen Empfangsbekenntnis.

Soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Im Übrigen ist die zulässige Klage begründet, weil die Beklagte verpflichtet ist, für die Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf den Libanon festzustellen. Die Bescheide vom 03.01.2019 und 02.09.2019 sind rechtswidrig und aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Der Verweis auf die EMRK erfasst lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 8). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entnimmt Art. 3 EMRK die Verpflichtung, den Betroffenen nicht in ein bestimmtes Land abzuschieben, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass er im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. nur EGMR, Urt. v. 13.12.2016 - 41738/10 [Q. v. Belgium] - HUDOC Rn. 173; v. 23.08.2016 - 59166/12 [J. K. and others v. Sweden] - HUDOC Rn. 79). Insoweit sind die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Abschiebungszielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (EGMR, Urt. v. 23.08.2016, a.a.O., Rn. 83). Auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat können in ganz besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2019 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 23 und 25; Beschl. v. 08.08.2018, a.a.O., Rn. 9; Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 45; VGH BW, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 26, jeweils m.w.N.).

Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, Beschl. v. 23.08.2018 - 1 B 42.18 -, juris Rn. 13). Der Umstand, dass nach dem Sachverständigengutachten vom XX.XX.2020 zwar bei dem Kläger zu 4) trotz der bislang erfolgten Operationen eine schwerwiegende Erkrankung besteht, bezüglich der Fontan-Zirkulation nach den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen L. aber erst mittel- bis langfristig mit einer abstrakten Wahrscheinlichkeit von 25 % mit lebensbedrohlichen Komplikationen zu rechnen ist (GA Bl. 152), steht damit zwar der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen, nicht aber für sich genommen der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG durch die Beklagte.

Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen allerdings ein gewisses „Mindestmaß an Schwere" erreichen. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.08.2018, a.a.O., Rn. 11). Es ist allerdings bei „nichtstaatlichen“ Gefahren für Leib und Leben ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem etwa die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind.

Ein derartiger außergewöhnlicher Fall ist zur Überzeugung des Gerichts hier gegeben.

Dabei sind zunächst die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 38, zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, und Nds. OVG, Urt. v. 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 26, zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK; zur aktuellen Lage im Libanon vgl. auch die zutreffende Beschreibung in VG Hamburg, Urt. v. 09.09.2021 - 14 A 6163/21 -, juris Rn. 37 ff.).

Der Libanon ist aus eigener Kraft weder in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren noch substanziell den eigenen Staatshaushalt nachhaltig zu finanzieren (BAMF, Länderreport 32 – Libanon, Stand 12/2020, S. 6). Das Land ist auf die Einfuhr von Gütern wie auf Zufluss von Devisen angewiesen, die in erster Linie durch Remittenten aus dem Ausland erbracht werden. Diese Wirtschaft wurde möglich gemacht durch ein Finanzsystem, das einem Ponzi-Schema ähnelt: die Staatsbank (Banque Du Liban) hielt den seit 1997 bestehenden festen Wechselkurs der libanesischen Lira zum Dollar nach dem im Oktober 2019 einsetzenden Währungsverfall künstlich aufrecht und verhinderte den Abfluss von Devisen (BAMF, ebd.); wichtige Güter wie Nahrungsmittel – 85 % werden importiert –, Treibstoff oder Medikamente wurden subventioniert, indem die Staatsbank Devisen zum offiziellen Wechselkurs bereitstellte. Dieses System ist zusammengebrochen. Die Dollar-Reserven der Banken sind aufgebraucht, die Lira hat auf dem Schwarzmarkt mehr als 90 % ihres Wertes verloren (Congressional Research Service, Focus Lebanon, Stand 21.04.2021, S. 29). Die durch einen Kollaps des Banken- und Finanzsystems ausgelöste und durch die Zerstörung des Beiruter Hafens am 04.08.2020 sowie die COVID-19-Pandemie weiter stark verschärfte Wirtschaftskrise, in deren Zuge die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung ihre Ersparnisse verloren hat, hat unter anderem zu einer Hyperinflation geführt, die nicht durch einen Anstieg von Löhnen kompensiert wird.

Insbesondere die Preise für Lebensmittel sind so stark gestiegen, dass viele Geschäfte vorübergehend gar keine Lebensmittel mehr anbieten können und sich die Preise unter anderem für Grundnahrungsmittel vervielfacht haben. Die Verteuerung der Lebensmittel lag bei circa 200 % Stand Juni 2020 (Zeit online: Hälfte der Lebensmittelbestände im Libanon bald aufgebraucht, 01.02.2021,https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/corona-wirtschaftskrise-libanon-lebensmittel-nahrungsversorgung-armut-lockdown). Die Verteuerung einiger Grundnahrungsmittel hat bis August 2021 sogar 350 % erreicht (Euro-Med Human Rights Monitor, Lebanon: Falling Into The Abyss, August 2021, S. 7). Die Inflation wird durch den beabsichtigten und zum Teil bezüglich Benzin und Weizen bereits durchgeführten Wegfall der staatlichen Subventionierung insbesondere von Lebensmitteln voraussichtlich noch weiter ansteigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, 04.01.2021, S. 20; Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 8; zur Einstellung der Subventionen für Treibstoffimporte: BAMF Briefing Notes. 16.08.2021, S. 9).

Die Verknappung von Treibstoff hatte auch negative Auswirkungen auf die Stromversorgung, die erheblich eingeschränkt ist (vgl. Spiegel Online: Stromkrise im Libanon, der perfekte Kurzschluss, 15.05.2021, https://www.spiegel.de/ausland/libanon-strom-krise-der-perfekte-kurzschluss-a-a8482a17-1bdd-4022-995d-c322205aeb06). Auch private Betreiber von Stromgeneratoren haben immer größere Probleme, den für den Betrieb der Generatoren erforderlichen Treibstoff zu erhalten, zumal die Banken vielfach die für den Einkauf erforderlichen Kredite nicht auszahlen. Hinzu kommt schließlich, dass dem öffentlichen Wasserversorgungssystem akut der Kollaps droht. Es gibt weder ausreichend Elektrizität noch Treibstoff, um Wasserpumpen umfassend funktionstüchtig zu erhalten, noch hinreichend Ersatzteile oder beispielsweise Chlor, um die Trinkwassersicherheit zu gewährleisten. Nach einem Bericht der UNICEF droht die Wasserversorgung von etwa 4 Millionen Menschen im Libanon zusammenzubrechen (vgl. Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 34 ff m.w.N.)

Das im regionalen Vergleich bislang gut ausgestattete Gesundheitssystem ist ebenfalls unter Druck geraten, da die meisten Medikamente eingeführt werden müssen. Seit Oktober 2019 stellte die Banque du Liban für 85 % des Warenwertes Devisen bereit und subventionierte so die Einfuhr zum günstigen offiziellen Wechselkurs (BAMF, Länderreport, a.a.O., S. 10). Der regional günstige Preis von Medikamenten führte zu Schmuggel ins Ausland in erheblichem Umfang, zu Vorratskäufen und Zurückhalten von Medikamenten durch die Importunternehmen, so dass bereits Ende 2020 zahlreiche Apotheken mangels Ware schließen mussten (BAMF, Länderreport, ebd.). Die Subventionierung des Imports wurde im Sommer 2021 eingestellt (Euro-Med Human Rights Monitor, Lebanon: Falling Into The Abyss, August 2021, S. 8). Mittlerweile können Medikamente wegen des Devisenmangels nur noch sehr begrenzt importiert werden (BAMF, Briefing Notes, 16.08.2021, S. 9).

Die Armut in der libanesischen Bevölkerung ist im Verlauf der anhaltenden schweren Wirtschaftskrise rasant angestiegen. Bereits 2019 konnten 28 % der libanesischen Bevölkerung nicht das Existenzminimum selbständig durch Einkommen erwirtschaften, wobei bereits vor der Explosion des Beiruter Hafens geschätzt wurde, dass dieser Wert im Laufe des Jahres 2020 auf 55 % steigen würde (BAMF, Länderreport, a.a.O., S. 6). In absoluter Armut lebten 2020 geschätzte 23 % der Bevölkerung (ebd.). Geschätzte 77 % der Familien verfügen nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um genügend Lebensmittel zu kaufen (Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 43, a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Die Arbeitslosigkeit in der libanesischen Bevölkerung liegt derzeit nach Schätzungen bei über 30 % (vgl. Auswärtiges Amt, 04.01.2021, S. 20; Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 61, wonach die Arbeitslosigkeit bei knapp 37 % liegen soll). Etwa 37 % der Beschäftigten verdienen weniger als 1 Mio. libanesische Lira, was im August bei einem Schwarzmarkt-Wechselkurs von 8500 Lira je Dollar umgerechnet 117 Dollar entsprach (Euro-Med Human Rights Monitor, ebd.).

Unter diesen Umständen werden die Kläger wegen ihrer individuellen Situation, die im Wesentlichen durch die schwere Erkrankung des Klägers zu 4) und seiner andauernden Behandlungsbedürftigkeit geprägt ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in zeitlichem Zusammenhang mit einer Abschiebung ihre elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen können.

In seiner gutachterlichen Stellungnahme vom XX.XX.2020 (GA Bl. 150 ff.) führt der Sachverständige Prof. Dr. med. L. nachvollziehbar aus, dass die Herzerkrankung des Klägers zu 4) auch in Zukunft regelmäßige kinderkardiologische Verlaufsuntersuchungen erforderlich machen wird (GA Bl. 152 f.). Sie sind zunächst in einem Abstand von sechs Monaten erforderlich und zielen darauf ab, Komplikationen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, die bei etwa 25 % der Patienten mit einer Fontan-Zirkulation auftreten, namentlich Herzinsuffizienz, bedrohliche Herzrhythmusstörungen, eine Leberfunktionsstörung sowie das Auftreten von malignen Lebertumoren. Zudem kann es zum Auftreten einer Eiweißverlust-Enteropathie kommen. Hinzu kommen die Folgen der Hirninfarkte, den der Kläger zu 4) nach der letzten Operation erlitt. Das Kind ist seitdem wesensverändert und leidet an erheblichen, anhaltenden Entwicklungsverzögerungen. Es benötigte eine Rehabilitationsmaßnahme, weil es nach der Operation nicht mehr selbständig laufen konnte. Aus dem Entlassungsbericht des neurologischen Rehabilitationszentrums vom 14.08.2020, das dem Sachverständigengutachten beigegeben ist (GA Bl. 161 f.), geht hervor, dass der Kläger zu 4) auch nach Abschluss der Maßnahme an schweren Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen der Lern- und Merkfähigkeit, Störung der Orientierung, Unruhe, geringer Rücksichtnahme und geringfügigen motorischen Defiziten leidet. Der Bericht schließt mit der Anmerkung, es bestehe dringender Bedarf für eine weitere ambulante neuropsychologische Anbindung und Behandlung. Es bestehe durch das Schädigungsereignis ein erworbenes Entwicklungsrisiko, das eine Intervallbehandlung nach etwa einem Jahr indiziere (GA Bl. 166). Zum für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestehen die Entwicklungsstörungen fort. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Einzelrichterin zunächst daraus, dass bei dem Kläger zu 4) ein Grad der Behinderung von 60 festgestellt ist (GA Bl. 198) und er eine Schulbegleitung hat. Ausweislich des Arztberichts der behandelnden Kinderpsychiaterin vom 30.04.2021 (GA Bl. 203 ff.) benötigt er umfangreiche Hilfestellungen im Alltag, weil auch schon erworbene Fähigkeiten verloren gegangen sind. Bedingt durch mangelnde Impulskontrolle und Defiziten in der Gefahreneinschätzung benötigt er Begleitung. Er besucht eine inklusive Grundschule. Auch nach den glaubhaften Schilderungen der Kläger 1) und 2) und dem persönlichen Eindruck vom Kläger zu 4), der in der mündlichen Verhandlung vom 27.09.2021 anwesend war, leidet der Kläger zu 4) an einer erheblichen Behinderung. Die Mutter führte aus, er sei auf dem Entwicklungsstand einer Vierjährigen; da er Gefahren nicht erkennen könne, könne sie ihn zu keiner Zeit alleine lassen, wenn er nicht in der Schule sei.

Diese krankheitsbedingten Umstände werden es den Klägern zu 1) und 2) im Fall einer Rückkehr in den Libanon nach Einschätzung der Einzelrichterin unmöglich machen, zu zweit ein Familieneinkommen zu erwirtschaften. Die Lage der Familie wird noch erschwert durch den älteren Sohn, der an ADHS leidet, und das Kleinkind. Damit wird die Aufgabe, für ein Einkommen zu sorgen, nach aller Wahrscheinlichkeit bei einem einzigen Elternteil liegen. Weder der Kläger zu 1) noch die Klägerin zu 2) haben gutbezahlte Ausbildungsberufe; der Kläger zu 1) ist Friseur, die Klägerin zu 2) Erzieherin. Unter den oben dargestellten wirtschaftlichen Bedingungen wird einer von ihnen nicht das Existenzminimum für die fünfköpfige Familie erwirtschaften können. Anders als von der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 14.12.2020 (GA Bl. 175 ff.) angenommen ist nicht davon auszugehen, dass die im Libanon lebenden Familienangehörigen ein soziales und wirtschaftliches Netz bereitstellen können, um die über dem Durchschnitt gesunder Familien liegende Grundversorgung der Kläger zu gewährleisten. Hierzu haben die Kläger zu 1) und 2) in der mündlichen Verhandlung vom 27.09.2021 nachvollziehbar dargelegt, dass ihre Geschwister, soweit sie arbeiten, als Tagelöhner (Kläger zu 1) bzw. als Schulbegleiterin und Armeeangehöriger (Klägerin zu 2) arbeiten und kaum genug Einkommen für das eigene Überlegen erwirtschaften. Die Wirtschaftskrise hat auch die erweiterte Familie der Kläger fest im Griff.

Dazu kommen die Aufwendungen für die Behandlung des Klägers zu 4). Die Beklagte hat zwar darauf hingewiesen, dass die vom Kläger zu 4) regelmäßig einzunehmenden Medikamente zu erlangen wären, und zwar für einen Preis von umgerechnet 12,50 EUR pro Monat. Wegen der Verfügbarkeit beruft sie sich auf Auskünfte vom November 2016 (GA Bl. 176), die im Hinblick auf die Gesundheitskrise des Libanon längst überholt sind. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Kläger im Libanon krankenversichert wären, was die Ausnahme ist. Unabhängig von der Verfügbarkeit der Medikamente wären sie (ausgehend vom Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt) in libanesischen Lira etwa 120.000 Lira teuer. Bei dieser Proberechnung wird ein Preis von 14 US-Dollar zugrunde gelegt und ein Wechselkurs von 1:8500. Der Betrag übersteigt bereits das monatliche Einkommen von einem Drittel der Beschäftigten im Land, das bei 83.000 Lira liegt (1 Mio. Lira geteilt durch 12). Schließlich sind die regelmäßigen Besuche bei Kardiologen und Neurologen ebenfalls privat zu bezahlen.

Da die wirtschaftliche Situation im Libanon landesweit dieselbe ist, können die Kläger auch nicht auf einen anderen Landesteil als Beirut verwiesen werden. Ihnen droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verelendung, die durch Rückkehrhilfen und Bevorratung von Medikamenten nur aufgeschoben werden kann.

Schließlich können auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in den streitgegenständlichen Bescheiden keinen Bestand haben. Dies folgt bereits aus § 34 Abs. 1 AsylG, wonach das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung erlässt, wenn u.a. die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass für eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nach dem Willen des Gesetzgebers dann kein Raum ist, wenn Abschiebungsverbote vorliegen oder – wie hier aufgrund des vorliegenden Urteils – festzustellen sind. Zur Klarstellung ist in der Folge auch das Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Kläger aufzuheben, das das rechtliche Schicksal der übrigen Nebenentscheidungen teilt.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.