Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 11.10.2022, Az.: 8 A 181/20

Existenzminimum; Familienverband; hypothetische Rückkehrsituation; Missachtung von Frauenrechten; Schwerstbehinderung; Zwangsverheiratung; Ausnahmefall der Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG für eine 19jährige Tschetschenin und ihren 18jährigen schwerstbehinderten Bruder

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
11.10.2022
Aktenzeichen
8 A 181/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 46178
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2022:1011.8A181.20.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Lebt der Ausländer - wie hier die Kläger - in Deutschland im Familienverband mit der Kernfamilie ist für die Gefahrenprognose eine hypothetische Rückkehrsituation zu Grunde zu legen, in welcher der Familienverband gemeinsam zurückkehrt.

  2. 2.

    Würde die 19jährige Klägerin nach Tschetschenien zurückkehren, wäre sie als unverheiratete junge Frau nicht in der Lage, ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern. Angesichts der in Tschetschenien üblichen Missachtung von Frauenrechten sowie herrschenden Gewalt gegen Frauen und Mädchen würde ihr die baldige Zwangsverheiratung drohen.

  3. 3.

    Ein Schwerstbehinderter mit einem Behinderungsgrad von 100, der auf eine 24-Stunden-Pflege angewiesen ist, wird trotz unterstellter Rückkehr im Familienverband weder in Tschetschenien noch in einem anderen Teil der russischen Föderation ein Leben oberhalb des Existenzminimums führen können. Behinderte Menschen werden insbesondere in Tschetschenien ausgegrenzt und diskriminiert.

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Kläger die Klage zurückgenommen und die Klägerin zu 1 sowie die Beklagte das Verfahren teilweise für erledigt erklärt haben.

Im Übrigen wird die Beklagte unter Aufhebung von Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.06.2020 verpflichtet festzustellen, dass für die Kläger zu 2 und 3 das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegt.

Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Klägerin zu 1 ist die Mutter der am 15.02.2003 geborenen Klägerin zu 2 und dem am 03.05.2004 geborenen Kläger zu 3. Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens.

Eigenen Angaben zufolge reisten sie am 27.07.2018 mit dem damals schon volljährigen weiteren Sohn der Klägerin zu 1, der unter dem Az. 8 A 388/19 ein eigenes gerichtliches Verfahren gegen seinen ablehnenden Asylbescheid betreibt, aus ihrem Heimatland aus und reisten auf dem Landweg über Weißrussland und Polen kommend am 21.08.2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 03.09.2018 beantragten sie ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

Da Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Kläger in Polen bereits einen Asylantrag gestellt hatten, leitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im folgenden Bundesamt genannt) zunächst ein Dublin-Verfahren ein. Die Klägerin zu 1 gab bei der daraufhin am 05.10.2018 durchgeführten Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages an, sie sei nach Europa gereist, um ihr Kind (den Kläger zu 3), der unter einer schweren spastischen Lähmung leide, behandeln zu lassen. Er sei seit drei Jahren in Russland nicht mehr behandelt worden. Allerdings habe man sie in Polen nicht ernst genommen und ihr dort erst in drei Monaten einen Arzttermin in Aussicht gestellt. Eigentlich wäre sie gerne in Polen geblieben, habe dann aber beschlossen, weiter nach Deutschland zu fahren, weil sie gehört habe, dass dort kranke Kinder besser behandelt würden. Mit Bescheid vom 30.10.2018 lehnte die Beklagte die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und ordnete die Abschiebung nach Polen an. Obgleich der Bescheid bestandskräftig wurde, scheiterte eine bereits eingeleitete Rücküberstellung der Kläger nach Polen. Nach Ablauf der Überstellungsfrist am 09.04.2019 führte das Bundesamt das Verfahren der Kläger als nationales Verfahren fort.

Bei der persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 10.07.2019 gab die Klägerin zu 1 an: Sie sei in ihrem Heimatland zehn Jahre zur Schule gegangen, habe danach aber keinen Beruf erlernt oder studiert, sondern sofort geheiratet und sei dann Hausfrau gewesen. Nachdem ihr Mann am 07.11.2006 gestorben sei, hätten dessen Bruder und Schwester sie aufgefordert, das Haus zu verlassen und dahin zurückzukehren, wo sie vorher gewohnt habe. Sie habe noch die Trauerzeit von 40 Tagen im Haus ihres Mannes gelebt und sei danach gemeinsam mit ihren Kindern zurück zu ihren Eltern nach Grosny gezogen. Dort habe sie elf Jahre bis zu ihrer Ausreise gelebt. Wenige Tage nach ihrer Rückkehr nach Grosny habe ihr Bruder J. angefangen sie zu verhöhnen und sie aufgefordert, fortzugehen. Das Ganze sei zunehmend schlimmer geworden, ab Anfang März 2007 habe er sie nicht mehr nur angeschrien, sondern sie häufig geschlagen. Ihre Kinder hätten dies mit ansehen müssen, er habe sie aber nicht angerührt, sondern seine ganze Wut an ihr ausgelassen. Auch ihre Eltern hätten ihn von den körperlichen Übergriffen nicht abbringen können. Diese Situation habe sich über viele Jahre fortgesetzt, aber sie habe nicht einfach weggehen können, weil ihre Mutter bereits zwei Schlaganfälle gehabt habe und bettlägerig gewesen sei. Da ihr Bruder von Beruf Polizist sei, habe sie sich auch keinen Erfolg davon versprochen, ihn bei der örtlichen Polizei anzuzeigen. Etwa eineinhalb Jahre vor ihrer Ausreise habe sie vorgehabt gemeinsam mit ihren Kindern in eine andere Wohnung innerhalb Grosnys umzuziehen. Als ihr Bruder davon erfahren habe, habe er damit gedroht, sie und die Kinder umzubringen, falls sie aus dem Elternhaus ausziehen würden. Er habe ihr angedroht sie überall ausfindig zu machen, weshalb sie mit ihren Kindern zunächst weiterhin im Elternhaus wohnhaft geblieben sei. Der Kläger zu 3, der seit seiner Geburt an einer spastischen Lähmung leide, habe regelmäßig alle zwei Monate ärztlich behandelt werden müssen. Seit 2016 habe ihr Bruder ihr verboten, ihn zu therapieren. Auch damit ihr Sohn eine bessere medizinische Behandlung erhalte, habe sie sich entschlossen auszureisen. Als sie in Polen gewesen seien, habe sie in einem Telefongespräch von ihrer Schwester erfahren, dass ihr Bruder ihren Aufenthaltsort kenne und angekündigt habe, sie dort zu finden. Deshalb habe sie Angst bekommen und entschieden, weiter nach Deutschland zu reisen. Im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland fürchte sie, weiteren und schlimmeren Übergriffen ihres Bruders ausgesetzt zu seien. Ärztlichen Attesten zufolge leidet der Kläger zu 3 unter Epilepsie, muskulärer Tetraspastik und globaler Entwicklungsretardierung.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 12.06.2020 hob die Beklagte ihren Bescheid vom 30.10.2018 auf, lehnte den Antrag der Kläger auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, drohte den Klägern die Abschiebung in die Russische Föderation an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte würden nicht vorliegen. Die Kläger seien in der Russischen Föderation nicht in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal verfolgt worden. Einziger Grund für ihre Ausreise seien die jahrelangen Misshandlungen und Drohungen gegenüber der Klägerin zu 1 durch ihren Bruder aufgrund einer persönlichen und nicht näher begründeten Abneigung gewesen. Anhaltspunkte dafür, dass verwitwete Frauen in der Russischen Föderation von ihrer Umgebung generell als andersartig betrachtet würden und deshalb einer Verfolgungsgefahr und unterlägen, bestünden nicht. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus würden ebenfalls nicht vorliegen. Soweit die Klägerin zu 1 behaupte, über Jahre von ihrem Bruder misshandelt worden zu sein und bei einer Rückkehr in ihr Heimatland weitere Übergriffe werde erleiden müssen, habe sie ihre Furcht vor einem ernsthaften Schaden nicht glaubhaft gemacht. So habe sie zwar berichtet, dass dieser sie mindestens zwei- bis dreimal pro Woche geschlagen und später mit dem Tod bedroht habe. Jedoch habe sie weder ihr Verhalten noch das ihres Bruders nachvollziehbar und umfassend dargestellt und hinsichtlich der Beweggründe nur knapp geäußert, ihr Bruder habe sie "gehasst". Dass weder ihre Eltern noch Geschwister oder Tanten und Onkel den Bruder davon hätten abhalten können, erscheine ebenso lebensfremd wie der Umstand, dass sie über mehr als zehn Jahre hinweg körperliche Übergriffe und Todesandrohung hingenommen habe. Im Übrigen fehle ein konkreter Vorfall, welcher sie ausgerechnet im Juli 2018 dazu veranlasst habe, sich durch Ausreise den Übergriffen des Bruders zu entziehen. Völlig widersprüchlich erscheine das Vorbringen, wonach der Bruder einerseits über Jahre unter Gewaltanwendung verlangt habe, dass die Klägerin zu 1 und ihre Kinder das gemeinsame bewohnte Elternhaus verlassen sollten und sie andererseits kurz vor deren Auszug mit dem Tode bedroht habe, für den Fall, dass diese vom Elternhaus wegziehen würden. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG würden nicht bestehen. Weder die derzeitigen humanitären Bedingungen in Russland noch die individuellen Umstände der Kläger würden zu der Annahme führen, ihre Abschiebung führe zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Schließlich würden den Klägern auch individuelle Gefahren für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen, nicht drohen. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger zu 3 eine dringend erforderliche medizinische Behandlung bedürfe bzw. bei seiner Rückkehr in die Russische Föderation mit einer alsbald eintretenden lebensbedrohlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu rechnen sei, sei den vorgelegten ärztlichen Schreiben nicht zu entnehmen und auch ansonsten nicht ersichtlich.

Gegen den am 15.06.2020 als Einschreiben zur Post gegebenen Bescheid haben die Kläger am 30.06.2020 Klage erhoben.

Mit Anwaltsschriftsatz vom 27.09.2022 begründen die Kläger ihre Klage wie folgt: Nachdem der Ehemann der Klägerin zu 1 im Rahmen eines Militäreinsatzes am 07.11.2006 verstorben sei, hätten sie zunächst weiter im Haus von seiner Familie gelebt, in der auch ein Bruder und eine Schwester des verstorbenen Ehemannes bzw. Vaters gelebt hätten. Die Lebenssituation dort sei sehr schlimm gewesen. Der Bruder sei Alkoholiker gewesen und habe die komplette Familie terrorisiert, was dazu geführt habe, dass die Situation im Jahr 2009 eskaliert sei und er die Klägerin zu 1 gezwungen habe, das Haus zu verlassen. Da sie nicht gewusst habe, wohin sie mit ihren Kindern hätte gehen können, sei sie zurück in ihr Elternhaus im Dorf Prigorodnoje, etwa 2 km südöstlich von Grosny, gezogen. Dort habe auch ihr Bruder J. gelebt. Nach einigen Monaten sei es ohne konkreten Grund oder Auslöser zu ersten Gewalttätigkeiten des Bruders gekommen - zu Beginn ungefähr einmal im Monat, mit der Zeit mehrmals wöchentlich. Die Kläger hätten das Zimmer zu diesen Zeiten nur heimlich unter der großen Angst erwischt zu werden, durch ein Außenfenster des Zimmers verlassen können, etwa um die Schule zu besuchen. Da der Bruder bzw. Onkel für die örtliche Polizei gearbeitet habe, sei es auch nicht möglich gewesen, die Polizei um Hilfe zu bitten, oder Anzeige gegen den Bruder der Klägerin zu 1 zu erstatten. Sie seien sich sicher, dass er sie im Falle einer Rückkehr verfolgen und sogar töten würde. Hinzu komme, dass sowohl sie - die Klägerin zu 1 - als auch der Kläger zu 3 sehr schwer krank seien. Bei ihr sei ein Lungenkarzinom festgestellt worden, und sie leide unter Atemnot, Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, Sehstörungen und Schmerzen. Sie sei krankheitsbedingt kaum mehr in der Lage, sich allein um ihre Belange zu kümmern, könne ihre Körperpflege nur mit Hilfe vornehmen und keine Einkäufe erledigen. Sie könne nur mit großer Mühe an Krücken gehen, können nicht lange sitzen oder stehen. Sie sei pflegebedürftig und müsse bei allen Verrichtungen von der Klägerin zu 2 und ihrem Sohn K. unterstützt werden. Der Kläger zu 3 leide seit seiner Kindheit an schwersten und komplexen körperlichen Behinderungen, insbesondere an einer spastischen Tetraparese, an Epilepsie mit mehreren Anfällen im Monat, einer ausgeprägten linkskonvexen Skoliose, einer globalen Entwicklungsretardierung, Hyperparathyreoidismus, einer Dystrophie bei Schluckstörung und habe seit Oktober 2019 eine Gastrostomaanlage. Er sei schwer behindert, habe Pflegestufe 4 mit einem Behinderungsgrad von 100, befinde sich in ständiger ambulanter ärztlicher Betreuung und mehrmals jährlich auch in stationärer Krankenhausbehandlung, benötige ständige Unterstützung durch seine Familie bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Aufstehen, Hinlegen, Waschen, Anziehen, Toilette, Essen, Trinken usw. Seit 2020 besuche er die Förderschule Schwerpunkt geistige Entwicklung B-Stadt. Ob und in welchem Umfang er seine Umwelt visuell wahrnehmen könne, sei unklar. Aufgrund des sehr komplexen Krankheitsbildes und der massiven Behinderungen sei er auf eine umfassende 24-Stunden-Betreuung und im Bedarfsfall auf eine sofort verfügbare ärztliche Notfallversorgung angewiesen. Die komplette Verantwortung für ihn obliege der Klägerin zu 2 und dem Bruder J.. Im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation wären die Kläger auch nicht in der Lage, ihr wirtschaftliches Existenzminimum zu sichern. Die Kläger zu 1 und 3 seien aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage zu arbeiten, die Klägerin zu 2 habe gerade erst im Sommer 2022 die Hauptschule abgeschlossen und verfüge nicht über eine Berufsausbildung oder sonstige weiterführende Qualifikationen. Hinzu komme, dass alleinstehende, auch verwitwete Frauen wie die Klägerinnen zu 1 und 3 in der stark patriarchalisch geprägten tschetschenischen Gesellschaft nicht akzeptiert würden und faktisch keine Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes unabhängiges Leben hätten.

Mit Bescheid vom 29.09.2022 hat das Bundesamt daraufhin für die Klägerin zu 1 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation festgestellt und den streitgegenständlichen Bescheid vom 12.06.2022 hinsichtlich der Klägerin zu 1 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Zur Begründung hat das Bundesamt ausgeführt, dass der Klägerin zu 1 bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland eine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen würde. Das bei ihr festgestellte nicht kleinteilige Bronchialkarzinom mit Lymphknotenbefall werde symptomatisch mit Osimertinib behandelt, einem erst seit 2016 in Deutschland zugelassenen irreversiblen Epidermis-Wachstumsfaktor-Rezeptor-Tyrosinkinase-Inhibitor der dritten Generation, der bei fortgeschrittenem Lungenkrebs eingesetzt werde. Dass sie in Russland tatsächlichen Zugang zu einer vergleichbaren medikamentösen Versorgung erhalten würde, sei bereits nicht erkennbar, und angesichts der Art und Schwere ihrer Erkrankung würde ein Abbruch der Behandlung ohne Zweifel alsbald zu einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung bis hin zum Tode führen. Abgesehen davon sei auch nicht davon auszugehen, dass sie als verwitwete Mutter mit drei Kindern, von denen eines schwer behindert sei, die Existenz der Familie würde sichern können. Angesichts der Feststellung des krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG erübrige sich allerdings die Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG, weil beide Anspruchsgrundlagen einen einheitlichen Streitgegenstand bilden würden.

In der mündlichen Verhandlung haben die Kläger die Klage zurückgenommen, soweit sie zunächst auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) und hilfsweise des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) begehrt hatten.

Die Klägerin zu 1 erklärt die Hauptsache hinsichtlich des Teilabhilfebescheides der Beklagten vom 29.09.2022 für erledigt und beantragt, insoweit der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.

Die Kläger zu 2 und 3 beantragen (nur noch),

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 12.06.2020 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte schließt sich der Teilerledigungserklärung an und beantragt,

die Klage (soweit sie noch aufrechterhalten wurde) abzuweisen und hinsichtlich des erledigten Teils die Kosten gegeneinander aufzuheben.

Sie erwidert: Der Kläger zu 3 leide seit seiner Geburt an einer Behinderung, und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG biete keine Anspruchsgrundlage dafür, im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, weil eine wesentlich bessere medizinische und/oder therapeutische Behandlung und/oder Förderung möglich sei als im Heimatland. Da es keinen Anspruch auf die bestmögliche Behandlung/Therapie gebe, komme es nicht darauf an, ob der betreffende Ausländer bei einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland und der hier zu erwartenden umfassenden Förderung eine weitere Verbesserung seiner Fähigkeiten und Kenntnisse erlangen könnte. Dass sich die Erkrankung/Behinderung des Klägers zu 3 bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wesentlich verschlimmere, ergebe sich aus den vorgelegten Unterlagen nicht. Der zeitlich jüngste Klinikbericht vom 17.08.2022 behandele einen Abszess, der offenbar erfolgreich behandelt worden sei. Die übrigen Klinikberichte würden aus dem Jahr 2020 datieren und keine Auskunft über einen eventuell bestehenden aktuellen Behandlungsbedarf geben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahren und des Verfahrens des Sohnes der Klägerin zu 1 bzw. Bruders der Kläger zu 2 und 3 (Az.: 8 A 388/19) und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Das Verfahren ist gemäß bzw. in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit die Kläger die Klage teilweise zurückgenommen und die Klägerin zu 1 sowie die Beklagte das Verfahren teilweise übereinstimmend für erledigt erklärt haben.

Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet.

Die Kläger zu 2 und 3 haben einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hinsichtlich der Russischen Föderation. Soweit der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 12.06.2020 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U. v. 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris Rn. 17; VGH Bad.-Württ., U. v. 17.07.2019 - A 9 S 1566/18 -, juris Rn. 23; Nds. OVG, U. v. 28.07.2014 - 9 LB 2/13 Rn. 14).

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf, unzulässig ist. Ein Abschiebungsverbot besteht dann, wenn ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Dabei sind die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Abschiebungszielstaat sowie der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. Nds. OVG, U. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 104 m. w. N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen, wobei die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere relativ ist und von allen Umständen des Falls, in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen, abhängt (BVerwG, B. v. 08.08.2018 - 1 B 25/18 -, juris Rn. 9). Insoweit können schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (BVerwG, U. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 23, 25; B. v. 08.08.2018 - 1 B 25/18 -, juris Rn. 9; Nds. OVG, U. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 108). Ein solcher Ausnahmefall kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (BVerwG, B. v. 23.08.2018 - 1 B 42/18 -, juris Rn. 11; Nds. OVG, U. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 116).

Lebt der Ausländer - wie hier die Kläger - in Deutschland im Familienverband mit ihrer Kernfamilie ist für die Gefahrenprognose eine hypothetische Rückkehrsituation zu Grunde zu legen, in welcher der Familienverband gemeinsam zurückkehrt. Dies gilt auch dann, wenn einzelnen Familienmitglieder bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz - wie hier für die Mutter der Kläger zu 2 und 3, die Klägerin zu 1 - festgestellt worden ist. Danach ist davon auszugehen, dass die Familie entweder gemeinsam in ihr Herkunftsland zurückkehrt, oder insgesamt in Deutschland verbleibt (BVerwG, U. v. 04.07.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 15 ff).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe sind angesichts der Lebensverhältnisse und der wirtschaftlichen Lage in der Russischen Föderation sowie in Ansehung der persönlichen Situation der Kläger zu 2 und 3 außergewöhnliche Umstände im obigen Sinne ausnahmsweise gegeben. Aufgrund ihrer besonderen persönlichen Situation ist im vorliegenden Einzelfall zu befürchten, dass sie bei einer Rückkehr nach Russland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein werden.

Die Klägerin zu 2 ist zwar volljährig, aber erst 19 Jahre alt und hat im Sommer 2022 in Deutschland ihren Hauptschulabschluss erreicht. Deshalb hat sie weder eine Berufsausbildung durchlaufen noch praktische Berufserfahrung sammeln können. Würde sie nach Tschetschenien zurückkehren, wäre sie als unverheiratete junge Frau aus ähnlichen Gründen, wie es das Bundesamt für ihre Mutter (die Klägerin zu 1) im Bescheid vom 29.09.2022 auf Seite 2 erwähnt hat, nicht in der Lage, ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern. Selbst wenn sie vorübergehend im Haus ihrer Großeltern und ihres Onkels aufgenommen würde und deren Unterstützung in Anspruch nehmen könnte, würde ihr angesichts der in Tschetschenien üblichen völligen Missachtung von Frauenrechten sowie herrschenden Gewalt gegen Frauen und Mädchen die baldige Zwangsverheiratung drohen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand: 10.09.2022, Ziff. II. 3., Seite 16; VG Chemnitz, U. v. 19.06.2018 - 4 K 1694/16.A -, juris).

Auch wenn sie in einen anderen Teil Russlands reisen und dort versuchen würde, Fuß zu fassen, wäre sie damit als junge Frau ohne männlichen Schutz und ohne familiäre Unterstützung zum Scheitern verurteilt. Dies gilt erst Recht bei Berücksichtigung einer hypothetischen Rückkehr im Familienverband, weil sowohl ihre Mutter (die Klägerin zu 1) als auch ihr Bruder (der Kläger zu 3) schwer krank ist. Beide sind krankheitsbedingt nicht nur daran gehindert, zum Lebensunterhalt beizutragen, erschwerend kommt hinzu, dass sie zusätzlich einer Rundumbetreuung durch die Klägerin zu 2 bedürfen. Dieser Umstand, von dem sich das erkennende Gericht in der mündlichen Verhandlung am 11.10.2022, bei der alle Kläger anwesend waren, einen eigenen Eindruck verschaffen konnte, macht für die Klägerin zu 2 jegliche Tätigkeit zur Einkommenserzielung unmöglich.

Zwar könnte der 23 Jahre alte Sohn bzw. Bruder der Kläger, der in der hier bestehenden besonderen familiären Konstellation die Rolle eines "Familienoberhauptes" eingenommen hat, bei der o.g. unterstellten gemeinsamen Rückkehr in die Russische Föderation voraussichtlich auf niedrigem Niveau durch Aushilfsarbeiten sein eigenes Existenzminimum sichern. Dass er darüber hinaus die Versorgung von drei weiteren Familienmitgliedern sicherstellen kann, ist hingegen nicht zu erwarten. Dabei ist einzubeziehen, dass bei der sich derzeit verschlechternden wirtschaftlichen Lage in Russland ein Ansteigen der Armut in der Bevölkerung zu erwarten ist. Primäre Versorgungsquelle der russischen Bevölkerung bleibt nach der Erkenntnislage ihr Einkommen. Zwar sollen aktuell nur 14 % der Bevölkerung unter dem Existenzminimum leben. Dies Zahl beruht jedoch auf einer neuen Berechnungsmethode, die als willkürliche Verschlechterung der wahren Zustände kritisiert wird. Nach den geltenden Maßstäben für die Armutsgrenze in der Europäischen Union wären fast 25 % der russischen Bevölkerung von Armut betroffen. Ein Problem stellt vor allem die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessenem Mietwohnungen sollen für Teile der Bevölkerung unerschwinglich und ausreichender Wohnraum für Familien ein Dauerthema sein (vgl. zur Grundversorgung: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand: 10.09.2022, Ziff. IV. 1.1., Seite 23 f.). Da die Klägerin zu 2 auch nicht mit ergänzenden staatlichen Leistungen rechnen kann, droht ihr in Russland eine existenzielle Notlage.

Für den 18 Jahre alten Kläger zu 3 gelten die vorgenannten Ausführungen erst Recht. Als Schwerstbehinderter mit einem Behinderungsgrad von 100, der auf eine 24-Stunden-Pflege angewiesen ist, wird er trotz unterstellter Rückkehr im Familienverband weder in Tschetschenien noch in einem anderen Teil der Russischen Föderation ein Leben oberhalb des Existenzminimums zu führen können. Behinderte Menschen werden insbesondere in Tschetschenien diskriminiert und ausgegrenzt. Die Kläger haben glaubhaft angegeben, dass ihre in Grosny lebende Familie in den letzten Jahren vor ihrer Ausreise nach Deutschland unterbunden hat, dass der Kläger zu 3 medizinisch behandelt wurde. Eine Unterstützung wird er von dieser Seite deshalb auch bei seiner Rückkehr nicht erfahren. Seine Geschwister und seine Mutter sind bei unterstellter gemeinsamer Rückkehr aus den bereits genannten Gründen ebenfalls weder in der Lage, im Heimatland für ihn eine medizinische Behandlung und angemessene Betreuung zu organisieren noch angemessenen Wohnraum und die Versorgung mit den erforderlichen Lebensmitteln zu finanzieren. Der Kläger zu 3 würde deshalb nach Überzeugung des erkennenden Gerichts bei einer Rückkehr nach Russland kein menschenwürdiges Leben führen können und innerhalb kürzester Zeit verelenden.

Haben die Kläger zu 2 und 3 nach alledem einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich der Russischen Föderation erweist sich auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots als rechtswidrig. Die Ziffern 4 bis 6 des angegriffenen Bescheids sind daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 und 161 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.