Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 08.03.2018, Az.: 6 A 6359/16
Bagdad; Friedensbrigaden; Interner Schutz nicht möglich; Irak; Jaish al-Mahdi; JAM; Jaysh al-Mahdi; Journalist; Mahdi-Armee; Miliz; PMF; politische Verfolgung; Popular Mobilization Front; Sunnit
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 08.03.2018
- Aktenzeichen
- 6 A 6359/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 73977
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3b Abs 1 Nr 5 AsylVfG
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom F. wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Tatbestand:
Die Kläger, irakische Staatsangehörige arabischer Volks- sowie sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.
Sie reisten eigenen Angaben zufolge auf dem Landweg mit dem Zug aus Mailand kommend am G. in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) Asylanträge.
Zur Begründung dieser Anträge führte der Kläger zu 1. in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am H. aus, er habe den Irak verlassen, da ihn eine schiitische Miliz wegen seiner öffentlichen Meinungsäußerung in Fernsehinterviews bedroht habe.
Zu seinen Wohnverhältnissen im Irak erklärte der Kläger zu 1., weil er Sunnit sei, habe er innerhalb Bagdads von Al-Risala in einen anderen Stadtteil umziehen müssen. Bis zu seiner Ausreise habe er in Bagdad im Stadtteil Dora gewohnt. Sein Heimatland habe er am I. verlassen. Seine Eltern seien beide verstorben. Er habe zudem drei Schwestern und eine Tante, die weiterhin im Irak in Bagdad lebten. Seine Schwester wohne seit 15 Jahren in J..
In Bezug auf seinen beruflichen Werdegang erklärte er, das Abitur abgelegt zu haben. Einen Beruf habe er nicht erlernt. In der Zeit von 2007 bis 2015 habe er für K. TV und den L. Channel gearbeitet, zuletzt als M.. Sein hauptberufliches Betätigungsfeld sei als Leiter der Transportabteilung gewesen, d.h. er habe den Transport der Korrespondenten organisiert. Sofern ein Korrespondent einmal nicht anwesend gewesen sei, habe er gelegentlich auch als Korrespondent gearbeitet.
Hinsichtlich der Gründe für seine Flucht aus dem Irak äußerte sich der Kläger dahingehend, er sei zunächst wegen der allgemeinen politischen Situation geflohen, zum anderen deshalb, weil er wegen seiner journalistischen Aktivitäten bedroht worden sei. Zwei seiner Onkel und ein Cousin seien bei einer Bombardierung ums Leben gekommen. Ein Neffe sei ermordet, sein Auto gestohlen worden. Ein anderer Neffe sei von einer Miliz entführt und erst gegen Lösegeld freigelassen worden. Danach habe sein Neffe drei Monate im Krankenhaus verbringen müssen, weil die Entführer seine Hände mit einer Bohrmaschine verletzt hätten. Im Anschluss habe ihn sein Arbeitgeber, eine amerikanische Firma, in die USA geschickt.
Er, der Kläger zu 1., habe nach diesen kriminellen Vorfällen an einer Konferenz für N. in Bagdad teilgenommen, auf der das Thema Sicherheit zur Sprache gekommen sei. Hierbei habe er Korrespondenten des weltweit zu empfangenden TV-Senders O. in seiner Rolle als Familienmitglied von Betroffenen ein Interview gegeben und die Sicherheitslage in Bagdad kritisiert. Ohne die Namen der Betroffenen zu nennen, habe er sich dahingehend geäußert, dass es in Neu-Bagdad innerhalb kurzer Zeit mehrere Vorfälle gegeben habe, bei denen Personen zu Schaden gekommen seien. Ergänzend führte der Kläger zu 1. aus, in Neu-Bagdad herrsche die Mahdi-Armee. Hierbei handele es sich um eine schiitische Miliz, deren Führer P. heiße. Sie besitze große Macht, verfüge über Abgeordnete und Minister und arbeite zudem in Ämtern. Die Mitglieder dieser Gruppe hätten ihn nach dem Interview bedroht, weil er Sunnit sei und die Sicherheitslage in Neu-Bagdad kritisiert habe, obwohl er den Namen der Gruppe überhaupt nicht genannt habe.
Hierzu erzählte der Kläger im Einzelnen, am Q. habe jemand an seiner Tür geklingelt. Es habe sich um zwei Männer mit den Namen R. und S. gehandelt. Seine Frau habe ihn gerufen und die Männer hätten ihn zum Mitgehen aufgefordert. Auf seine Nachfrage, wohin er gehen solle, habe man ihm gesagt, nur Fragen an ihn richten zu wollen. Er habe sich jedoch geweigert, da er erkannt habe, dass die Männer bewaffnet seien. Seine Frau, die Klägerin zu 2., habe die Männer daraufhin aufgefordert, sie beide in Ruhe zu lassen. Daraufhin hätten sich mehrere Autos mit Bewaffneten genähert und jemand habe ihm eine Pistole an den Kopf gehalten. Er und seine Frau hätten die Kläger sodann gebeten, sie nicht zu töten und hätten die Männer ins Haus geführt. Seine Frau habe geweint. Die Männer hätten ihm mitgeteilt, sie würden ihn wegen seiner Frau an diesem Tage nicht töten. Er habe 48 Stunden Zeit, um das Haus zu verlassen, andernfalls würde man seinen Kopf in einem Mülleimer finden. Man werde das gleiche mit ihm machen wie mit seinen Freunden zuvor. Per Walkie Talkie habe jemand den Rückzug befohlen und die Männer seien mit drei schwarzen Geländewagen weggefahren.
Des Weiteren erklärte der Kläger zu 1., seine Söhne, die Kläger in den Verfahren 6 A 6419/16 und 6346/16, hätten sich zu diesem Zeitpunkt im ersten Stock des Hauses befunden und nichts von dem Vorfall mitbekommen. Er habe ihnen gesagt, sie sollten sofort ihre Sachen packen. Mit gepackten Sachen seien wir, ohne die Polizei einzuschalten, zum Haus seines Bruders in einem anderen Viertel gefahren. Dort habe er seinen Kindern und seinem Bruder erzählt, was passiert sei. Er habe am nächsten Tag seinen Arbeitskollegen angerufen und diesem mitgeteilt, nicht mehr zur Arbeit kommen zu können und ihn gebeten, ihm sein Gehalt zu bringen.
Finanziert habe er die Ausreise durch Verkauf seiner Möbel, seines Autos und des Goldes seiner Frau. Zudem habe er Unterstützung von Verwandten erhalten. Von seinem Bruder habe er sein Auto verkaufen lassen; die Goldstücke seiner Ehefrau habe er selbst verkauft. Sein Schwager, der sich in Ägypten befunden habe, habe ihm sodann ein Visum besorgt. Im Falle seiner Rückkehr fürchte er, von der Gruppe getötet zu werden.
Die Klägerin zu 2. schilderte in ihrer persönlichen Anhörung, sie habe bis zum T. in Bagdad im Stadtteil Dora gewohnt. Ihr Vater sei verstorben, ihre Mutter lebe ebenso wie ihre Großfamilie und ihre drei Schwestern in Bagdad. Sie selbst habe die Mittelschule besucht und sei anschließend Hausfrau gewesen.
Auf die Gründe ihrer Flucht angesprochen, erklärte die Klägerin zu 2., ihr Mann sei von Milizen bedroht worden, weil er für TV-Sender als U. der V. gearbeitet und in privater Funktion mehrere kurze Interviews zur Sicherheitslage bei mehreren Sendern gegeben habe. Von der Kritik an der Sicherheitslage habe er ihr nichts erzählt, bis bewaffnete Männer zu ihnen nachhause gekommen seien. Die Interviews seien oft im Fernsehen ausgestrahlt worden. Sie selbst habe die Sendungen gesehen; wisse das Datum aber nicht mehr genau.
Am Q. seien ihr unbekannte bewaffnete Männer zu ihnen nachhause gekommen. Diese hätten ihre Waffen auf sie gerichtet und hätten sie töten wollen. Daraufhin habe sie gebetet und die Hände der Männer geküsst, damit sie ihre Familie in Ruhe ließen. Die Männer hätten zu ihrem Mann gesagt: „Wegen deiner Frau töten wir dich nicht. Sonst würde dein Kopf in einen Mülleimer rollen.“ Die Männer hätten der Familie 48 Stunden gegeben, das Haus zu verlassen, andernfalls würden sie die ganze Familie töten. Sie hätten daraufhin Sachen eingepackt und seien zum Bruder ihres Mannes gefahren. Dort seien sie bis zum I. geblieben, hätten alle Wertsachen verkauft und die Reise nach Ägypten organisiert.
Vor diesem Vorfall habe es ihrer Kenntnis zufolge keine Drohungen gegen ihren Ehemann gegeben; zudem sei es der erste Vorfall gewesen, bei dem Leute zu ihnen nachhause gekommen seien. Während des Aufenthalts im Haus ihres Schwagers habe es keine weiteren Bedrohungen gegeben. Die Täter hätten nicht gewusst, wo sich die Familie aufgehalten habe; zudem seien alle Familienmitglieder die ganze Zeit zuhause geblieben. Im Falle ihrer Rückkehr befürchte sie die Tötung sämtlicher Familienmitglieder.
Mit Bescheid vom W., den Klägern am X. zugestellt, erkannte das Bundesamt den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Nr. 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 4). Zudem drohte es die Abschiebung der Kläger in den Irak an (Nr. 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6).
Zur Begründung führte es u.a. aus, der Vortrag der Kläger sei nicht glaubhaft. So sei es nicht nachvollziehbar, weshalb man den Kläger zu 1. wegen eines bloßen abstrakt gehaltenen Fernsehinterviews habe mit dem Tod bedrohen wollen. Überdies erscheine es nicht realistisch, dass die Gruppe den Kläger mit einem zahlenmäßig überzogenen Aufgebot von mehreren Personen und Fahrzeugen heimgesucht habe. Es sei darüber hinaus nicht nachvollziehbar, weshalb die Milizionäre einerseits mit einem großen Aufgebot vor dem Haus der Kläger erscheinen sollten, nur um ihn andererseits letztendlich aufgrund seiner Frau zu verschonen und der Familie 48 Stunden Zeit zu geben, das Haus zu verlassen. Es sei auch nicht lebensnah, dass die Kinder der Kläger, welche sich nach deren Schilderung zum damaligen Zeitpunkt im ersten Stock aufhielten, nichts von dem Vorfall mitangehört hätten. Auch habe der Kläger zuvor nie erwähnt, dass er einen Bruder habe. Der Vortrag der Klägerin zu 2. sei auch widersprüchlich, weil sie zuerst schilderte, dass ihr Mann die Sicherheitslage kritisiert und ihr nichts davon gesagt habe, bis die zwei Männer vor der Haustür standen, später jedoch mitteilte, dass die Interviews im Fernsehen ausgestrahlt worden seien und sie diese auch gesehen habe.
Des Weiteren führte das Bundesamt aus, selbst bei Wahrunterstellung der geschilderten Ereignisse fehle es jedenfalls an einem flüchtlingsrechtlich relevanten Anknüpfungsmerkmal. Der Kläger habe nicht als Journalist gearbeitet, sondern sei lediglich für den Transport der Fernsehkorrespondenten zuständig gewesen. Das Interview habe er privat gegeben. Auch eine zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes führende individuelle Gefahrerhöhung im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG sei im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Insbesondere die Tätigkeit des Klägers zu 1. als Fahrer von Korrespondenten stelle kein gefahrerhöhendes Merkmal dar, das zur Zuspitzung der allgemeinen konfliktbedingten Gefahren führe. Anhaltspunkte für die Feststellung von Abschiebeverboten bestünden nicht.
Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am Y. Klage erhoben.
Zur Begründung verweisen sie zunächst auf ihren Vortrag im Rahmen der Anhörung. Ergänzend führen sie aus, die vom Bundesamt monierten Widersprüchlichkeiten im Sachvortrag der Kläger hätten sich bereits durch eine entsprechende kurze Nachfrage im Interview aufklären lassen können. Der vom Kläger zu 1. in Bezug genommene Fernsehbericht läge ihm als Videodatei vor und er hätte sie dem Entscheider leicht vorspielen können, wenn dieser ihm nur die Gelegenheit hierzu gegeben hätte. Seinen Bruder habe er damals auf Nachfrage des Bundesamts, welcher seiner Verwandten noch in Bagdad lebe, nicht erwähnt, weil dieser am Z., d.h. zeitlich deutlich vor dem Zeitpunkt der Anhörung, ebenfalls aus dem Irak geflüchtet sei und sich nunmehr dauerhaft in der Türkei aufhalte.
Ergänzend tragen die Kläger vor, das Bundesamt habe die in Rede stehende Situation im Irak weder richtig verstanden noch zutreffend gewürdigt. Der Kläger zu 1. habe im Jahr 2015 neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit auch AA. Aufgaben wahrgenommen, die ihn sofort in ernste Gefahr gebracht hätten. Er habe in drei Fernsehberichten zu abgelaufenen (Bomben-)Attentaten nicht nur Informationen vermittelt, sondern auch seine Meinung laut und deutlich kundgetan. Hierbei habe er scharfe Kritik an der Unfähigkeit der irakischen Regierung geübt, für Sicherheit in der Hauptstadt zu sorgen. Infolgedessen sei die gesamte Familie von der schiitischen Mahdi-Miliz bedroht worden, welche Unterstützung aus dem Iran erhalte und infolgedessen regierungsseitig in keiner Weise kontrolliert, geschweige denn für ihre Vergehen bestraft werde. Als von den Aktivitäten dieser Milizen besonders gefährdete sunnitische Muslime wüssten die Kläger sehr wohl einzuschätzen, ob eine konkrete Gefahr drohe, andernfalls hätten sie ihr Haus kaum unmittelbar nach der Abfahrt der Milizionäre fluchtartig verlassen.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom W. zu verpflichten,
1. den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
2. hilfsweise den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen sowie
3. hilfsweise, festzustellen, dass bei den Klägern Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.
Hinsichtlich des Inhalts der informatorischen Anhörung der Kläger wird verwiesen auf die Sitzungsniederschrift vom 8. März 2018.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 AsylG anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 8. März 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
1.
Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom W., mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt die Kläger in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Nach § 3 Abs. 4 AsylG in der Fassung des Gesetzes vom 11. März 2016 (BGBl. I S. 394) wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person der Kläger erfüllt.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Zu bewerten ist letztlich, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).
Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist zu unterscheiden zwischen der Frage, ob dem Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung gemäß den §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG droht, und der Frage einer ebenfalls beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund (Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 30).
Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie), nicht (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22, Rnr. 21 f.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 31).
Hinsichtlich der Anforderungen an den Klägervortrag muss unterschieden werden zwischen den in die eigene Sphäre des Asylsuchenden (bzw. hier: des um Flüchtlingsschutz Nachsuchenden) fallenden Ereignissen, insbesondere seiner persönlichen Erlebnisse, und den in den allgemeinen Verhältnissen seines Herkunftslandes liegenden Umständen, die seine Furcht vor Verfolgung rechtfertigen sollen. Lediglich in Bezug auf erstere muss er eine Schilderung geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen, wobei dem persönlichen Vorbringen des materiell beweisbelasteten Klägers und dessen Würdigung nach § 108 VwGO im Hinblick auf die regelmäßig bestehende Not an anderen Beweismitteln gesteigerte Bedeutung zukommt. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann (Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 33). Hinsichtlich der allgemeinen politischen Verhältnisse im Herkunftsland reicht es hingegen wegen seiner zumeist auf einen engeren Lebenskreis beschränkten Erfahrungen und Kenntnisse aus, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt, aus denen sich - ihre Wahrheit unterstellt - hinreichende Anhaltspunkte für eine nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung für den Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland ergeben (BVerwG, Urteil vom 04.11.1981 - 9 C 251/81 -, juris; Urteil vom 22.03.1983 - 9 C 68.81 -, juris). Hier ist es Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen, die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine in besonderem Maße von Rationalität und Plausibilität getragene Prognose zu treffen (Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 34 f.).
Führt dies für sich genommen zu keinem für den Schutzsuchenden günstigen Ergebnis, verbleibt es bei allgemeinen Beweislastregeln. Allgemein gilt, dass die humanitäre Schutzrichtung des Asyl- und Flüchtlingsrechts weder eine Umkehr der objektiven Beweislast noch eine Folgenabwägung im Sinne eines „better safe than sorry“ gebietet (vgl. hierzu Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, S. 522 (523)). Das gilt erst recht, wenn es allein um die genaue Ausprägung des Schutzstatus, nicht aber um das Ob der Schutzgewährung geht (Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 36).
Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs haben im vorliegenden Fall die für die Verfolgung der Kläger sprechenden Umstände bei einer zusammenfassenden Bewertung der Umstände größeres Gewicht als die dagegen sprechenden Umstände. Das Gericht kommt aufgrund des aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks zu der Überzeugung, dass den Klägern im Falle der Rückkehr in den Irak aus individuellen, an die Person des Klägers zu 1. anknüpfenden Gründen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Verfolgung droht.
Den Klägern kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Die Kläger waren nach Überzeugung des Gerichts vor ihrer Ausreise aus dem Irak aufgrund der politischen Überzeugung des Klägers zu 1. von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.
Eine Verfolgung wegen politischer Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG liegt dabei vor, wenn diese an eine abweichende Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu Fragen des öffentlichen Staats- oder Gesellschaftslebens angeknüpft, unabhängig davon, auf welchen Lebensbereich sich diese bezieht. Entscheidend ist, ob Opposition im weiteren Sinne bekämpft wird, und sei es auch nur durch „normale“ Strafverfolgung mit Politmalus (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3b AsylG, Rn. 2). Zwischen den Verfolgungsgründen und Verfolgungshandlungen muss dabei eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Unerheblich ist insofern, ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rnr. 5; BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 - 1 B 63.17, 1 PKH 23.17 -, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 28). Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle der Kläger die Voraussetzungen einer politischen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG vor.
Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften und substantiierten Ausführungen der Kläger in der mündlichen Verhandlung sowie auf Basis der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Kläger zu 1. in drei Fernsehinterviews anlässlich der sich verschlechternden Sicherheitslage in Bagdad regierungskritisch äußerte und sich beide Kläger infolgedessen von staatlicher bzw. privater Seite Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sahen.
Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Ausweislich der vorliegenden Erkenntnismittel zum Irak gehen sowohl private Dritte als auch staatliche Organe oder quasi-staatliche Organisationen, etwa konfessionelle Milizen, gegen Journalisten und sonstige Privatpersonen vor, die sich zu sensiblen Themen öffentlich kritisch äußern.
Artikel 38 A und B der irakischen Verfassung garantieren die Freiheit der Meinungsäußerung, solange die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt wird. In Irak existiert dabei eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen. Das „Gesetz zum Schutz von Journalisten“ von 2011 hält ferner u. a. mehrere Kategorien des Straftatbestands der „Diffamierung“ aufrecht, die in ihrem Strafmaß z. T. unverhältnismäßig hoch sind. Überdies wird die journalistische Arbeit durch Übergriffe auf Journalisten behindert (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7. Februar 2017, S. 11).
Die Rahmenbedingungen der Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit im Irak beschreibt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich in seiner Länderinformation betreffend den Irak für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 120):
„Die Verfassung gewährt das Recht auf freie Meinungsäußerung, sofern die Äußerung nicht die öffentliche Ordnung oder die Moral verletzt, Unterstützung für die Baath-Partei ausdrückt oder das gewaltsame Verändern der Staatsgrenzen befürwortet. Der größte Teil der Einschränkungen dieses Rechts kommt durch Selbstzensur auf Grund von glaubhafter Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionelle Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden zustande (USDOS 3.3.2017).
Tatsächlich wird die journalistische Arbeit durch Übergriffe auf Journalisten behindert. Nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ ist Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder (AA 7.2.2017). Laut einem Bericht der International Federation of Journalists von 2016 gilt der Irak als das gefährlichste Land für Journalisten (HRW 12.1.2017). Laut Human Rights Watch sind alleine in den Jahren 1990 bis 2015 300 Journalisten getötet worden (HRW 12.1.2017). Auch Familienmitglieder von Journalisten können bedroht werden (OA/EASO 2.2017). Auf dem Index für Pressefreiheit befand sich der Irak im Jahr 2016 auf Platz 158 von 180 Staaten. Journalisten und Medien sind im Irak systematischer Gewalt ausgesetzt. Es kommt auch zu gezielten Morden an Medienschaffenden. Auch in den autonomen Kurdengebieten wurden Journalisten ermordet. Laut „Reporter ohne Grenzen“ schützt der Staat bedrohte Journalisten nicht. Politiker aller Couleur behindern die Arbeit kritischer Berichterstatter durch Schikanen und Gerichtsverfahren – häufig mithilfe repressiver Gesetze, die aus der Diktatur Saddam Husseins stammen (ROG o.D.). Das Land nahm im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007 - 2016) des “Committee to Protect Journalists” zudem den weltweit vorletzten Platz in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Danach wurden in den letzten zehn Jahren 71 Morde an Journalisten nicht aufgeklärt. Zuletzt gab es auch einen Fall in der Region Kurdistan-Irak, bei dem ein oppositioneller Journalist mit offenbar durch Sicherheitskräfte beigebrachten Foltermerkmalen tot aufgefunden wurde (AA 7.2.2017).“
N. gelten dabei nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen als eine der am meisten gefährdeten Berufsgruppen im Irak (BFA, a.a.O., S. 146). AB., die über heikle Themen wie Korruption oder Menschenrechtsverstöße von Milizen berichten, müssen nach Erkenntnissen von Amnesty International (AI) damit rechnen, tätlich angegriffen, entführt, eingeschüchtert, schikaniert und mit dem Tode bedroht zu werden (AI, Amnesty Report 2017, Irak. S. 5). Am 12. Januar 2016 wurden beispielsweise der Reporter Saif Talal sowie der Kameramann Hassan al-Anbaki, die für den Fernsehsender al-Sharkia arbeiteten, im Nordwesten der Provinz Diyala erschossen, nachdem sie über einen Selbstmordanschlag in Muqdadiya und Vergeltungsschläge von Milizen gegen arabische Stämme berichtet hatten. Der Sender machte unbekannte Milizionäre für die Tat verantwortlich, die Behörden hätten jedoch keine gründlichen Untersuchungen eingeleitet, um die Tat aufzuklären (AI, a.a.O., S. 5). Einer der am meisten diskutierten Entführungsfälle des Irak war nach Erkenntnissen des Bundesamts für Asyl und Fremdenwesen der Republik Österreich derjenige der im Dezember 2016 gekidnappten Journalistin AC., welche nur wenige Tage nach Veröffentlichung eines Artikels über die Straffreiheit schiitischer Milizen in der Zeitschrift AD. von einer bewaffneten Gruppe entführt und gefoltert wurde. Die Entführer ließen ihr Opfer erst frei, nachdem die Öffentlichkeit massiven Druck auf den Premierminister und das Innenministerium ausübte (BFA, a.a.O., S. 13).
Im Irak erweist es sich dabei als besonders schwierig, eine Bedrohung von Journalisten durch nichtstaatliche Akteure abzugrenzen von einer Gefährdung durch staatliche Organe oder staatsnahe Gruppierungen. Zwischen Vereinigungen, die Journalisten oder Angehörige anderer Berufsgruppen (insbesondere Richter, Wissenschaftlicher und Ärzte) aus ideologischen oder „staatspolitischen“ Gründen entführen oder bedrohen, und solchen, die rein kriminelle Zwecke verfolgen, besteht nach Erkenntnissen der Asylbehörden der Republik Österreich lediglich ein schmaler Grat. Hiernach gehen viele Entführungen auf das Konto krimineller Gruppen, die über einen gewissen Schutz durch Stämme verfügen, welche ihrerseits mit der Politik verwoben und oftmals diejenigen Akteure sind, die gerade an Stelle des Staates zur Konfliktlösung oder zum Schutz in Anspruch genommen werden (Bundesasylamt (BAA), Analyse der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 14).
Eine besondere Abgrenzungsschwierigkeit im Falle einer Bedrohung durch schiitische Milizen ergibt sich des Weiteren aus deren engen Einbindung in die Sicherheitsstruktur des Irak. Sämtliche schiitischen Milizen des Landes sind mittlerweile unter dem Dachverband der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten zusammengefasst. In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten irakischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah Ali al-Husseini al-Sistani, der ebenfalls alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (AI, Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35). Offizielle Statistiken betreffend die Anzahl der Milizen innerhalb der PMF existieren nicht. Medienberichte, die sich auf Schätzungen nicht näher spezifizierter Offizieller berufen, sprechen von 40 bis 50 Milizen. Das irakische Budget des Bundeshaushalts für das Jahr 2016 lässt nach Erkenntnissen von Amnesty International den Rückschluss darauf zu, dass sich zum damaligen Zeitpunkt 110.000 Personen in den PMF befanden; ein Sprecher der PMF nannte im Dezember 2016 eine Zahl von 141.000 affiliierten Kämpfern (AA, a.a.O., S. 9). Im Länderbericht Irak für das Jahr 2017 des Bundesamts für Migration und Fremdenwesen heißt es zur Größe der PMF (BFA, a.a.O., S. 73):
„Der Name „Volksmobilisierungseinheiten“ bzw. Al-Hashd al-Shaabi, englisch: Po-pular Mobilization Units (PMU) oder Popular Mobilization Forces bzw. Front (PMF)) bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig fast ausschließlich schiitische Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formatio-nen. Schätzungen zufolge haben die Volksmobilisierungseinheiten zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen. Die Entstehung des Milizenbündnisses kann als Reaktion auf die irakische Offensive des sog. „Islamischen Staates„ (IS) verstan-den werden und ist somit eng mit dessen militärischen Erfolgen und territorialen Gewinnen verquickt.“
Die schiitischen Milizen innerhalb der PMF sind dabei nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, a.a.O., S. 97). Als die wichtigsten schiitischen Milizen innerhalb des Dachverbandes der Volksmobilisierungseinheiten gelten dabei die Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization), ‘Asa’ib Ahl al-Haq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute), Kata’ib Hizbullah (Hizbullah Brigades) sowie schließlich die im vorliegenden Fall in Rede stehende Organisation Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone, ehemals Mahdi-Army bzw. Mahdi-Armee).
Letztere formierte sich in Opposition zu der US-Invasion im Jahr 2003 und der anschließenden Besetzung des Irak (AI, a.a.O., S. 9 f.). Gründervater der Mahdi-Armee ist der einflussreiche schiitische Geistliche Muqtada al-Sadr, Sohn des im Jahr 1999 ermordeten Großayatollah Mohamnmed Sadiq al-Sadr, welcher ihr das Ziel gab, die von den USA angeführte Militärkoalition aus dem Irak zu vertreiben und eine schiitische Regierung im Irak zu etablieren. Von 2004 an griff die Mahdi-Armee regelmäßig Koalitionstruppen an; in den folgenden Jahren galt sie in zahlreichen Landstrichen des Irak als gefährlicher als die Terrororganisation Al Qaida und in ihrer militärischen Stärke lediglich den US-Truppen nachstehend. In der Zeitperiode von etwa 2004 bis 2007 häuften sich zudem Berichte darüber, dass die Mahdi-Armee mit Todesschwadronen sunnitische Iraker verfolgte und die im Land vorherrschenden sektiererische Gewalt anfachte (Stanford University, Mapping Militant Organizations: Mahdi Army, 26. November 2017, S. 1 f. der Druckversion). Nach Auskunft des Center for Strategic and International Studies (CSIS), wiedergegeben in einer Anfragebeantwortung des Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), führte die Gruppe zahllose Angriffe auf US-amerikanische und irakische Streitkräfte sowie auf sunnitische Zivilisten durch und war hierbei für einige der grausamsten konfessionell motivierten Gewalttaten im Irak verantwortlich (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten; Rolle der Mahdi-Milizen [a-7959-2 (7960)], 17. April 2012 S. 4 der Druckversion).
Im Anschluss an ein durch den Iran vermitteltes Waffenstillstandsabkommen mit der irakischen Regierung im Jahr 2008 verlegte sich die Mahdi-Armee zunächst von Militäroperationen auf die Gewährleistung sozialer Dienste in schiitischen Vierteln und benannte sich in Mumahidoon um. Parallel gründete Sadr eine paramilitärische Spezialeinheit mit dem Namen Liwa al-Youm al-Mawud (Promised Day Brigades bzw. Kompanien des verheißenen Tages), welche die US-Truppen im Irak bis in das Jahr 2011 hinein weiterhin angriff. Im Jahr 2010 verlagerte Sadr den Schwerpunkt der Tätigkeit der Mahdi-Armee unter Vernachlässigung der vorherigen schwerpunktmäßig karitativen Ausrichtung sodann auf das Feld der Politik und unterstützte mit seiner Sadr-Bewegung (al-Tayyār al-Sadri bzw. Sadrist Movement) die vorwiegend aus schiitischen Parteien bestehende irakische Nationalallianz (Iraqi National Alliance). In der Parlamentswahl 2010 errang die Sadr-Bewegung 40 von 325 Plätzen im irakischen Parlament (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion). Bei den Provinzwahlen im Jahr 2013 errang die Partei Sitze in Bagdad und den südlichen Provinzen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz, 28. Juli 2017, S. 2 der Druckversion). Im Jahr 2013 verkündete Sadr darauf hin überraschend seinen Rückzug aus der irakischen Politik sowie die Auflösung der Mahdi-Armee, blieb jedoch weiterhin bei seiner großen Anhängerschaft populär sowie ein prominenter Einflussfaktor in der irakischen Politik (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion).
Nachdem der IS Mossul im Juni 2014 eingenommen hatte, rief Sadr die Mahdi-Armee abermals unter dem neuen Namen der Friedenskompanien ins Leben mit dem Ziel, den IS zu besiegen und den pro-iranisch eingestellten damaligen irakischen Premierminister Nouri al-Maliki zu stürzen. Dem darauffolgenden Premierminister Haider al-Abadi sicherte Badr seine Unterstützung zu und beteiligte die Friedenskompanien in enger Zusammenarbeit mit den irakischen Sicherheitskräften am Kampf gegen den IS. Im Jahr 2016 kehrte Sadr sodann in die irakische Politik zurück (Stanford University, a.a.O., S. 4 f. der Druckversion). Er gilt seitdem als einer der zahlreichen Herausforderer der schwachen irakischen Zentralregierung unter Premierminister al-Abadi und stilisiert sich als irakischer Nationalist, der einerseits gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik, den politischen Einfluss des Iran sowie eine Rückkehr Malikis an die Regierungsspitze ankämpft, andererseits jedoch durch die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durchführen lässt, welche – trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren – oftmals außer Kontrolle geraten und u.a. im Februar 2017 zur Erstürmung der sogenannten Green Zone führten, des schwer befestigten Regierungs- und Botschaftsviertels in Bagdad (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 34-36, S. 86).
Die Organisation „Friedenskompanien“ gilt de facto als Fortführung der Mahdi-Armee, weil deren Kader und Netzwerke auch nach der offiziellen Auflösung aktiv blieben und im Jahr 2014 von Sadr leicht wieder mobilisiert werden konnten. Obgleich die Miliz Sadrs im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte im Einklang mit ihrer sich (ab-)wechselnden Ausrichtung jeweils unterschiedliche Namen erhielt, ist sie zudem im Irak seit jeher im Alltag unter ihrer Ursprungsbezeichnung Jaysh al-Mahdi (JAM) bzw. Mahdi-Armee bekannt (Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 6 der Druckversion). Auch ACCORD verweist in einer jüngeren Anfragebeantwortung betreffend die Mahdi-Armee auf eine Auskunft eines Stammesführers aus der Provinz Anbare, der zufolge der Begriff Mahdi-Armee in der alltäglichen Sprache immer noch zur Bezeichnung der Friedensbrigaden verwendet wird (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz, 28. Juli 2017, S. 2 der Druckversion). In Bezug auf den jüngsten Namenswechsel der Organisation zitiert ACCORD in einer Anfragebeantwortung aus Juli 2017 das Carnegie Endowment for International Peace (CEIP), ein globales Netzwerk von Think Tanks zum Thema Politikforschung und Förderung des Friedens mit Hauptsitz in den USA, mit den Worten, während der damalige Name auf die schiitische Theologie angespielt habe, weise der jetzige Name „Friedenskompanien“ keinen religiösen Bezug auf und stehe stellvertretend für den Wandel, den die Sadr-Bewegung durchlaufe. So würde die Organisation nunmehr Seite an Seite mit sunnitischen Stämmen und Christen gegen den IS kämpfen und versuchen, ihre neue nationalistische Ausrichtung durch die Verbreitung von Bildern von Kämpfern zu dokumentieren, welche die konfessionellen Flaggen gegen die irakischen Flaggen ausgetauscht hätten (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz [a-10267-2 (10268)], 28. Juli 2017, S. 5 der Druckversion).
Bezüglich der Größe der Organisation finden sich unterschiedliche Angaben in den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln. Nach Auskunft des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl sprechen irakische Quellen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, sehen die militärische Schlagkraft der Organisation jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung als begrenzt an. Letzteres liege darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren wolle, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiere (BFA, a.a.O., S. 75). Die Stanford University gibt in einer Stellungnahme aus November 2017 bezüglich der Frage der Anzahl der Anhänger der Mahdi-Armee im Juni 2014 verschiedene, sich widersprechende Quellen wieder (AlJazeera: 10.000 Mann, The Telegraph: 50.000 Mann, Alalam: 20.000 Mann; s. Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 7 der Druckversion). ACCORD verweist in einer Anfragebeantwortung betreffend die Aktivitäten der Mahdi-Miliz zudem auf einen Bericht der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) aus August 2016, dem zufolge die bis zu einer Stärke von 50.000 Mann reichende Schätzung der Größe der Mahdi-Armee durchaus möglich sei, weil diese bereits im Jahr 2004 mehrere zehntausend Mann gezählt habe. Nach Einschätzung der Stiftung muss sich diese Zahl dann aber realistischerweise auf das gesamte Personal der Miliz inklusive ihrer sämtlichen Teilgruppierungen beziehen, von denen nur ein kleiner Teil tatsächlich gegen den IS kämpft (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz, 28. Juli 2017, S. 1 der Druckversion). ACCORD bezieht sich zudem auf einen Bericht der finnischen Einwanderungsbehörde (Finnish Immigration Service) aus April 2015, dem zufolge die Friedensbrigaden zum damaligen Zeitpunkt über 60.000 Angehörige verfügten. Im Jahr 2014 habe die Miliz in Bagdad zur Machtdemonstration Paraden im schiitischen Viertel Sadr City abgehalten, an denen Schätzungen zufolge 30.000 bis 50.000 Mitglieder teilgenommen hätten; die meisten seien in Uniform aufgetreten und hätten Waffen getragen. Nach Auskunft einer diplomatischen Quelle seien die Friedensbrigaden die stärkste Miliz, die unabhängig vom Iran agiere (ACCORD, a.a.O., S. 2 f. der Druckversion). Als das Haupteinsatzgebiet der Miliz wird allgemein das südliche Zentrum des Irak angesehen; die Gruppe war indessen auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (BFA, a.a.O., S. 75). Besonders populär ist die Mahdi-Armee seit jeher in Sadr City, einem nach dem Vater von Muqtada al-Sadr benannten Stadtteil von Bagdad (Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 13 der Druckversion). Hier stellt sie illegale Checkpoints auf und kann selbst Regierungstruppen den Zugang verweigern (ACCORD, a.a.O., S. 2 der Druckversion).
Die Mahdi-Armee ist wie die übrigen PMF-Milizen mittlerweile eng mit dem irakischen Staat verknüpft. Amnesty International weist darauf hin, dass Angehörige der PMF-Milizen Militäruniformen tragen, zum Teil unabhängig von, zum Teil auch gemeinsam mit den regulären Regierungstruppen im Gefecht und an Checkpoints agieren und zudem die Stützpunkte und Haftzentren der regulären Truppen nutzen (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.). Auch das Auswärtige Amt erklärt in seinem Lagebericht zum Irak aus Februar 2017, durch die staatliche Akzeptanz, teilweise Führung und Bezahlung der Milizen der PMF verschwimme die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 15).
Sämtliche der PMF zugeordneten Milizen genossen seit der Gründung des Dachverbandes starke Unterstützung durch die irakische Regierung. Am 19. Juni 2014 erließ der damalige irakische Premierminister Nouri al-Maliki eine Anweisung, PMF-Freiwilligen ein staatliches Gehalt zu zahlen und sie im Falle ihrer Verwundung oder ihres Todes den Angehörigen des Innen- und Verteidigungsministeriums gleichzustellen. Am 30. September 2014 verfügte darüber hinaus der irakische Ministerrat, die PMF-Milizen mit Waffen und anderem militärischen Equipment auszustatten. Im November 2014 wies der Generalsekretär des Kabinetts dem Verteidigungsministerium Haushaltsmittel für die Gehälter der PMF-Kämpfer zu. Das Budget des zentralirakischen Haushalts stellte den PMF im Jahr 2016 nahezu 1,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung und räumte dem Finanzministerium die Berechtigung ein, weitere 2 Milliarden US-Dollar zum Zwecke der Waffenbeschaffung und des Anlagenbaus an das Ministerium der Verteidigung, des Inneren und die PMF zu überweisen. Zudem gründete der Ministerrat im Jahr 2014 die Volksmobilisierungskommission (Popular Mobilization Commission (PMC)), die für die Verwaltung der PMF zuständig ist (AI, Iraq: Turning a blind eye. The arming of the Popular Mobilization Units, S. 9). Im Februar 2016 erließ der irakische Premierminister des Weiteren eine Verfügung, welche den PMF den Status einer „unabhängigen militärischen Formation, Teil der irakischen Streitkräfte und angekoppelt an den obersten Befehlshaber der Streitkräfte“, verlieh. Zudem spezifizierte die Verfügung, dass die PMF der Militärgesetzgebung unterliegen und verlieh ihnen eine ähnliche Organisationsstruktur wie die Iraqi Counter Terrorism Force, welche sowohl vom Verteidigungs- als auch vom Innenministerium unabhängig ist. Diese Verfügung setzte das irakische Parlament am 26. November 2016 vollumfänglich in ein Gesetz betreffend die Volksmobilisierungseinheiten um, welches am 26. Dezember 2016 in Kraft trat. Zusätzlich sah das Gesetz vor, dass der Einsatz der PMF-Milizen an spezifischen Orten der Autorität des Oberbefehlshabers der Streitkräfte unterliegt und das Parlament der Ernennung von Führungsoffizieren der PMF oberhalb eines bestimmten Ranges zustimmen muss (AI, a.a.O., S. 14).
Die tatsächliche Möglichkeit des irakischen Staates, über Befehle und Weisungen auf die PMF Einfluss zu nehmen, beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 78):
„Obwohl das Milizenbündnis unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die Volksmobilisierung dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Ministerpräsidenten als Oberkommandierendem unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. […] Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert […].“
An anderer Stelle heißt es zu den Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf die PMF in noch deutlicheren Worten (BFA, a.a.O., S. 35, 108):
„Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen – einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das „Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub“ gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen (s. ausführlich im Abschnitt zur Menschenrechtslage) konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016; vgl. ÖB 5.2015). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der [stark schiitisch dominierte] Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder „hinauskomplementiert“. Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z.B. jenes [vom November 2016 - s. Harrer 28.11.2016], das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch: Al-Hashd al-Shaabi, oder auch nur „Hashd“) der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt.“
„Den staatlichen Stellen ist es nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen, insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dies geht einher mit Repressionen, mitunter auch Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession Minderheiten geraten oft zwischen die Fronten (AA 7.2.2017).“
Auch Amnesty International hebt hervor, dass Angehörige der PMF-Milizen nicht der Befehlsgewalt der regulären Truppen unterstellt sind. Die Milizen schienen vielmehr über größere Autorität und Schlagkraft vor Ort zu verfügen als die mitgenommenen Regierungstruppen, die als schwach und ineffektiv gälten (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.).
Hinsichtlich des Vorgehens schiitischer Milizen gegen sunnitische Araber führt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zudem aus (BFA, a.a.O., S. 84 f.):
„Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017).“
In Bezug auf die Finanzierung der PMF-Milizen und ihr Wirken im zivilen Sektor hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die folgenden Erkenntnisse fest (BFA, a.a.O. S. 79, S. 83 f.):
„Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat.“
„Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. […] Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).
Offiziell ist nach wie vor das sogenannte „Baghdad Operations Command“ (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017). Problematisch werden diese Entwicklungen v.a. auch auf Grund der Tatsache gesehen, dass die PMF-Milizen konfessionell sehr einseitig (schiitisch) aufgestellt sind, und einige von ihnen direkt mit dem iranischen Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei affiliiert sind [sowie auf Grund der von ihnen im Irak begangenen Menschenrechtsverletzungen – s. Abschnitt Menschenrechtslage] (Al-Monitor 9.6.2017).“
Auch die Stanford University verweist in einem Bericht aus November 2017 darauf, Teile des Gemeinwesens seien seit langem von der Mahdi-Armee infolge deren Korruption und Gangster-Methoden desillusioniert. Die Gruppe habe sich in Bagdad mit Raubüberfällen, Morden, Vergewaltigungen und Schutzgelderpressungen gegenüber der örtlichen Bevölkerung ebenso einen Namen gemacht wie mit der Entführung von Sunniten wie Schiiten zur Erpressung von Lösegeld. Nach Auskunft örtlicher Kontaktpersonen bekämpfe die Mahdi-Armee nicht lediglich mutmaßliche feindliche Invasoren, sondern jeden, der sich ihren mafiösen Aktivitäten in den Weg stelle, wobei sich bei vielen Irakern die Frage stelle, inwiefern al-Sadr wirklich in der Lage sei, seine Organisation effektiv zu kontrollieren (Stanford University, Mapping Militant Organizations. Mahdi Army, 26. November 2017, S. 13 f. der Druckversion; FDD’s Long War Journal, Iraqis begin to ‘despise’ the Mahdi Army in Baghdad’s Rusafa district, 3. Mai 2008; ähnlich: BAA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 13 f.). Nach Einschätzung des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl geht zudem ein Großteil der Terroranschläge im Irak auf das Konto heimischer Terrororganisationen. Dieser Befund betreffe neben dem (sunnitischen) IS insbesondere die schiitischen Friedenskompanien Sadrs sowie die ebenfalls schiitischen Gruppen Asa’ib Ahl al-Haq (AAH) und Kata’ib Hizballah (BFA, a.a.O., S. 58).
Die vorgenannten Erkenntnisquellen zur Gefährdung von Journalisten im Irak sowie dem kriminellen Wirken schiitischer Milizen, insbesondere der Mahdi-Armee, finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung der Kläger in der mündlichen Verhandlung.
Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften und substantiierten Ausführungen der Kläger zu der Überzeugung gelangt, dass sie aufgrund der regierungskritischen öffentlichen Äußerungen des Klägers zu 1. zur Sicherheitslage in Bagdad den von ihnen in der Anhörung beim Bundesamt geschilderten Verfolgungsmaßnahmen von Mitgliedern der Mahdi-Armee ausgesetzt waren. Dabei ist es unschädlich, dass der Kläger zu 1. sich bei den in Rede stehenden Äußerungen nicht im Hauptberuf, sondern allenfalls im Nebenbeurf als M. betätigt hat, da nach den dargestellten Erkenntnisquellen nicht die formale Berufsstellung die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsmaßnahme begründet, sondern der Umstand, dass sich eine Person zu sensiblen Themen, etwa dem Wirken schiitischer Milizen, öffentlichkeitswirksam äußert. Dieses ist bezüglich der streitgegenständlichen Fernsehinterviews des Klägers zu 1. zu bejahen.
Es steht zunächst zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1. im Zeitraum von 2007 bis 2014 beim Sender AE. TV sowie seit dem Jahr 2014 bis zu seiner Ausreise aus dem Irak beim Sender AF. als U. der V. für die Koordination des Einsatzes von Kameramännern, Reportern und Fahrern zuständig war. Der Kläger zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung nicht nur entsprechende Presseausweise vorgelegt, sondern die Details seiner beruflichen Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder Reporter und Kameramann ein technisch geeignetes Fahrzeug zur Verfügung hatte, konkret und anschaulich beschrieben.
Des Weiteren ist der Einzelrichter zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger zu 1. in drei Interviews gegenüber verschiedenen Fernsehsendern die Sicherheitslage in Bagdad öffentlich kritisierte. So hat der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und menschlich nachvollziehbar seine Motivation für die öffentliche Kritik geschildert, welche darin begründet gelegen habe, dass mehrere Angehörige seiner verzweigten Familie innerhalb kurzer Zeit bei sicherheitsrelevanten Vorfällen zu Tode gekommen seien. Zwei seiner Onkel und ein Cousin seien bei einem Bombenattentat im Viertel Neu-Bagdad, welches von der Mahdi-Armee kontrolliert werde, ums Leben gekommen. Einer seiner Neffen sei von Unbekannten im Viertel Al-Sidya getötet worden. Ein anderer Neffe sei von der Mahdi-Armee entführt und gefoltert worden, bis die Familie über Beziehungen die Freilassung habe erwirken können. Diese Ausführungen wertet der Einzelrichter als glaubhaft, weil sie – ausgehend von den Grundsätzen der psychologischen Aussagenanalyse – hinreichende Realkennzeichen aufweisen, welche für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Die diesbezüglichen Aussagen des Klägers zu 1. wiesen insbesondere eine ungeordnet sprunghafte Darstellung auf, geprägt durch spontane Verbesserungen und Ergänzungen, sowie einen erheblichen quantitativen Detailreichtum. So konnte der Kläger zu 1. beispielsweise die Verletzungen, welche seinem Neffen im Wege der Folter mit diversen Instrumenten zugefügt wurden, ebenso wie die folgende ärztliche Behandlung außerordentlich plastisch beschreiben. Gleichzeitig konnte er die betroffenen Familienangehörigen ohne Zögern namentlich benennen, die einzelnen Vorfälle räumlich-zeitlich verknüpfen und insbesondere den verschiedenen Vierteln Bagdads zuordnen. Schließlich wies die Aussage des Klägers zu 1. auch die notwendige inhaltliche Konstanz mit seiner vorangegangenen Schilderung der Ereignisse vor dem Bundesamt auf.
Das Gericht hat des Weiteren keinerlei Zweifel daran, dass der Kläger in mehreren Fernsehinterviews die Sicherheitslage in Bagdad kritisierte. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zum einen auf seinem Laptop eine mit dem Mobiltelefon abgefilmte Aufzeichnung eines Beitrages des Fernsehsenders O. vorgespielt. Hierbei sah man, wie sich der Kläger zu 1.) vor dem Hintergrund einer stark befahrenen Straße zur Kamera gewandt zur Sicherheitslage in Bagdad erklärte, begleitet von der Bildunterschrift: „Neue Serie von Gewaltattentaten trifft verschiedene Gebiete in Bagdad“. In diesem Interview äußerte sich der Kläger nach Auskunft des Dolmetschers dahingehend, dass bei Anschlägen viele unschuldige Menschen ums Leben gekommen seien und dass die Sicherheitslage in der Stadt sehr schlecht sei. Des Weiteren stellte der Kläger die Frage, was für einen Sicherheitsplan die Verantwortlichen aufzustellen gedächten. Zum anderen hat der Kläger zu 1. substantiiert und detailreich den äußeren Rahmen geschildert, in dem das Interview zustande kam. Hierzu führte er aus, Anlass des Interviews sei eine Konferenz gewesen, in der sich Schriftsteller, Dichter und andere Literaturakteure zur Sicherheitslage in Bagdad ausgetauscht hätten und während der er, wie oftmals bei derartigen Konferenzen der Fall, mit anderen Mitgliedern der Fernseh-Teams beisammengestanden und sich unterhalten habe. Bei dieser Gelegenheit habe er sich erkundigt, welcher der Sender über die Sicherheitslage berichte und habe dann den Reporter des Senders O. direkt angesprochen und sein Interesse bekundet, ein Interview zu geben.
Des Weiteren hat der Kläger zu 1. die vom Bundesamt in Bezug auf das Fernsehinterview aufgezeigten vermeintlichen Widersprüche zu den Aussagen der Klägerin zu 2. glaubhaft ausräumen können. Hierzu erklärte er, er habe in der Tat drei kritische Interviews in Bezug auf die schlechte Sicherheitslage in Bagdad gegeben, d.h. auch gegenüber den Sendern AG. und AH. u.a. in Bezug auf regierungskritische Demonstrationen, doch habe seine Familie diese Fernsehinterviews nicht aufzeichnen können. Auch das in der mündlichen Verhandlung vorgespielte Interview beim Sender O. habe seine Frau mit Sicherheit gesehen, da entweder sie oder seine Söhne – genaueres wisse er nicht – dieses mit dem Handy aufgenommen hätten. Sofern sie gegenüber dem Bundesamt in der Anhörung gesagt habe, sie habe nichts von seiner Kritik an der Sicherheitslage gewusst, so habe sie damit zum Ausdruck bringen wollen, dass sie nicht gewusst habe, welche negativen Folgen sich daraus für ihre Familie ergeben würden.
Schließlich steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass beide Kläger anlässlich der politischen Meinungsäußerungen des Klägers zu 1. am Q. von Angehörigen der Mahdi-Miliz mit dem Tode bedroht und gemeinsam mit ihren beiden Söhnen, den Klägern in den Verfahren 6 A 6419/16 und 6 A 6346/16, aus ihrem Haus vertrieben wurden.
Die diesbezüglichen Aussagen beider Kläger wiesen hinreichende Realkennzeichen auf, insbesondere einen erheblichen Detailreichtum, welche für die Schilderung eines real erlebten Ereignisses sprechen. So konnte der Kläger zu 1. den Vorfall mit den Bewaffneten nach dem Öffnen der Haustür detailliert räumlich-situativ einordnen, indem er beispielsweise die Lichtverhältnisse an dem Abend beschrieb, d.h. wie die Straße durch einen von der Nachbarschaft wegen der Stromengpässe angeschafften Dieselgenerator nur spärlich beleuchtet wurde und wie nach und nach weitere bewaffnete Personen aus der Dunkelheit hervortraten. Überdies konnte er die Handlungen der Täter, welche mit ihren Schusswaffen u.a. auf den Kopf seiner Frau zielten, ebenso anschaulich beschreiben wie prägnante Teile der Äußerungen der Bewaffneten („Komm mit uns. Wir werden dich vernehmen.“, „Dies ist eine Frau, erschießt sie nicht!“, „Du hast Glück wegen deiner Frau. Sonst hätten wir dich mitgenommen. Am zweiten Tage hätten die Leute dann deinen Kopf in einem Mülleimer gefunden. Du hast 48 Stunden um dein Haus zu verlassen. Danach bringen wir dich um.“). Zudem hat die Klägerin zu 2. in der mündlichen Verhandlung plastisch geschildet, dass die Bewaffneten ihr „Vernehmungsgesuch“ mit den Worten begründet hätten: „„Komm mit. Wir wollen dich befragen. Du redest über den Staat in Fernsehsendungen.“ Dabei enthielt die Aussage der Klägerin zu 2. zugleich deliktsspezifische Aussageelemente, da sie in der mündlichen Verhandlung mit Handgesten aufzeigte, wie einer der Täter seine Pistole durchlud, bevor er sie an ihren Kopf richtete.
Schließlich konnten beide Kläger die beiden Hauptakteure, welche der Kläger zu 1. nachträglich durch Nachfragen bei Bekannten als R. und AI. namentlich identifizieren konnte, anschaulich anhand charakteristischer Äußerlichkeiten einprägsam beschreiben. Die Aussage der Klägerin zu 2. stach hierbei nochmals besonders hervor, weil sie ihre damaligen Gemütsregungen plastisch schilderte, indem sie ihren Ekel gegenüber dem Erstgenannten beschrieb, den sie als besonders körperlich ungepflegt wahrgenommen habe. Schließlich enthielt die Aussage des Klägers zu 1. auch ungewöhnliche situative Details, da er spontan ergänzte, durch spätere Nachfragen erfahren zu haben, dass beide Männer, ursprünglich Offiziere der Mahdi-Armee, mittlerweile nicht mehr bei dieser Miliz aktiv seien, sondern sich der Gruppe „Hashed Al Shabi“ angeschlossen hätten.
Soweit das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid Zweifel an dem geschilderten Tatablauf hatte, schließt sich der Einzelrichter diesen nicht an. In welcher Personenstärke Entführungskommandos der Mahdi-Armee auftreten oder wie diese im Einzelfall vor Ort agieren, entzieht sich einer generalisierenden Betrachtung. Nach Auswertung eines ausführlichen Heimvideos, welches die Kläger beim Einzug in ihr Haus erstellt hatten und in der mündlichen Verhandlung vorspielten, ist es überdies nach den baulichen Begebenheiten durchaus plausibel, dass die zum damaligen Zeitpunkt im ersten Stock befindlichen Söhne der Kläger nichts von dem Vorfall im Erdgeschoss mitbekommen haben. Schließlich hat der Kläger zu 1. auch glaubhaft dargelegt, weshalb er seinen Bruder, bei dem er nach der Flucht aus seinem Haus für kurze Zeit Unterschlupf fand, nicht erwähnte, als ihn der Entscheider zu Beginn der Anhörung nach seinen noch im Irak lebenden Verwandten befragte. Hierzu vermochte er darzutun, dass sein Bruder den Irak bereits Anfang Dezember 2015 fluchtartig verlassen hatte, nachdem er in Streit mit einer Person geraten war, von der er im Nachhinein erfahren habe, dass sie Verbindungen zur schiitischen Miliz „Asa’ib Ahl al-Haqq“ hatte. Auch diesen Vortrag wertet der Einzelrichter in Anbetracht der substantiierten Schilderung des Geschehens als glaubhaft, zumal der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung Kopien des Reisepasses seines Bruders sowie einer türkischen Aufenthaltserlaubnis vorgelegt hat, aus denen hervorgeht, dass dieser den Irak am Z. verlassen hat und am selben Tag in Istanbul eingereist ist.
Entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid geäußerten Auffassung erweist es sich auch nicht als unwahrscheinlich, dass der Kläger zu 1. wegen eines bloßen kritischen Interviews zur Sicherheitslage in Vierteln, welche der Kontrolle der Mahdi-Armee unterstehen, verfolgt wurde. Bereits aus den aufgeführten Erkenntnismitteln, insbesondere dem Fall der entführten und gefolterten Journalistin AC., ist ersichtlich, dass bereits kritische Presseartikel zum Wirken schiitischer Milizen erhebliche Repressalien nach sich ziehen können. Gestützt wird dieser Befund durch den Umstand, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ein Fernsehinterview eines namentlich benannten Arbeitskollegen beim Sender AF. vorspielte. Nach Auskunft des Dolmetschers berichtete dieser Kollege im Interview darüber, dass Pressefreiheit im Irak bedeute, dass man den Mund zu halten habe. Man könne sich nicht äußern, ohne von Milizen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Reporter würden ihr Leben aufs Spiel setzen und hätten Angst um ihre Familien und Angehörigen. Es komme zu Bedrohungen und Ermordungen. Im Falle des Klägers ist dabei abermals risikoerhöhend in Rechnung zu stellen, dass er als Sunnit besonders Gefahr läuft, von der schiitischen Mahdi-Armee für regierungskritisches Gedankengut zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang schließlich, dass der Kläger zu 1. eines der regierungskritischen Interviews gerade gegenüber dem kommunalen Fernsehsender AG. gab. Gemäß den Kenntnissen der österreichischen Asylbehörden leiten nämlich sowohl die Polizei als auch die Armee, welche den schiitischen Stadtteil al-Hurriya in Bagdad bewachen, nach eigenen Angaben interne Informationen an die Mahdi-Armee weiter (BAA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 14).
Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen wurde der Kläger zu 1. von den Angehörigen der Mahdi-Miliz wegen seiner politischen Meinungsäußerungen zur Sicherheitslage in Bagdad im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Abs. 3 AsylG verfolgt, d.h. mit dem Tode bedroht und aus dem eigenen Heim vertrieben. Anknüpfungspunkt der Verfolgung bildete dabei der Umstand, dass er in einer Angelegenheit, welche die in § 3c AsylG genannten Verfolger sowie deren Politiken und Verfahren betrifft, eine abweichende Meinung vertreten hat (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG).
Ausgehend von den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien zur politischen Verfolgung naher Familienangehöriger liegen darüber hinaus auch bei der Klägerin zu 2. die Voraussetzungen einer Verfolgung wegen der politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, Var. 4 AsylG) vor, da sie mit dem Tode bedroht und vertrieben wurde, um Druck auf den Kläger zu 1. auszuüben. Diesbezüglich hat auch der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, es sei Vorgehensweise der schiitischen Milizen, dass sie, wenn sie einer Person nicht habhaft werden könnten, sich an dessen Angehörige wenden würden. In diesem Falle würden sie z. B. die Angehörigen verhaften und der Betroffene müsse dann entscheiden, ob er sich ihnen stellen wolle. Unter diesem Gesichtspunkt erfolgte die Verfolgung der Klägerin zu 2. zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 5, § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) Var. 1 AsylG) vor, d.h. infolge der Zugehörigkeit zur Kernfamilie des Klägers zu 1.
Die den Klägern drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Bei der Mahdi-Miliz handelt es sich um eine staatliche Organisation im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG. Zum Staat im Sinne dieser Vorschrift rechnen alle seine Organe im weiteren Sinne (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3c AsylG, Rn. 4). Für die Zurechnung zur staatlichen Sphäre ist es dabei ausreichend, dass sich der Staat der betreffenden Personen oder Gruppierung zur Herrschaftsausübung bedient (Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: November 2017, § 3c AsylG, Rn. 2). Eine asylrechtlich relevante Verantwortlichkeit des Staates für Verfolgungsmaßnahmen (privater) Dritter ist ferner nicht nur in dem Fall anzunehmen, in dem diese Verfolgungsmaßnahmen auf Anregung des Staates zurückgehen oder doch dessen Unterstützung oder einvernehmliche Duldung genießen, wie z. B. bei faktischer Einheit von Staat, Staatspartei oder Staatsreligion. Übergriffe sind vielmehr auch dann einem Staat zurechenbar, wenn der an sich schutzwillige Staat zur Verhinderung von Verfolgungsmaßnahmen prinzipiell und auf gewisse Dauer außerstande ist, weil er das Gesetz des Handelns an andere Kräfte verloren hat und seine staatlichen Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen nicht mehr durchzusetzen vermag (Bergmann, a.a.O., Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 22. 04.1986 – 9 C 318/85 -, NVwZ 1986, S. 928 f. [BVerwG 22.04.1986 - BVerwG 9 C 318.85 u.a.], LS 3). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall in Ansehung der Mahdi-Armee erfüllt.
Wie aus den vorgenannten Erkenntnismitteln ersichtlich, bedient sich der irakische Staat der Mahdi-Armee zur Herrschaftsausübung, weil er die unter dem Dachverband der PMF vereinigten Milizen in die offizielle Sicherheitsstruktur des Staates eingegliedert hat. Die irakischen Sicherheitskräfte (Iraqi Security Forces – ISF) bestehen nunmehr offiziell aus den Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, aus jenen, die vom Verteidigungsministerium verwaltet werden, aus den (vorrangig schiitischen) Milizen, die unter der Dachorganisation der Volksmobilisierung zusammen gefasst wurden und dem Counterterrorism Service (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70). Hiermit korrespondierend hat der irakische Staat den PMF den Status einer „unabhängigen militärischen Formation, Teil der irakischen Streitkräfte und angekoppelt an den obersten Befehlshaber der Streitkräfte“ verliehen. Zudem zahlt der irakische Staat den Angehörigen der PMF-Milizen Sold, gewährt Invaliden- und Hinterbliebenenleistungen, liefert ihnen Waffen und Ausrüstungsmaterialien und lässt die Milizen auf staatliche Logistik zurückgreifen.
Darüber hinaus nimmt der irakische Staat das kriminelle Handeln von Mitgliedern der Mahdi-Armee im zivilen Sektor tatenlos zur Kenntnis. Wie in den aufgeführten Erkenntnismitteln dargestellt, ist der irakische Staat in erheblicher Weise geschwächt und hat, ungeachtet der formalen Gewalt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, keine effektive Möglichkeit, Einfluss auf die PMF-Milizen zu nehmen. Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist insbesondere die irakische Polizei nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen seien hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 9; BFA, a.a.O., S. 70). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es insbesondere in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23). Mutmaßliche Rechtsverletzungen schiitischer Milizen vermag die Polizei nicht zu ahnden. Führungskräfte der Polizei sind in Bagdad überdies gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befinden sich überhaupt unter Polizeikontrolle.
Gestützt wird dieser durch die gerichtlichen Erkenntnisquellen vermittelte Befund schließlich durch die glaubhaften Ausführungen des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung, der angab, im weiteren Verlauf des bereits erwähnten Interviews seines Arbeitskollegen zur Sicherheitslage trete der Vorsitzende des Sicherheitsausschusses im Parlament mit der Aussage in Erscheinung, der Ministerpräsident Haida al-Abadi habe ihm persönlich mitgeteilt, keinen Einfluss mehr auf die schiitischen Milizen zu haben.
Ausgehend von ihrer zahlenmäßigen Größe, die realistischen Schätzungen zufolge bis zu 50.000 Mann umfasst, und ihrem Wirkungsgrad im Großraum Bagdad handelt es sich bei der Mahdi-Armee im Übrigen selbst bei einer abweichenden Betrachtungsweise zu § 3c Nr. 1 AsylG jedenfalls um eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht (§ 3c Nr. 2 Var. 2 AsylG).
Die Kläger könnten sich schließlich auch dann nicht auf wirksamen staatlichen Schutz berufen, sofern man die Verfolgung durch die Mahdi-Armee als eine Verfolgung von sonstigen nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG einstufen würde. Der irakische Staat sowie die in § 3c Nr. 2 AsylG genannten Akteue sind nämlich, wie dargestellt, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung durch Angehörige der Mahdi-Armee zu bieten.
Es sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht werden.
Bei der Beurteilung der Frage, ob stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung sprechen, sind insbesondere die Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen und das Ausmaß der drohenden Gefahr zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19; Nds. OVG, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 30). Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A - juris Rn. 38). Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei, begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden und entlastet sie schließlich von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in das Heimatland erneut realisieren.
In Anwendung dieses rechtlichen Maßstabs liegen derzeit keine stichhaltigen Gründe vor, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass die Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak nicht mehr Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein würden, die an ihre politische Auffassung bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpfen. Die Mahdi-Armee hat seit der Ausreise der Kläger ihre Machtposition im Irak weiter ausgebaut. Zudem hat der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft, insbesondere äußerst detailreich und anschaulich, geschildert, seine Hoffnung, dass die Gruppe ihn zwischenzeitlich vergessen habe, sei ca. einen Monat vor der mündlichen Verhandlung durch einen Telefonanruf seines ehemaligen Nachbarn enttäuscht worden. Sein Bruder habe nach ihrer Flucht zunächst eine andere Person in seinem ehemaligen Haus wohnen lassen, welche die Aufgabe gehabt habe, auf das Haus aufzupassen. Im Anschluss seien jedoch Angehörige der Mahdi-Miliz gekommen, hätten diese Person vertrieben und, wie es ihre übliche Vorgehensweise in derartigen Fällen sei, das Haus besetzt. Nun wohne dort ein Mitglied der Miliz, welches den Dienstrang eines Majors habe. Er, der Kläger zu 1.), habe weiterhin Kontakt mit einem seiner ehemaligen Nachbarn, der sich mittlerweile mit dem neuen Bewohner des Hauses angefreundet habe. Wie ihm sein früherer Nachbar beim jüngsten Telefonat mitgeteilt habe, habe dieser Major bei einer privaten Veranstaltung beiläufig erwähnt: „Unser Fehler war, dass wir haben gehen lassen. Wir hätten ihn töten sollen.“
Den Klägern steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr überdies kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dazu heißt es im Urteil vom 26. Oktober 2017 (6 A 9126/17):
„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn Personen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu diesen Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Karbala. Die Sicherheitsüberprüfungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden.
Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.
Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“
Es ist vorliegend weder ersichtlich noch vorgetragen worden, dass im Fall der Kläger besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, ihre Lage könne von der vorgenannten Situation abweichen.
Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.
2.
Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO ebenfalls aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).
Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.