Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 22.12.2021, Az.: 1 A 74/21

Abschiebungsverbot; Libanon; Scheidung; Unterhalt; Verelendung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
22.12.2021
Aktenzeichen
1 A 74/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 70760
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Die Kläger begehren die Flüchtlingsanerkennung, hilfsweise subsidiären Schutz.

Die 26 Jahre alte Klägerin zu 1) ist die Mutter der acht Jahre alten Klägerin zu 2) und des drei Jahre alten Klägers zu 3). Die Klägerin zu 1) ist libanesische und syrische Staatsangehörige, die Kläger zu 2) und 3) sind libanesische Staatsangehörige. Sie lebten im Libanon und reisten am 08.11.2020 mit Visa in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie am 27.11.2020 Asylanträge stellten. Der Ehemann der Klägerin zu 1) lebt nach ihren Angaben weiterhin im Libanon, ebenso wie die Eltern und zwei Brüder ihres Ehemannes. Die Eltern der Klägerin zu 1) sowie ihre Schwester leben in Syrien, ein Bruder lebt wie die Kläger in C-Stadt.

Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung am 30.11.2020 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab die Klägerin zu 1) an, wegen der Explosion im Hafen von Beirut das Land am 04.08.2020 das Land verlassen zu haben. Sie und ihr Mann hätten leichte Verletzungen davongetragen, die Kinder seien unverletzt geblieben. Eine Rückkehr in den Libanon komme wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage und der schwierigen Sicherheitslage nicht in Betracht. Ihr Ehemann sei seit 2020 arbeitslos, davor habe er als Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet und etwa 300 US-Dollar verdient. Sie selbst habe bis zu ihrer Eheschließung im Jahr 2012 als Verkäuferin in Damaskus gearbeitet. Sie habe Angst vor der Hisbollah, auch wenn sie persönlich noch nicht in Bedrängnis geraten sei

Mit Bescheid vom 03.03.2021, zugestellt am 10.03.2021, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ebenso wie die Anträge auf Asylanerkennung ab. Zudem lehnte es die Anträge auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen. Schließlich forderte es die Kläger unter Androhung der Abschiebung in den Libanon auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Kläger seien nicht verfolgt ausgereist. Ihnen drohe auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Fall der Rückkehr in den Libanon Folter, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure oder erhebliche individuelle Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor.

Die Kläger haben am 22.03.2021 Klage erhoben. Die Klägerin zu 1) macht geltend, ihre Beziehung zu ihrem Ehemann sei zerrüttet, eine Scheidung sei angedacht. Sie habe keinen Kontakt mehr zu ihm. Im Fall der Rückkehr in den Libanon könne sie als alleinstehende Frau den Lebensunterhalt von sich und den Kindern nicht sichern. Eine Unterstützung durch die Schwiegereltern und Schwager sei nicht zu erwarten, weil diese selbst unter der Wirtschaftslage im Libanon litten. Außerdem sei unklar, ob sie zur Unterstützung überhaupt bereit wären.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

äußerst hilfsweise, das Bestehen von Abschiebungsverboten zu Gunsten der Kläger festzustellen,

und den Bescheid der Beklagten () vom 03.03.2021 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid und trägt ergänzend vor, dass der Ehemann der Klägerin zu 1) selbst im Fall der Scheidung zu Unterhalt verpflichtet wäre.

Mit Beschluss vom 15.11.2021 hat die Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Die Klägerin zu 1) ist in der mündlichen Verhandlung vom 22.12.2021 informatorisch zu ihren Asylgründen angehört worden. Wegen der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und des Landkreises C-Stadt verwiesen.

Entscheidungsgründe

Gemäß § 102 Abs. 2 VwGO entscheidet die Einzelrichterin trotz des Ausbleibens der Beklagten über die Klage.

Die zulässige Klage hat sowohl hinsichtlich des Haupt- als auch der Hilfsanträge keinen Erfolg.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 03.03.2021 ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang rechtswidrig und verletzt die Kläger insoweit in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Im Übrigen ist er rechtmäßig.

Die Kläger haben abgestellt auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Dies gilt auch für die Gewährung subsidiären Schutzes (dazu 1.). Die Klägerin zu 1) hat allerdings einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots. Auf ihre Kinder, die Kläger zu 2) und 3), trifft das nicht zu (dazu 2.). Folglich sind auch unter Ziff. 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheids getroffenen Nebenentscheidungen rechtswidrig, soweit sie die Klägerin zu 1) betreffen. Die Abschiebungsandrohung bezüglich der Kläger zu 2) und 3) ist rechtmäßig, das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbots wegen eines Ermessensfehlers bei der Entscheidung über die Länge der Frist aber rechtswidrig (dazu 3.).

1.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder von subsidiärem Schutz. Sie sind unverfolgt aus dem Libanon ausgereist und haben im Fall ihrer Rückkehr in den Libanon weder mit Verfolgung i.S.d. §§ 3, 3a AsylG noch mit einem ernsthaften Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Asylg zu rechnen. Die Klägerin zu 1) hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, aus wirtschaftlichen und auch im Übrigen privaten Gründen mit ihren Kindern den Libanon verlassen zu haben. Zur weiteren Begründung wird auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen, die sich die Einzelrichterin nach § 77 Abs. 2 AsylG zu eigen macht.

2.

Die Klägerin zu 1) hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots betreffend Libanon nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Der Verweis auf die EMRK erfasst lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 8). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entnimmt Art. 3 EMRK die Verpflichtung, den Betroffenen nicht in ein bestimmtes Land abzuschieben, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass er im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. nur EGMR, Urt. v. 13.12.2016 - 41738/10 [Paposhvili v. Belgium] - HUDOC Rn. 173; v. 23.08.2016 - 59166/12 [J. K. and others v. Sweden] - HUDOC Rn. 79). Insoweit sind die vorhersehbaren Folgen ei-ner Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Abschiebungs-zielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (EGMR, Urt. v. 23.08.2016, a.a.O., Rn. 83). Auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat können in ganz besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2019 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 23 und 25; Beschl. v. 08.08.2018, a.a.O., Rn. 9; Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 45; VGH BW, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 26, jeweils m.w.N.).

Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremge-fahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, Beschl. v. 23.08.2018 - 1 B 42.18 -, juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen allerdings ein gewisses „Mindestmaß an Schwere" erreichen. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.08.2018, a.a.O., Rn. 11). Es ist allerdings bei „nichtstaatlichen“ Gefahren für Leib und Leben ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem etwa die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind.

Ein derartiger außergewöhnlicher Fall ist zur Überzeugung des Gerichts hier gegeben.

Dabei sind zunächst die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 38, zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, und Nds. OVG, Urt. v. 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 26, zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK; zur aktuellen Lage im Libanon vgl. auch die zutreffende Beschreibung in VG Hamburg, Urt. v. 09.09.2021 - 14 A 6163/21 -, juris Rn. 37 ff.).

Zu berücksichtigen sind erstens die wirtschaftlichen Verhältnisse im Libanon. Die Einzelrichterin hat zu hierzu im Urteil vom 27.09.2021 - 1 A 35/19 – (juris) ausgeführt:

„Der Libanon ist aus eigener Kraft weder in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren noch substanziell den eigenen Staatshaushalt nachhaltig zu finanzieren (BAMF, Länderreport 32 – Libanon, Stand 12/2020, S. 6). Das Land ist auf die Einfuhr von Gütern wie auf Zufluss von Devisen angewiesen, die in erster Linie durch Remittenten aus dem Ausland erbracht werden. Diese Wirtschaft wurde möglich gemacht durch ein Finanzsystem, das einem Ponzi-Schema ähnelt: die Staatsbank (Banque Du Liban) hielt den seit 1997 bestehenden festen Wechselkurs der libanesischen Lira zum Dollar nach dem im Oktober 2019 einsetzenden Währungsverfall künstlich aufrecht und verhinderte den Abfluss von Devisen (BAMF, ebd.); wichtige Güter wie Nahrungsmittel – 85 % werden importiert –, Treibstoff oder Medikamente wurden subventioniert, indem die Staatsbank Devisen zum offiziellen Wechselkurs bereitstellte. Dieses System ist zusammengebrochen. Die Dollar-Reserven der Banken sind aufgebraucht, die Lira hat auf dem Schwarzmarkt mehr als 90 % ihres Wertes verloren (Congressional Research Service, Focus Lebanon, Stand 21.04.2021, S. 29). Die durch einen Kollaps des Banken- und Finanzsystems ausgelöste und durch die Zerstörung des Beiruter Hafens am 04.08.2020 sowie die COVID-19-Pandemie weiter stark verschärfte Wirtschaftskrise, in deren Zuge die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung ihre Ersparnisse verloren hat, hat unter anderem zu einer Hyperinflation geführt, die nicht durch einen Anstieg von Löhnen kompensiert wird.

Insbesondere die Preise für Lebensmittel sind so stark gestiegen, dass viele Geschäfte vorübergehend gar keine Lebensmittel mehr anbieten können und sich die Preise unter anderem für Grundnahrungsmittel vervielfacht haben. Die Verteuerung der Lebensmit-tel lag bei circa 200 % Stand Juni 2020 (Zeit online: Hälfte der Lebensmittelbestände im Libanon bald aufgebraucht, 01.02.2021,https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/corona-wirtschaftskrise-libanon-lebensmittel-nahrungsversorgung-armut-lockdown). Die Verteuerung einiger Grundnahrungsmittel hat bis August 2021 sogar 350 % erreicht (Euro-Med Human Rights Monitor, Lebanon: Falling Into The Abyss, August 2021, S. 7). Die Inflation wird durch den beabsichtigten und zum Teil bezüglich Benzin und Weizen bereits durchgeführten Wegfall der staatlichen Subventionierung insbesondere von Lebensmitteln voraussichtlich noch weiter ansteigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, 04.01.2021, S. 20; Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 8; zur Einstellung der Subventionen für Treibstoffimporte: BAMF Briefing Notes. 16.08.2021, S. 9).

Die Verknappung von Treibstoff hatte auch negative Auswirkungen auf die Stromversorgung, die erheblich eingeschränkt ist (vgl. Spiegel Online: Stromkrise im Libanon, der perfekte Kurzschluss, 15.05.2021, https://www.spiegel.de/ausland/libanon-strom-krise-der-perfekte-kurzschluss-a-a8482a17-1bdd-4022-995d-c322205aeb06). Auch private Betreiber von Stromgeneratoren haben immer größere Probleme, den für den Betrieb der Generatoren erforderlichen Treibstoff zu erhalten, zumal die Banken vielfach die für den Einkauf erforderlichen Kredite nicht auszahlen. Hinzu kommt schließlich, dass dem öffentlichen Wasserversorgungssystem akut der Kollaps droht. Es gibt weder ausreichend Elektrizität noch Treibstoff, um Wasserpumpen umfassend funktionstüchtig zu erhalten, noch hinreichend Ersatzteile oder beispielsweise Chlor, um die Trinkwassersicherheit zu gewährleisten. Nach einem Bericht der UNICEF droht die Wasserversorgung von etwa 4 Millionen Menschen im Libanon zusammenzubrechen (vgl. Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 34 ff m.w.N.)

Das im regionalen Vergleich bislang gut ausgestattete Gesundheitssystem ist ebenfalls unter Druck geraten, da die meisten Medikamente eingeführt werden müssen. Seit Oktober 2019 stellte die Banque du Liban für 85 % des Warenwertes Devisen bereit und subventionierte so die Einfuhr zum günstigen offiziellen Wechselkurs (BAMF, Länderreport, a.a.O., S. 10). Der regional günstige Preis von Medikamenten führte zu Schmuggel ins Ausland in erheblichem Umfang, zu Vorratskäufen und Zurückhalten von Medikamenten durch die Importunternehmen, so dass bereits Ende 2020 zahlreiche Apotheken mangels Ware schließen mussten (BAMF, Länderreport, ebd.). Die Subventionierung des Imports wurde im Sommer 2021 eingestellt (Euro-Med Human Rights Monitor, Lebanon: Falling Into The Abyss, August 2021, S. 8). Mittlerweile können Medikamente wegen des Devisenmangels nur noch sehr begrenzt importiert werden (BAMF, Briefing Notes, 16.08.2021, S. 9).

Die Armut in der libanesischen Bevölkerung ist im Verlauf der anhaltenden schweren Wirtschaftskrise rasant angestiegen. Bereits 2019 konnten 28 % der libanesischen Bevölkerung nicht das Existenzminimum selbständig durch Einkommen erwirtschaften, wobei bereits vor der Explosion des Beiruter Hafens geschätzt wurde, dass dieser Wert im Laufe des Jahres 2020 auf 55 % steigen würde (BAMF, Länderreport, a.a.O., S. 6). In absoluter Armut lebten 2020 geschätzte 23 % der Bevölkerung (ebd.). Geschätzte 77 % der Familien verfügen nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um genügend Lebensmittel zu kaufen (Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 43, a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Die Arbeitslosigkeit in der libanesischen Bevölkerung liegt derzeit nach Schätzungen bei über 30 % (vgl. Auswärtiges Amt, 04.01.2021, S. 20; Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 61, wonach die Arbeitslosigkeit bei knapp 37 % liegen soll). Etwa 37 % der Beschäftigten verdienen weniger als 1 Mio. libanesische Lira, was im August bei einem Schwarzmarkt-Wechselkurs von 8500 Lira je Dollar umgerechnet 117 Dollar entsprach (Euro-Med Human Rights Monitor, ebd.).“

Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich die Lage im Libanon im letzten Quartal des Jahres 2021 verbessert hat.

Zu berücksichtigen ist zweitens die rechtliche Situation von Frauen im Libanon (hierzu ausführlich Human Rights Watch, Unequal and Unprotected – Women’sRights Under Lebanese Personal Status Laws, 2015). Das Familienrecht im Libanon ist nicht einheitlich geregelt, sondern ist religiöses Recht. Verheirateten Frauen schiitischer wie sunnitischer Konfessionszugehörigkeit steht ein nicht weiter zu begründendes Recht auf Scheidung nur dann zu, wenn dies ausdrücklich im Ehevertrag vereinbart ist; im Übrigen liegt das Recht ausschließlich beim Ehemann. Eine Trennung kann die Frau im Übrigen nur vor sunnitischen Gerichten durchsetzen; in diesen Verfahren wird die Schuld am Scheitern der Ehe festgestellt und der Unterhalt entsprechend festgesetzt. Schiitisches Familienrecht sieht das Verfahren nicht vor. Jedenfalls endet mit der Scheidung der Unterhaltsanspruch der Frau gegenüber dem Mann. Es bleibt nur das Recht auf Auszahlung der nachgelagerten mahr oder mu’akhar in der im Ehevertrag vereinbarten Höhe, wobei auch diese Zahlung bis auf Null verringert werden kann, wenn das Familiengericht von der Schuld der Frau am Scheitern der Ehe ausgeht (ebd., S. 6, 42 ff.). Auch wenn es nicht zu einer Scheidung kommt, verliert die verheiratete Frau jeden Anspruch auf Ehegattenunterhalt, wenn ein Familiengericht ihre Aufsässigkeit im rechtlichen Sinn feststellt. Das ist dann der Fall, wenn die Frau den Ehemann verlässt und sich weigert, mit ihm weiter zusammenzuleben (ebd., S. 6, 90 ff.). Soweit Zahlungsansprüche gegen den (früheren) Ehemann bestehen, hat die Frau diese gerichtlich durchzusetzen, wenn der Mann die freiwillige Zahlung verweigert (ebd., S. 54).

Unter diesen Umständen wird die Klägerin zu 1) wegen ihrer individuellen familiären Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in zeitlichem Zusammenhang mit einer Abschiebung ihre elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigen können.

Die Klägerin zu 1) hat in der mündlichen Verhandlung im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung glaubhaft gemacht, dass sie gegen den Willen ihres Ehemannes und ihrer Schwiegereltern die Kläger zu 2) und 3) der väterlichen Familie entzogen und sie mit nach Deutschland genommen hat, damit sie im Bundesgebiet aufwachsen. Ihre Motivation zu diesem schwerwiegenden Schritt hat sie schlüssig und umfassend damit begründet, dass sie bereits seit 2018 in der Ehe unglücklich gewesen sei und daraus habe ausbrechen wollen. Die Explosion im Beiruter Hafen im August 2020 und der seitdem verstärkt einsetzende wirtschaftliche Zusammenbruch des Libanon, in dessen Zug ihr Mann seine Anstellung verlor, stellen sich als nachvollziehbarer Katalysator für eine private Entscheidung der Klägerin dar. Dass sie ausgerechnet die „Flucht“ nach Deutschland wählte und nicht die Rückkehr in ihr Heimatland Syrien, ist ebenfalls nachvollziehbar, weil in Deutschland ihr Bruder lebt und ihre übrige Familie in Syrien, dem langjährigen Bürgerkriegsland, geblieben ist. In der Anhörung gegenüber dem Bundesamt hat sie diese Motivlage zwar nicht umfänglich dargestellt, allerdings ebenfalls darauf hingewiesen, seit der Eheschließung zwischen dem Libanon und Damaskus, wo ihre Herkunftsfamilie lebt, gependelt zu sein. Sie hat das zwar mit den hohen Lebenshaltungskosten im Libanon begründet, die regelmäßige Rückkehr zu ihren Eltern ist aber jedenfalls ein Indiz für den Zustand ihrer Ehe. Bei der Frage, was sie im Fall der Rückkehr in den Libanon erwarte, zeigte die Klägerin in der mündlichen Verhandlung deutlichen Stress, sie sprach hektisch und mit erhöhter Stimme davon, dass sie erwarte, dass ihr Mann ihr die Kinder wegnehmen werde, während sie im Übrigen konzentriert und zusammenhängend berichtete. Das wertet die Einzelrichterin als weiteres Beweisanzeichen für die Zerrüttung der Ehe der Klägerin.

Dies zugrunde gelegt ist es beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin zu 1) im Fall ihrer Rückkehr in den Libanon von ihrem Ehemann und dessen Familie keinen Schutz bekommen wird, sondern als Entführerin der Kinder aus der Familie ausgestoßen werden wird, zumal sie von Deutschland aus nach ihren glaubhaften Angaben die Scheidung betreibt. Darauf habe ihr Mann zwar nicht reagiert, das ist aber kein positiver Hinweis darauf, dass er sie wieder in die Familie aufzunehmen beabsichtigt. Nach den rechtlichen Gegebenheiten würde es auch nur zu Zahlungsansprüchen der Klägerin zu 1) gegen ihn führen, wenn er die Scheidung einreichte. Soweit die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid auf einen Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen ihren Ehemann verweist, ist ein solcher – wie ausgeführt – nicht rechtlich durchsetzbar. Dem steht entgegen, dass ihr Ehemann ihre Aufsässigkeit gerichtlich feststellen lassen kann oder sie ihren Anspruch gerichtlich durchsetzen müsste und in beiden Konstellationen vom zuständigen Familiengericht zu berücksichtigen wäre, dass die Klägerin sich der Ehe mit den Kindern entzogen hat.

Unter den aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen im Libanon und unter Berücksichtigung des geringen Ausbildungsstands der Klägerin zu 1), die zuletzt vor ihrer Heirat als Verkäuferin in Syrien tätig war, ihrer fehlenden familiären Beziehungen sowie der auch im internationalen Vergleich geringen Erwerbsquote von Frauen im Libanon im Allgemeinen (vgl. DFAT Country Information Report Lebanon, März 2019, S. 28) ist auch eine Integration der Klägerin zu 1) in den Arbeitsmarkt derzeit ausgeschlossen.

Die Klägerin zu 1) kann auch nicht, wie in anderen Fällen üblich, auf ein anderweitiges familiäres Netzwerk im Libanon verwiesen werden. Die private Situation der Klägerin zu 1) weist insoweit die Besonderheit auf, dass sie zwar die libanesische Staatsangehörigkeit besitzt. Sie hat im Libanon außer der Familie ihres Ehemannes aber keine weiteren Familienangehörigen, weil sie selbst aus Syrien stammt. Unterstützung in finanzieller Hinsicht von ihrer Herkunftsfamilie hat sie nach Überzeugung der Einzelrichterin nicht zu erwarten, da ihr Bruder in Deutschland, der drei eigene Kinder hat, arbeitslos ist und ihre in Syrien lebende Mutter gelegentlich finanziell unterstützt und ihr Vater nach ihren Angaben vor einem Monat verstorben ist. Ein soziales Sicherungssystem des libanesischen Staates, auf das die Klägerin zu 1) zurückgreifen könnte, besteht nicht.

Da die wirtschaftliche Situation im Libanon landesweit dieselbe ist, kann die Klägerin auch nicht auf einen anderen Landesteil verwiesen werden. Ihr droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verelendung, die durch Rückkehrhilfen nur aufgeschoben werden kann.

Die Kläger zu 2) und 3) haben demgegenüber keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots. Auf sie treffen die vorgenannten Erwägungen nicht zu, vielmehr können und müssen diese nach der Schilderung der Klägerin zu 1) damit rechnen, wieder in die väterliche Familie aufgenommen und von ihr versorgt werden.

3.

Soweit die Klägerin zu 1) betroffen ist, können auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in dem streitgegenständlichen Bescheid keinen Bestand haben. Dies folgt bereits aus § 34 Abs. 1 AsylG, wonach das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung erlässt, wenn u.a. die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass für eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nach dem Willen des Gesetzgebers dann kein Raum ist, wenn Abschiebungsverbote vorliegen oder – wie hier aufgrund des vorliegenden Urteils – festzustellen sind. Zur Klarstellung ist in der Folge auch das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Klägerin zu 1) aufzuheben, das das rechtliche Schicksal der übrigen Nebenentscheidungen teilt.

Soweit die Kläger zu 2) und 3) betroffen sind, ist die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nicht zu beanstanden. Etwas Anderes gilt für das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot, das sich hinsichtlich der Festsetzung der Länge der Frist nach § 11 Abs. 4 AufenthG als ermessensfehlerhaft darstellt. Bei der erneuten Festsetzung wird die Beklagte zu berücksichtigen haben, dass die Kläger zu 2) und 3) für eine gedeihliche Entwicklung auch die Mutter benötigen und eine Trennung namentlich für den erst dreijährigen Kläger zu 3) allenfalls für eine kurze Frist zumutbar wäre.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.