Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 11.06.2018, Az.: 6 A 7325/16

Anhörung; Bundesamt; Ehre; Ehrenmord; Entführung; interner Schutz; Irak; Kurdische Autonomieregion; Kurdistan; Protokoll; Rückübersetzung; Stamm; Stammesrecht; Voreheliche Beziehung; Vorehelicher Geschlechtsverkehr

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
11.06.2018
Aktenzeichen
6 A 7325/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 73969
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

Der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2016 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

3. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus.

Er reiste am 2. Februar 2016 aus dem Irak aus und auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er in der zuständigen Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag stellte, den er in der persönlichen Anhörung auf den Antrag auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz beschränkte.

Zur Begründung führte er in seiner persönlichen Anhörung am 21. November 2016 aus, er habe den Irak verlassen, da er eine voreheliche Beziehung mit einem Mädchen geführt und deren Familie ihn infolgedessen mit dem Tode bedroht habe.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte der Kläger ausweislich der Feststellungen im Anhörungsprotokoll des Bundesamts, er habe bis zu seiner Ausreise in der Provinz Erbil in der gleichnamigen Stadt gelebt. Nach einem neunjährigen Schulbesuch habe er beruflich als Kraftfahrer gearbeitet. Sein Vater und seine Mutter lebten mittlerweile nicht mehr in Erbil, sondern in einem Vorort von Kirkuk. Seine zwei Brüder, zwei Schwestern und weitere Angehörige seiner Großfamilie hielten sich ebenfalls im Irak auf. Auf die Gründe seiner Flucht angesprochen, teilte er mit, er habe ein Mädchen kennengelernt und sich in sie verliebt. Das Mädchen stamme aus einer sehr gläubigen Familie. Seine Familie habe sich dann mit der Familie seiner Freundin getroffen und um ihre Hand angehalten. Ihr Vater habe aber abgelehnt, weil er, der Kläger, Alkohol trinke. Infolgedessen hätten seine Freundin und er Anfang 2016 beschlossen, gemeinsam wegzulaufen. Jedoch habe ihn die Familie des Mädchens gefunden, zusammengeschlagen und mit einem Messer verletzt. Nachdem er entkommen sei, habe er nochmals versucht, sich mit der Familie des Mädchens zu einigen. Dessen Vater habe ihn jedoch weiterhin bedroht. Sein Vater habe daraufhin sein Auto verkauft, um die Reise seines Sohnes nach Europa zu finanzieren. Seine Familie habe die Stadt ebenfalls verlassen und sei nach Kirkuk gezogen. Auf Nachfrage des Entscheiders, weshalb der Kläger die Polizei nicht eingeschaltet habe, erklärte dieser, es handele sich um eine familiäre Geschichte; bei derartigen Situationen werde die Polizei nicht eingeschaltet. Er habe auch nicht zu seiner Familie nach Kirkuk gehen können, weil die Familie des Mädchens ihm gedroht habe, er solle den Irak gänzlich verlassen. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, dass die Familie des Mädchens ihn finden und töten würde.

Mit Bescheid vom 22. November 2016, dem Kläger zugestellt am 25. November 2016, erkannte das Bundesamt dem Kläger weder die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) noch den subsidiären Schutzstatus (Nr. 2) zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 3). Zudem drohte es die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 5. Dezember 2016 Klage erhoben und zudem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Zur Begründung führt er aus, der im angefochtenen Bescheid bzw. dem Anhörungsprotokoll dargelegte Sachverhalt sei nur teilweise zutreffend und gebe die wesentlichen Punkte der Verfolgungsgeschichte des Klägers nicht wieder. Ergänzend führte der Kläger u.a. aus, er habe im Jahr 2015 als damals 19jähriger das 18jährige Mädchen D. kennengelernt. Nach Ablehnung seines Heiratsantrages habe er dann, wie beim Bundesamt geschildert, Anfang Januar 2016 entschieden, mit seiner Freundin von zuhause wegzulaufen. Sie hätten dann eine Woche in der Stadt Sulaimaniyya bei einem Freund des Klägers gelebt und eine außereheliche Beziehung gehabt. Der Vater seiner Freundin, welcher bei den kurdischen Sicherheitskräften („Asayish“) beschäftigt sei, sei außer sich gewesen und habe seine Familienangehörigen mobilisiert, um den Kläger und seine Freundin zu finden. Nach einer Woche hätten die Familienangehörigen das Liebespaar entdeckt, den Kläger zusammengeschlagen und mit einem Messer verletzt. Zudem hätten sie die Freundin des Klägers mitgenommen. Er selbst habe mit Hilfe seines Freundes fliehen können. Ein abermaliger Versuch seines Vaters, den Streit mit der Familie des Mädchens zu klären, sei gescheitert. Der Vater seiner Freundin sei außer sich gewesen und habe ihm mit dem Tod gedroht. Sein eigener Vater sei infolgedessen schockiert gewesen und habe unverzüglich die Ausreise seines Sohnes vorbereitet sowie den Umzug der übrigen Familie nach Kirkuk veranlasst.

Der angefochtene Bescheid setze sich auch nicht im hinreichenden Maße mit dem Verfolgungsschicksal des Klägers auseinander. Für das konkrete Verfolgungsschicksal sei das komplexe Verhältnis zwischen der sozialen Gesichtswahrung der Familie seiner Freundin und dem Ehrenmord ausschlaggebend. Die außereheliche Beziehung sei aus Sicht des Vaters seiner Freundin eine Sünde, welche die Ehre der Familie verletzte und – auch auf Basis des in der kurdischen Autonomieregion vorherrschenden sozialen Drucks – seine Tötung geboten habe. Die einzige Alternative aus Sicht des Vaters seiner Freundin sei es gewesen, dass er das Land verlasse. In diesem Fall würde nämlich der Kläger wegen der furchtsamen Flucht sein Gesicht verlieren, während man dem Vater nicht vorwerfen könne, tatenlos zu sein. Sein Verbleib im Irak hätte dagegen die Botschaft ausgesendet, dass er zu seiner Tat stehe. Er hätte auch keinen effektiven Schutz erwarten können. Erstens gehöre der Vater seiner Freundin zu den einflussreichen Sicherheitskräften. Zweitens sei das Risiko einer staatlichen Verfolgung von Ehrenmördern ohnehin sehr gering. Drittens konnte er nicht mit dem Schutz seiner eigenen (machtlosen) Familie rechnen. Viertens sei er auch nach einem vorherigen Wohnsitzwechsel bereits aufgespürt worden, was auf den erheblichen Einfluss des Vaters seiner Freundin hindeute. Schließlich sei das Risiko einer Entdeckung nochmals deshalb erhöht, weil er lediglich den Beruf des Kraftfahrers erlernt habe, auf öffentliche Aufträge angewiesen sei und sich ständig im öffentlichen Raum aufhalte.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 29. Januar 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen, der dem Kläger mit Beschluss vom 3. Mai 2018 Prozesskostenhilfe bewilligt hat.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. November 2016 zu verpflichten,

1. dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

2. hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.

Bezüglich des Inhalts der Anhörung des Klägers wird verwiesen auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 11. Juni 2018. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 11. Juni 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Der Bescheid des Bundesamtes vom 22. November 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

1.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gem. § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG, weil er stichhaltige Gründe (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, n.v.; Beschluss vom 26.08.2016 - 9 ME 146/16 -, n.v.) für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2 AsylG durch einen in § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3 c AsylG genannten Akteur droht. Prognosemaßstab für die Relevanz des drohenden Schadenseintritts ist die Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Nds. OVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 34; VG Lüneburg, Urteil vom 10.07.2017 – 3 A 205/16 –, juris Rn. 16). Abzustellen ist darauf, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für einen Schadenseintritt sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass die für einen Schadenseintritt sprechenden Umstände bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht aufweisen als die dagegensprechenden Umstände. Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Eintritt eines ernsthaften Schadens im Irak droht, die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem derartigen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor einem derartigen Schaden begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Der Kläger hat bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG erlitten.

Die Auslegung des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG und seiner Begriffe orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf (Nds. OVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 24 zu § 4 AsylVfG; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15/12 -, juris Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG a.F.; VG Lüneburg, Urteil vom 10.07.2017 – 3 A 205/16 –, juris Rn. 17). Ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls ab, wie etwa der Art und dem Kontext der Fehlbehandlung, der Dauer, den körperlichen und geistigen Auswirkungen, sowie - in einigen Fällen - vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25 unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 04.11.2014, - 29217/12, Tarakhel ./. Switzerland - HUDOC Rn. 94; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17). Eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa dann angenommen, wenn sie unter anderem geplant war, ohne Unterbrechung über mehrere Stunden erfolgte und körperliche Verletzungen oder ein erhebliches körperliches oder seelisches Leiden bewirkte (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25; jeweils unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 09.07.2015 - 32325/13, Mafalani ./. Croatia - HUDOC Rn. 69 m.w.N.; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17). Von einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ist der Gerichtshof ausgegangen, wenn sie bei dem Opfer Gefühle der Angst, seelischer Qualen und der Unterlegenheit hervorruft, wenn sie das Opfer in dessen oder in den Augen anderer entwürdigt und demütigt, und zwar unabhängig davon, ob dies beabsichtigt ist. Entsprechendes gilt dann, wenn die Behandlung den körperlichen oder moralischen Widerstand des Opfers bricht oder dieses dazu veranlasst, gegen seinen Willen oder Gewissen zu handeln sowie dann, wenn die Behandlung einen Mangel an Respekt offenbart oder die menschliche Würde herabmindert (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25; jeweils unter Bezugnahme auf EMGR, Urteil vom 03.09.2015 - 10161/13, M. und M. ./. Croatia - HUDOC Rn. 132; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen des Eintritts eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG vor. Es steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der Kläger im Irak infolge einer vorehelichen Liebesbeziehung zu seiner Freundin erhebliche gewaltsame Übergriffe durch deren männliche Verwandte erlitten hat und mit dem Tode bedroht wurde.

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel besteht im Irak, insbesondere auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion, aufgrund der vorherrschenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen nach Lage des Einzelfalls das beachtliche Risiko für Frauen oder Männer, bei Eingehen einer vorehelichen Beziehung Opfer gewaltsamer Übergriffe zu werden, die bis hin zum sogenannten „Ehrenmord“ reichen können (vgl. Artikel der International Policy Digest vom 7. Juni 2017, „Honor Killing through Sulaimaniya’s Lens“). Bei heterosexuellen Beziehungen kommen dabei als Täter bei Frauen vor allem die eigenen männlichen Verwandten in Betracht, bei Männern die männlichen Verwandten der Partnerin.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich stellt in diesem Zusammenhang in seinem den Irak betreffenden Länderbericht des Jahres 2017 fest (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 138 ff.):

„Ehrenverbrechen bleiben im ganzen Land weiterhin ein ernstzunehmendes Problem (USDOS 3.3.2017), das sich derzeit sogar zunehmend verschärft. Die Gründe dafür sind u.a. die schwachen Strafverfolgungsbehörden, die Milizen, die stark an Macht gewonnen haben, sowie die zunehmende Verbreitung besonders strenger und konservativer religiöser Werte (IISS 15.5.2017). Ehrenmorde werden meist begangen, nachdem eine Frau eines der folgenden Dinge getan hat, oder dessen verdächtigt wird: eine Freundschaft oder voreheliche Beziehung mit einem Mann einzugehen, sich zu weigern einen von der Familie ausgewählten Mann zu heiraten, gegen den Willen der Familie zu heiraten, Ehebruch, oder das Opfer einer Vergewaltigung oder Entführung zu sein. Solche Verletzungen der Ehre werden in der irakischen Gesellschaft als unverzeihlich angesehen und können aus Sicht dieser häufig nur getilgt werden, im dem man die Frau tötet. (Anm.: Auch Männer können Opfer von Ehrenverbrechen werden – s. dazu z.B. auch Abschnitt „Sexuelle Minderheiten“). Ehrenverbrechen passieren in allen Gegenden des Irak und bei allen ethnischen und religiösen Gruppen. Es ist jedoch schwer, das wahre Ausmaß von Ehrenverbrechen im Irak zu erfassen, da viele Fälle nicht angezeigt werden (MRG 4.11.2015). […] Ehrenverbrechen sind in der KRI nach wie vor ebenso weit verbreitet wie im Rest-Irak, einigen Meinungen zufolge sogar weiter verbreitet. Ehrenmorde sind in ländlichen Gebieten weiter verbreitet als in städtischen (IISS 15.5.2017) und es gibt in unterschiedlichen Gebieten verschiedene Ausprägungen. […]

Per Definition werden Ehrenmorde von einem Familienmitglied ausgeführt, es kann aber auch sein, dass die Großfamilie, der Clan, die Gemeinde, der Stamm, eine bewaffnete Gruppe oder anderen externe Akteure Druck auf die Familie ausüben, ein Familienmitglied zu töten, das vermeintliche Schande über die Familie gebracht hat (AIO 12.6.2017, vgl. IISS 15.5.2017). In anderen Fällen begehen Frauen Selbstmord, u.a. durch Selbstverbrennung, weil sie befürchten, von ihrer Familie getötet zu werden, oder sie werden zum Selbstmord gezwungen oder genötigt (AIO 12.6.2017).“

Das Deutsche Orient Institut (DOI) führt in Bezug auf die kurdische Autonomieregion in einer Stellungnahme aus Mai 2017 aus (DOI, Stellungnahme vom 3. Mai 2017 gegenüber dem Verwaltungsgericht Wiesbaden, – Auskunft zum Beschluss 13 K 8604/16, S. 2 f.):

„Die Bevölkerung des kurdischen Tells des Irak hat nach wie vor einen relativ hohen Grad an tribalen, patriarchalen Strukturen. Dies ist tendenziell vermehrt in ländlichen Gebieten der Fall. Da ein großer Teil der mittlerweile in den urbanen Zentren der Region lebenden Menschen allerdings erst im Zuge der seit einigen Jahrzehnten anhaltenden Urbanisierung in die Städte zog, sind auch dort solche Beziehungen noch immer relevant. Somit existiert nach wie vor ein Normenkatalog, der vom kodifizierten irakischen (Straf)Recht abweicht. Letzteres stuft das Töten im Zusammenhang mit der Familienehre explizit als Mord ein. Gleichsam kommt es selten zu Verurteilungen und wenn sind nur geringe Strafen zu erwarten.

In diesen wie bereits erwähnt patriarchal strukturierten Beziehungen besteht ein ausgeprägtes Ehrverständnis. Dieses hat die Ehre der Familie — bzw. erweitert auch die des Clans oder Stammes — zum Gegenstand. Die Wahrung oder der Verlust der Familienehre ist an das Einhalten und Befolgen sozialer Traditionen und Normen gebunden. Besonders weibliche Familienmitglieder sind hiervon betroffen, denn ihr Verhalten bedingt die Familienehre direkt. Männer oder Jungen werden in der Regel nur im Falle homosexueller Kontakte bestraft. Ein entscheidender Teil dieses Ehrverständnisses sowie dessen, was solche Normen und Traditionen beinhalten, ist das Sexualleben der weiblichen Familienmitglieder. Jedweder Fall von vor- oder außerehelichen sexuellen Verhältnissen, inklusive Vergewaltigungen, wird als Bedrohung der Familienehre gesehen. Weitere Berichte führen zudem Heiraten ohne Zustimmung der Familie, das Abweichen von Kleidungsvorschriften oder Kontakt zu Männern außerhalb der eigenen Familie als Faktoren auf.

Diese Familienehre zu wahren, obliegt indes den männlichen Familienmitgliedern. Sollten sie also von (als solchem wahrgenommenen) „Fehlverhalten" erfahren, ist es dem Ehrverständnis folgend ihre Aufgabe, einzugreifen. Für die weiblichen Familienmitglieder hat dies oftmals körperliche Bestrafung bis hin zu „Ehrenmorden” zur Folge. Im Falle von Vergewaltigungen kann die Frau auch gezwungen werden, den Täter zu heiraten. Des Weiteren folgt oftmals eine soziale Brandmarkung, die das soziale Leben sowie etwaige berufliche Perspektiven der Frau enorm einschränkt.

Die offizielle Zahl der „Ehrenmorde" liegt in der Regel zwischen 50 und 60 im Jahr. Allerdings stimmen Experten überein, dass die Dunkelziffer um einiges höher liegen dürfte. Denn nur wenn Vorfälle offiziell gemeldet werden, erscheinen sie in der Statistik. Gleichsam bedingt jedoch die bereits angesprochene Parallelstruktur des Clans, dass dies nicht geschieht.“

In einem im Jahr 2012 veröffentlichten Studienbericht stellt das Staatssekretariat für Migration der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Staatssekretariat für Migration, Report on Joint Finnish-Swiss Fact-Finding Mission to Amman and the Kurdish Regional Government (KRG) Area, May 10-22, 2011, 1. Februar 2012) zudem fest, nach Auskunft der örtlichen Nichtregierungsorganisation Asuda for Combating Violence against Women seien Ehrenmorde heutzutage in der kurdischen Autonomieregion nicht (mehr) üblich, würden jedoch weiterhin geschehen, im Vergleich zum restlichen Irak sogar überdurchschnittlich oft (Staatssekretariat für Migration, a.a.O., S. 37). Nach Schätzung der Nichtregierungsorganisation WADI seien seit dem Jahr 1991 ca. 10.000 Frauen Opfer von Ehrenmorden oder Selbstverbrennungen geworden. Im Vergleich zu den 1990er Jahren seien die Todeszahlen zurückgegangen, insbesondere in Städten. Moderne Kommunikationsformen hätten jedoch neue Risiken geschaffen, da einige Frauen getötet worden seien, nachdem sie über Mobiltelefone Kontakt zu Männern aufgenommen hätten (Staatssekretariat für Migration, a.a.O., S. 41; siehe ferner: Artikel des Independent vom 16. Mai 2008, „How picture phones have fuelled frenzy of honour killings in Iraq“).

Nach Erkenntnissen des Danish Immigration Service entspricht es überdies in der männlich dominierten kurdischen Gesellschaft der Norm, dass junge Männer außereheliche sexuelle Kontakte suchten, auch unter Inkaufnahme der hierdurch drohenden Gefahren. Nach Auskunft örtlicher Quellen seien Männer gleichermaßen von dem Risiko betroffen, Opfer von Ehrenverbrechen zu werden (Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 3). Das Immigration and Refugee Board of Canada (IRB) führt in einer Stellungnahme aus Februar 2016 zudem aus, nach Angabe eines gemeinsamen Berichts des Ceasefire Centre for Civilian Rights und der Minority Rights Group International (MRG) aus dem Jahr 2015 würden Männer gelegentlich Opfern von durch Ehrvorstellungen motivierten Gewaltakten; manchmal wende eine Familie auch tödliche Gewalt an, um die Familienehre wiederherzustellen (IRB, Iraq: Honour-based violence in the Kurdistan region; state protection and support services available to victims, 12. Februar 2016, S. 5 der Druckversion). Das Europäische Zentrum für Kurdische Studien (EZKS) führt darüber hinaus in einer gerichtlichen Auskunft aus dem Jahr 2005 aus (EZKS, Auskunft vom 12. September 2005 gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach – AN 9 K 04.32509), die voreheliche Jungfräulichkeit der Frau zähle in breiten Gesellschaftsschichten des Irak zu den zentralen moralischen Grundwerten, die es unter allen Umständen zu bewahren gelte. Ein Verstoß gegen dieses Gebot werde als Verstoß gegen die Familienehre gewertet, insbesondere als Verletzung der männlichen Ehre der Familienmitglieder, denen es offensichtlich nicht möglich gewesen sei, die Frau zu schützen bzw. ihr Handeln zu kontrollieren (EZKS, a.a.O., S. 1 f.). Dem Bericht des Danish Immigration Service aus dem Jahr 2010 zufolge werde im Falle einer außerehelichen sexuellen Beziehung in einer ländlichen Gegend der Vater eines Mädchens (oder der Ehemann einer Frau) zunächst mit hoher Wahrscheinlichkeit die Betreffende töten; danach bestünde eine erhebliche Gefahr für ihren Partner, ebenfalls getötet zu werden (Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 7). Unabhängig von der grundsätzlichen Wertschätzung vorehelicher Jungfräulichkeit, so das Europäische Zentrum für kurdische Studien, seien indessen unterschiedliche Reaktionen der Familie denkbar, d.h. von der Tötung der Frau bis hin zur forcierten Eheschließung mit dem Betroffenen oder einem ausgewählten heiratswilligen Dritten; unter Umständen auch die Versöhnung mit dem Paar nach Jahren der Flucht, insbesondere, wenn männliche Nachkommen aus der Verbindung hervorgegangen seien. Auch hier bestehe jedoch kein Automatismus, d.h. die familiäre Versöhnung sei nicht selbstverständlich. Dass eine Familie nicht mit Repressionen auf voreheliche sexuelle Kontakte einer Tochter reagiere, sei die absolute Ausnahme. Insbesondere gebe es keine allgemeingültige „Verjährungsfrist“, so dass tödliche Gewalt auch noch nach Jahren verübt werden könne (EZKS, a.a.O., S. 2 f.). Der Danish Immigration Service hebt in diesem Zusammenhang ebenfalls hervor, das Gut der familiären Ehre sei in der kurdischen Gesellschaft elementar. Verstöße hiergegen würden mit zunehmendem Zeitablauf nicht an Bedeutung verlieren, vielmehr könne die verletzte Familie noch über Jahre oder gar über Generationen hinweg Vergeltung suchen (Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 3). Sofern die Familie einem geflohenen Paar nicht bereits aktiv nachstellt und sodann Gewalt ausübt, sind auch Fälle dokumentiert, in denen der tödliche Angriff erfolgte, nachdem die Familie das Paar zunächst unter dem Deckmantel der Versöhnung zur Rückkehr bewegt hatte (Staatssekretariat für Migration, Report on Joint Finnish-Swiss Fact-Finding Mission to Amman and the Kurdish Regional Government (KRG) Area, May 10-22, 2011, S. 42). Zudem werden nach Erkenntnissen des Europäischen Zentrums für kurdischen Studien Stammesverbindungen dafür eingesetzt, um Personen aufzuspüren, an denen Blutrache ausgeübt werden soll, auch wenn es keinen Erfahrungssatz dahingehend gibt, dass sich sämtliche Stammesangehörige an einer Suche beteiligen. Ein besonderes Entdeckungsrisiko bestehe dann, wenn der betreffende Stamm zu den besonders einflussreichen Stämmen zähle, deren Angehörige mehrheitlich eine Nähe zur Demokratischen Partei Kurdistan aufwiesen und exponierte Positionen im Staatsapparat besetzten (EZKS, Auskunft vom 14. Juli 2006 gegenüber dem VG Regensburg – RO 4K 05.30031, S. 2).

Schließlich weist das Deutsche Orient Institut in einem Gutachten aus dem Jahr 2002 darauf hin, in bestimmten Gegenden Kurdistans habe sich die Praxis etabliert, eine etwaige Weigerung des Familienvaters, seine Tochter an jemanden zu verheiraten, durch eine „Entführung“ der Auserwählten zu beantworten und damit eine Verbindung zu erzwingen. In diesen Fällen würden die männlichen Verwandten der Frau eine erhebliche „Mitschuld“ an dem Vorfall zuschreiben, d.h. es werde schlichtweg unterstellt, dass sie den Mann durch offene oder versteckte Andeutungen zu seiner Tat ermutigt habe (DOI, Gutachten vom 23. Januar 2002 gegenüber dem VG Greifswald -1035 al/br, S. 1 f.). Anderen Quellen zufolge handelt es sich hierbei um eine in weiten Teilen Kurdistans verbreitete Praxis, die üblicherweise keinen Zwang im eigentlichen Sinne beinhalte, sondern das Resultat gegenseitiger Anziehung und einverständlichen Zusammenwirkens der Beteiligten sei. Diese Brautentführung ziele darauf ab, durch eine hinreichend große räumliche Trennung zum Wohnort der Familie die Vormundstellung des Brautvaters zu brechen, um sodann durch Zwischenschaltung eines angesehenen Mediators eine friedliche Übereinkunft mit ihm zu schließen, wobei an die Eltern der Braut regelmäßig neben dem Brautpreis noch eine Entschädigung für den erlittenen Ehrverlust zu zahlen sei. In Fällen, in denen zwischen den beteiligten Familien keine soziale bzw. standesmäßige Gleichheit bestehe, sei es jedoch manchmal unmöglich, eine friedliche Einigung zu erzielen. In diesen Fällen könne es zu erheblichen Gewaltakten kommen (Jwaideh, The Kurdish National Movement: Its Origins and Development, 1960, S. 47; hierzu auch: UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 7.5.1 f.).

Die vorgenannten Erkenntnisquellen zur Gefahr von Ehrenmorden bei vorehelichen Beziehungen in der kurdischen Autonomieregion finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Das Gericht ist aufgrund der insgesamt glaubhaften und substantiierten Ausführungen des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass ihn der Vater sowie die Brüder seiner Freundin wegen deren „Entführung“ zur Herbeiführung einer Eheschließung zusammengeschlagen sowie mit einem Messer verletzt haben und ihn auch weiterhin mit erheblichen Gewalttaten bedrohen.

Die diesbezüglichen Erörterungen des Klägers wiesen hinreichende Realitätskennzei-chen auf, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum unter Wiedergabe außergewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Wiedergabe von Nebenhandlungen und räumlich-zeitlichen Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung im entscheidungsrelevanten Kernbereich als konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Soweit er in einzelnen Punkten gegenüber den beim Bundesamt protokollierten Aussagen abwich, konnte er dem Gericht hierfür plausible Gründe dartun. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf den Inhalt der ausführlichen Sitzungsniederschrift verwiesen.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung detailliert geschildert, wie er seine Freundin D. Anfang des Jahres 2015 in seiner Nachbarschaft kennengelernt und mit ihr Telefonnummern ausgetauscht habe. Anschließend hätten sie regelmäßig telefoniert und irgendwann entschieden, dass sie heiraten möchten. An dem Tag des Antrages seien er, sein Vater, seine Mutter und seine Geschwister zur Familie seiner Freundin gegangen. Der Vater seiner Freundin, ein strenggläubiger Moslem, habe sich zuvor bereits über ihn erkundigt gehabt. Hintergrund sei gewesen, dass seine Mutter zuvor bereits einmal mit ihrer Mutter gesprochen und angekündigt habe, dass ihr Sohn ihre Tochter heiraten wolle. Sein zukünftiger Schwiegervater hätte Informationen über ihn eingeholt und dadurch erfahren, dass er Alkohol trinke. Er habe den Antrag abgelehnt und sei auch bei seiner Meinung geblieben, als sein eigener Vater, auf seine Bitte hin, ihn nochmals kontaktiert und gefragt habe, ob er sich umstimmen lasse. Der Stamm seiner Freundin heiße E.. Es handele sich hierbei um einen etwa mittelgroßen Stamm, dessen Angehörige oftmals Akademiker seien, d.h. Universitätsabsolventen, die wichtige Posten in staatlichen Behörden bekleideten. So sei es auch beim Vater seiner Freundin gewesen, der Leutnant bei den Sicherheitskräften gewesen sei. Er, der Kläger, habe dies zum einen daran erkannt, dass er jeden Tag in Uniform zur Arbeit gefahren sei, zum anderen habe ihm seine Freundin von der Tätigkeit ihres Vaters erzählt.

Er und seine Freundin hätten am 8. Januar 2016 die Entscheidung getroffen, nachdem sein Heiratsantrag abgelehnt worden sei. Ein Freund habe ihn und D. in der Nacht mit dem Auto abgeholt. Auf dem Weg nach Sulaimaniyya hätten sie allerdings kein Benzin mehr gehabt. Deswegen hätten sie am Wegesrand halten und eine Tankstelle suchen müssen. Als sie dann zum Wagen zurückgegangen seien, hätten sie gesehen, dass der Vater der Freundin das Auto zwischenzeitlich gefunden habe. Sie hätten sich zu dritt zwischen Bäumen eines nahgelegenen Wäldchens versteckt und er habe seinen eigenen Vater angerufen. Sein potentieller Schwiegervater habe ihn zwischenzeitlich entdeckt und sogleich beschimpft und ins Gesicht geschlagen. Dann sei sein eigener Vater mit dem Auto gekommen und habe den Schwiegervater festgehalten. Er, sein Freund und seine Freundin seien dann mit dem Auto des Vaters weitergefahren, während sein Vater seinen Schwiegervater daran gehindert habe, ihnen zu folgen. Der Autoschlüssel hätte noch im Auto des Freundes gesteckt, und sein Vater sei losgegangen, habe Benzin geholt und sei mit dem Auto des Freundes wieder zu sich nach Hause gefahren. Sie selbst seien etwa um drei Uhr morgens in Sulaimaniyya angekommen. Eine Nacht später sei sein Vater dann nachts mit dem Auto des Freundes zu ihnen gefahren, habe das Auto abgestellt und sei mit dem eigenen Auto zurückgefahren.

Er, der Kläger, sei davon ausgegangen, dass der Vater seiner Freundin ihn wegen seiner Berufstätigkeit letztendlich überall in Kurdistan finden werde. In den arabischen Teil des Iraks habe er wegen des IS jedoch nicht gehen können. Auch in Kirkuk sei die Sicherheitslage sehr schlecht gewesen. Er habe letztendlich keine andere Fluchtmöglichkeit als Sulaimaniyya gehabt und habe gehofft, dass es eine Lösung geben werde, nachdem sie miteinander geflohen seien. Er habe also die vage Hoffnung gehabt, von der Familie der Freundin doch noch die Zusage zu erhalten, dass sie heiraten können. Obwohl sein (potentieller) Schwiegervater ihn zu diesem Zeitpunkt bereits angriffen gehabt habe, habe er dennoch gehofft, ihn ggf. umstimmen zu können. Außerdem sei sein Schwiegervater ohnehin bereits wütend auf ihn gewesen. Wäre er in seinen Heimatort zurückgegangen, wäre die Konsequenz die Gleiche gewesen, als wenn er geflohen wäre.

Sie hätten sich in Sulaimaniyya ca. eine Woche aufgehalten, und in dieser Zeit hätten seine Freundin und er auch einmal miteinander geschlafen. Dann habe der Schwiegervater herausgefunden, wo sie sich aufhielten. An diesem Tag seien sie gerade beim Essen gewesen, als es an der Tür geklopft habe. Sein Freund habe ihm gesagt, dass sie nicht rausgehen sollten wegen ihrer aktuellen Situation. Stattdessen sei dieser vor die Tür gegangen. Durch das Fenster habe er, der Kläger, jedoch gesehen, dass der Vater seiner Freundin und ihre zwei Brüder draußen gestanden hätten, ohne ein Wort zu sagen. Daher sei er selbst auch schnell in den Hof gegangen. Er habe sich Sorge um die Familie seines Freundes gemacht, da auch Kinder am Essenstisch zugegen gewesen seien. Er habe nicht gewollt, dass sie Probleme bekämen und z.B. geschlagen würden. Der Vater seiner Freundin und die beiden Brüder hätten ihn dann angegriffen. Zuerst habe ihn der Vater geschlagen, dann die beiden Brüder. Sie hätten ihn zuerst auf die linke und rechte Gesichtshälfte geschlafen, ferner an den Nacken. Überdies habe ihm einer der drei Kontrahenten mit einem Klappmesser auf Höhe der Nieren in die rechte Seite gestochen. Er könne jedoch nicht sagen, wer dies getan habe. Zuerst habe der Vater seiner Freundin die Messer in der Hand gehalten. Nachdem er aber bereits ins Gesicht bzw. gegen den Kopf geschlagen worden sei, sei er benommen gewesen und könne er nicht mehr sagen, wer von den dreien zugestochen habe.

Die Frauen, d.h. Frau seines Freundes, seine Freundin und die Kinder, seien auch in den Hof gelaufen. D. habe geweint und geschrien und sei auch geschlagen worden. Die Nachbarn, die ebenfalls vor Ort gewesen seien, hätten die drei Angreifer kurzzeitig festgehalten. In dem Tumult habe es sein Freund geschafft, ihn wegzuziehen und zu seinem Auto zu bringen. Seine Freundin, die sich auf der anderen Seite des Hofes befunden habe, habe er nicht mitnehmen können. Infolge der Schläge gegen seinen Kopf habe er nicht richtig sehen und nicht richtig überlegen können; außerdem habe er stark geblutet.

Sein Freund habe ihn sodann mit dem Auto zu Verwandten gebracht und einen befreundeten Arzt angerufen. Dieser habe ihn behandelt, d.h. seine Wunden genäht und ihm mitgeteilt, dass er viel Blut verloren habe. Er habe dann die kommenden Tage viele Proteine zu sich nehmen und Tabletten einnehmen müssen, um wieder mehr Blut zu generieren. Ins Krankenhaus habe er sich nicht getraut. Er habe dann ebenfalls versucht, seine Freundin telefonisch zu kontaktieren, habe sie aber unter ihrer Nummer nicht mehr erreichen können und wisse auch nicht, ob sie jetzt überhaupt noch am Leben sei.

Sein Vater habe zunächst nicht gewusst, wie schwer er verletzt worden sei. Während des zehntägigen Aufenthalts habe er dann ein Foto von sich gemacht und seinem Vater über Facebook geschickt, damit dieser sehe, dass er nicht schwer verletzt sei. Sein Vater habe im Anschluss mit der Familie seiner Freundin Kontakt aufgenommen, indem er einen Vermittler beauftragt habe, der in derartigen Dingen versuche, zwischen den Beteiligten zu schlichten. Der Vater seiner Freundin habe jedoch eine Einigung abgelehnt und habe gesagt, dass dies mit der Ehre der Familie zu tun habe und dass er ihn töten und auch seinen sonstigen Familienangehörigen etwas antun werde, sofern er ihn noch einmal sehe. Er, der Kläger, habe nicht daran gedacht, in dieser Angelegenheit zur Polizei zu gehen, weil diese ihm gegenüber der privilegierten Familie seiner Freundin ohnehin nicht geholfen hätte.

Diesen klägerischen Vortrag wertet das Gericht nicht zuletzt auch deshalb als glaubhaft, weil sich die dargelegten Handlungsabläufe, insbesondere die „Entführung“ sowie die anschließenden Versöhnungsversuche durch Einschalten eines neutralen Vermittlers, mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln decken. Des Weiteren hat der Kläger im gerichtlichen Verfahren ein Foto vorgelegt, das ihn mit bekleideten Oberkörper, aber mit erheblichen Gesichtsverletzungen zeigt. Ebenfalls hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung eine deutlich sichtbare Narbe auf seinem rechten Oberkörper gezeigt, die augenscheinlich von einer Stichverletzung herrührt. Soweit sich im Anhörungsprotokoll des Bundesamts nicht die Feststellung findet, dass der Vater der Freundin bei den kurdischen Sicherheitskräften arbeite, stellt dies die Glaubhaftigkeit des klägerischen Vorbringens nicht in Frage. Der Kläger hat nämlich glaubhaft und durch kritische Nachfragen des Gerichts unbeirrt dargelegt, dass er zwar beim Bundesamt eine Rückübersetzung genehmigt habe, aber dass der Dolmetscher nicht das fertige Anhörungsprotokoll rückübersetzt habe. Vielmehr habe er – nach Auskunft des in der Verhandlung anwesenden Dolmetschers entgegen der internen Richtlinien des Bundesamts – zunächst den Vortrag des Klägers auf Konzeptpapier notiert, dieses für den Kläger zusammengefasst und sodann den Text des Konzeptpapiers für den anhörenden Entscheider übersetzt. Er, der Kläger, gehe davon aus, dass der Dolmetscher den vorgenannten Punkt sodann nicht an den Entscheider weitergegeben habe. Beispielsweise habe der Dolmetscher auch nicht angegeben, dass der Grund der Ablehnung des Heiratsantrags gewesen sei, dass er Alkohol trinke. Dies habe er noch nachträglich im Rahmen der nicht regelkonformen „Rückübersetzung“ noch korrigieren lassen. Für ihn sei der berufliche Hintergrund seines Schwiegervaters auch entscheidend gewesen, da es andernfalls für diesen gar nicht so einfach gewesen wäre, ihn ausfindig zu machen. Für die Darstellung des Klägers lässt sich des Weiteren anführen, dass das Anhörungsprotokoll lediglich den Textbaustein enthält, die verfasste Niederschrift sei rückübersetzt und vom Kläger mit seiner Unterschrift auf dem Kontrollbogen bestätigt worden, welcher Bestandteil der Niederschrift sei. Auf dem genannten Kontrollbogen befindet sich jedoch weder die Unterschrift des Klägers noch diejenige des Dolmetschers. Für den Rückschluss, dass der Inhalt des Anhörungsprotokolls nur unvollständig ist, lässt sich schließlich vorbringen, dass die vorgenannten Komplikationen auf der Flucht überhaupt nicht erwähnt werden, während die vom Kläger in diesem Zusammenhang geschilderte Hilfeleistung seines Vaters in der bloßen, aus dem Kontext gerissenen Feststellung auftaucht: „Ich wurde zusammengeschlagen, mit dem Messer angegriffen und verletzt. Mein Vater hat davon erfahren und hat mir geholfen aus dieser Lage zu entkommen.“

Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen hat der Kläger in seinem Heimatland einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2 AsylG in Gestalt einer erniedrigen Behandlung (Art. 3 EMRK) erlitten, weil gegen ihn gewaltsame Akte verübt wurden, die bei ihm erhebliche körperlichen Schäden hervorriefen.

Der dem Kläger widerfahrene ernsthafte Schaden ist auch rechtlich beachtlich im Sinne des § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Unter Berücksichtigung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel steht dem Kläger gegenüber der ihm widerfahrenen Schadenseinwirkung durch private Dritte kein effektiver Schutz durch staatliche Organe zur Verfügung.

Das britische Innenministerium verweist in einem aktuellen Bericht aus August 2017 auf eine Stellungnahme der Kurdish and Middle Eastern Women’s Organisation (KMEWO) aus Mai 2014, der zufolge die kurdischen Behörden als nicht willens oder nicht in der Lage erschienen, von Ehrverbrechen bedrohten Personen Schutz zu bieten (Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 8.5.8). Dieses deckt sich mit einer Auskunft des Hohen Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen gegenüber einer Delegation des Danish Immigration Service im Jahr 2015 (Danish Refugee Council (DRC) and Danish Immigration Service (DIS), ‘The Kurdistan Region of Iraq (KRI) – Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation – Report from fact finding mission to Erbil, the Kurdistan Region of Iraq (KRI) and Beirut, Lebanon, 26 September to 6 October 2015’, April 2016, S. 48).

Nach Erkenntnissen des britischen Innenministeriums erweist sich die Strafverfolgungspraxis in der kurdischen Autonomieregion grundsätzlich als effektiver im Vergleich zum Süd- bzw. Zentralirak, wobei das Niveau nochmals von Gebiet zu Gebiet variiere. Nach Angaben örtlicher Auskunftspersonen hätten die kurdischen Behörden das Potential, in den von ihnen kontrollierten Territorien sehr effektive Sicherheit zu gewährleisten. Sofern sie allerdings eine bestimmte Person nicht schützen wollten, könnten sie diese Entscheidung ebenfalls sehr effektiv durchsetzen. Hiermit korrespondierend hänge die Möglichkeit, staatlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, davon ab, wer der Verfolger sei. Die Polizei und das Gerichtssystem seien anfällig gegenüber dem Einfluss politischer Akteure sowie bekannter Familien und Stämme. Dies könne zur Folge haben, dass ein Täter eines Ehrverbrechens trotz einer eindeutigen belastenden Beweislage freigesprochen werde (Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 8.5.1; ebenso: Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 9). Nach Aussage des Danish Immigration Service, die sich auf Erkenntnisse des Hohen Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen stützt, bringe die örtliche Bevölkerung den kurdischen Strafverfolgungsbehörden wenig Achtung entgegen. Trotz einiger ausgezeichneter Gesetze, die internationalen Standards entsprächen, reagierten die Gerichte oft nicht auf Rechtschutzgesuche. Der Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz sei abhängig von der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, dem jeweiligen Stamm, Beziehungen, Familie und Verwandten. Für den Einzelnen sei es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, selbst für seine Rechte einzutreten (Danish Refugee Council (DRC) and Danish Immigration Service (DIS), ‘The Kurdistan Region of Iraq (KRI) – Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation – Report from fact finding mission to Erbil, the Kurdistan Region of Iraq (KRI) and Beirut, Lebanon, 26 September to 6 October 2015’, April 2016, S. 45).

Zahlreiche Beispielsfälle, so das britische Innenministerium, würden die Unfähigkeit des Gerichtssystems verdeutlichen, einen Abschreckungseffekt gegenüber Straftaten zum Nachteil von Frauen zu entfalten, ferner die weiterhin deutlich sichtbare Tendenz, Ehrverletzungen als eine Rechtfertigung für Gewalt zu akzeptieren. Als Faustregel ließe sich festhalten, dass Ehrenverbrechen entweder nicht angezeigt oder nicht verfolgt würden. Die Polizei und die Gerichte würden die bestehenden Gesetze gegen Ehrenmorde nicht umsetzen, weil sie die Ansicht verträten, diese unterfielen der Verantwortungs- und Ermessensebene der männlichen Familienmitglieder. Nur wenige dieser Fälle würden tatsächlich bei Gericht landen, und wenn dies einmal geschähe, erhielten die Täter Freisprüche oder lediglich äußerst milde Strafen. Nach Auskunft der Nichtregierungsorganisation WADI sei keine Person, die eine durch Ehrverletzungen motivierte Straftat begangen habe, jemals zu einer Haftstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden, sofern der Betroffene überhaupt eine Haftstrafe erhalten habe. Zudem bestehe stets die Möglichkeit, nach Abschluss einer innerfamiliären Schlichtungsvereinbarung oder einer Übereinkunft zwischen zwei beteiligten Stämmen eine frühzeitige Haftentlassung zu erhalten (Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 8.5.1 ff.). Der Danish Immigration Service nimmt zudem auf die Angaben örtlicher Quellen Bezug, denen zufolge es sehr wahrscheinlich sei, dass ein Täter eines Ehrverbrechens im Falle einer (vorzeitigen) Verhaftung und Verurteilung ein noch stärkeres Bedürfnis entwickele, Rache zu nehmen. Im Übrigen bestehe auch die Möglichkeit, dass seine Familie während der Dauer der Inhaftierung an seiner Stelle versuche, Rache auszuüben (Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 9).

Nach den Erkenntnissen des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl bestehen darüber hinaus im Irak im Allgemeinen keine Zufluchtsstätten für von Ehrenverbrechen bedrohten Frauen. In der kurdischen Autonomieregion existierten zwar drei offizielle Frauenhäuser, aber um in einem solchem unterkommen zu dürfen, sei ein Gerichtsbeschluss erforderlich, was ein beträchtliches Hindernis für eine bedrohte Frau darstelle. Darüber hinaus käme es häufig vor, dass die Behörden ohne Zustimmung des Opfers den Täter zu dem Frauenhaus brächten und auf Kosten des Opfers versuchten, eine Lösung auszuhandeln. Sofern einige Frauenrechtsorganisationen im Irak Bestrebungen hätten, im Geheimen inoffizielle Unterkünfte zu betreiben, würden diese oft von den Behörden geschlossen, die solche Einrichtungen scheinbar teilweise als Bordelle betrachteten. Es sei nicht unüblich, dass Frauen für längere Zeit in Polizei-Gefängniszellen säßen, weil sie von ihren Familien bedroht würden und keine andere Unterkunftsmöglichkeit besäßen (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 139 f.). Das schweizerische Staatssekretariat für Migration teilt zudem unter Berufung auf Erkenntnisse der Nichtregierungsorganisation WADI mit, eine von einem Ehrverbrechen bedrohte Frau erhalte keine Hilfe seitens der kurdischen Regionalregierung, um in einen anderen Teil des Landes zu ziehen (Staatssekretariat für Migration, Report on Joint Finnish-Swiss Fact-Finding Mission to Amman and the Kurdish Regional Government (KRG) Area, May 10-22, 2011, 1. Februar 2012, S. 44).

Nach Auskunft des Danish Immigration Service sind männliche Adressaten drohender Ehrverbrechen im Vergleich zu Frauen noch weniger in der Lage, Unterstützung oder Schutz von der Polizei, anderen Behörden oder Nichtregierungsorganisationen zu erhalten. Schutzhäuser stünden, wenn überhaupt, nur für Frauen zur Verfügung; zudem existierten keine Behörden oder Nichtregierungsorganisationen, welche sich männlicher Opfer von Ehrverbrechen annähmen. Sofern sich ein Mann an die Polizei wende, weil er wegen vorehelicher sexueller Beziehungen Gewalttaten gegen sich fürchte, würden die Beamten unter Umständen versuchen, die betroffenen Parteien miteinander zu versöhnen, sofern sie die Gefahr als beachtlich einstuften. Im Übrigen käme für ihn als einzige Option in Betracht, sich dauerhaft in Polizeigewahrsam zu begeben. Langzeitig betrachtet sei ein Gefängnisaufenthalt jedoch keine gangbare Lösung des Problems (Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 9; ebenso: IRB, ‘Iraq: Honour-based violence in the Kurdistan region; state protection and support services available to victims [IRQ105424.E]’, 15. Februar 2016, S. 9 f.).

Es sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr erneut einen ernsthaften Schaden erleiden würde. Bei der Beurteilung der Frage, ob stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung oder eines gleichartigen Schadenseintritts sprechen, sind insbesondere die Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen und das Ausmaß der drohenden Gefahr zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19; Nds. OVG, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 30). Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Aus-reise unmittelbar bedrohten Ausländer nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Wiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A - juris Rn. 38). Dieser Gedanke greift auch im vorliegenden Fall. Unter Berücksichtigung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel sowie der glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung entfällt das Risiko eines Ehrenmordes nur durch eine – hier fehlgeschlagene – Versöhnung, nicht aber durch bloßen Zeitablauf.

Insbesondere steht dem Kläger vor der weiterhin drohenden Schadensgefahr kein interner Schutz im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor dem drohenden ernsthaften Schaden oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Dem Kläger ist es in Anbetracht der ihm drohenden Gefahren zum einen nicht zumutbar, sich in einem anderen Teil der kurdischen Autonomieregion versteckt zu halten, weil hier die beachtliche Gefahr besteht, dass er von der Familie seiner Freundin aufgespürt würde. Dieses ist schon deshalb der Fall, weil Personen, die innerhalb der Autonomieregion umziehen wollen, sowohl bei ihrem ehemaligen als auch bei ihrem zukünftigen Wohnort eine Genehmigung des jeweiligen Asayish-Büros einholen müssen (European Asylum Support Office (EASO), COI Query: Role, activities and ranking oft he Asayish forces in the Kurdistan Region of Iraq (KRI), Query Code: Q67, 24. April 2018, S. 5). Dieses Ergebnis gilt unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel jedoch auch dann, sofern man zuungunsten des Klägers davon ausgeht, dass sein Schwiegervater nicht bei den kurdischen Sicherheitskräften tätig ist, sondern lediglich, wie in der mündlichen Verhandlung substantiiert vorgetragen, einem einflussreichen Stamm angehört, dessen Mitglieder regelmäßig öffentliche Ämter bekleiden.

Der Danish Immigration Service merkt unter Bezugnahme auf Stellungnahmen örtlicher Quellen an, in der Region Kurdistan hätten von Ehrverbrechen bedrohte Männer regelmäßig nur die Möglichkeit, sich außer Landes zu begeben. Ein Umzug in den sonstigen Irak komme unter Umständen in Betracht, sofern der Betroffene sich dauerhaft verborgen halte und seinen Namen ändere. Innerhalb der Region Kurdistan sei ein Ortswechsel nicht erfolgsversprechend, weil die Familie seiner Verfolger ihn wahrscheinlich dort suchen werde. Dieses gelte insbesondere dann, wenn die verfolgende Familie wohlhabend oder besonders einflussreich sei. Selbst wenn die bedrohte Person für einige Jahre im Ausland bleibe und dann zurückkehre, sei es nicht sicher, dass er außer Gefahr sei, solange die Ehre der betroffenen Familie noch nicht wiederhergestellt worden sei (Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 13 f.).

Dem Kläger steht auch keine interne Fluchtalternative in den restlichen Irak zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dazu heißt es im Urteil vom 26. Oktober 2017 (6 A 9126/17):

„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. […] Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. […] Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.

Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“

Es ist nicht ersichtlich, dass im Falle des Klägers etwas Anderes gelten könnte. Insbesondere erweist es sich für ihn nicht als zumutbar, zu seiner Familie zu ziehen, die ihren Heimatort wegen des Konflikts mit dem anderen Stamm verlassen hat und nunmehr in einem Vorort von Kirkuk lebt. Infolge der unmittelbaren räumlichen Nähe zur kurdischen Autonomieregion sowie des Umstandes, dass die Provinz Kirkuk als sogenanntes umstrittenes Gebiet immer noch zu weiten Teilen unter kurdischer Kontrolle liegt, besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger auch dort von der Familie seiner Freundin entdeckt werden würde.

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 2 AsylG bestehen nicht.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO ebenfalls aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der des subsidiären Schutzstatus, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht.

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.