Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.12.2018, Az.: 6 A 6837/16

AAH; Asaib Ahl Al-Haqq; Asa’ib Ahl al-Haqq; Bagdad; geschlechtsspezifische Verfolgung; Irak; Sunniten; westlich orientierte Frau

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
10.12.2018
Aktenzeichen
6 A 6837/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74028
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zur religiösen Verfolgung sunnitischer Araber in Bagdad durch die PMF-Miliz Asa’ib Ahl Al-Haqq (AAH).

2. Irakische Frauen bilden eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, sofern sie infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann.

3. Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) HS 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 -, juris LS 2, Rn. 38). 

4. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen (vgl. für Afghanistan: Nds. OVG, a.a.O., LS 2, Rn. 39).

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.11.2016 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollsteckenden Betrages leisten.

Tatbestand:

Die Kläger, irakische Staatsangehörige arabischer Volks- und islamischer Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Sie reisten eigenen Angaben zufolge am 3. November 2015 aus dem Irak aus und am 25. November 2015 auf dem Landweg über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellten sie in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Asylanträge, die sie in ihrer späteren Anhörung auf die Anträge auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes beschränkten. In ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 29. September 2016 gaben die Kläger zu 1. und 2. an, sie und ihre Kinder hätten den Irak verlassen, da die schiitische Miliz Asa’ib Ahl Al-Haqq den Bruder des Klägers zu 1. getötet und die gesamte Familie mit dem Tode bedroht habe.

Der Kläger zu 1. erklärte in seiner Anhörung zu seinen persönlichen Verhältnissen, er sei sunnitischer Glaubenszugehörigkeit und habe bis zu seiner Ausreise mit seiner Familie in Bagdad im Stadtteil Al-Shalyiya gelebt. Sein Vater sei bereits verstorben; im Irak hielten sich noch seine Mutter und seine fünf Geschwister auf. Zu seinem Werdegang erklärte der Kläger zu 1., er habe die Grundschule sowie die Mittelschule besucht, letztere jedoch ohne Abschluss verlassen. Zunächst habe er als Helfer bei einem Goldschmied gearbeitet. Im Jahr 2000 habe er sich als Goldschmied selbständig gemacht, d.h. er habe einen Laden gemietet und diesen gemeinsam mit seinem verstorbenen Bruder in Wechselschichten betrieben. Zu den Gründen seiner Flucht erklärte der Kläger, alles habe damit begonnen, dass Anfang September 2015 drei Personen im Alter von ca. 29 bis 30 Jahren in seinen Laden gekommen seien. Diese hätten ihm gesagt: „Wir sind Deine Brüder von der Asa’ib Ahl al-Haqq, Du musst uns helfen.“ Er habe ihnen entgegnet, dass dies nicht möglich sei, weil er lediglich einen kleinen Laden betreibe. Die Männer hätten ihm in ruhigem Tonfall geantwortet, er müsse ihnen aber helfen. Tue er dies nicht, sei dies nicht gut. Er solle aufpassen, was er da mache. Dann seien sie gegangen. Eine Woche danach, d.h. am Sonntag, dem 13. September 2015 habe er in seinem Garten am Eingang seiner Garage einen auf den 12. September 2015 datierten Drohbrief gefunden, in dem ihn jemand im Namen der Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq vorgeworfen habe, er habe die Zusammenarbeit mit der Gruppe abgelehnt. Nunmehr müsse er seine Arbeit als Goldschmied beenden und mit seiner Familie sein Haus und die Stadt innerhalb von drei Tagen verlasse. Andernfalls sei das Schicksal aller Familienangehörigen der Tod. Er habe dieses Schreiben jedoch nicht für so wichtig gehalten, weil er schon seit Jahren in dem Viertel gewohnt habe, d.h., er habe das als eine Art Spielchen gesehen, mit dem man ihm Angst machen wolle. Sein Bruder, den er hiervon benachrichtigt habe, habe dies ebenso gesehen. Deshalb hätten sie sich entschieden, weiterhin wie gewöhnlich zur Arbeit zu gehen. Falls auch Ladeninhaber in der Nachbarschaft bedroht worden seien, so der Kläger zu 1. auf Nachfrage des Anhörenden, so wisse er davon jedenfalls nichts, über derartige Vorfälle werde nicht gesprochen. Er denke, es hänge davon ab, ob man Sunnit oder Schiit sei. Sofern man – wie er – als Sunnit in einem schiitischen Viertel lebe oder dort einen Laden besitze, sei die Situation schwieriger als in einem Viertel, in dem überwiegend Sunniten lebten. Am darauffolgenden Sonntag, dem 20. September 2015, sei er gegen 13:00 Uhr zur Arbeit gegangen und habe gesehen, dass sich viele Leute vor seinem Laden versammelt hätten. Nach Betreten des Geschäfts habe er seinen Bruder dort tot aufgefunden. Das gesamte Gold, ca. 2 kg, sei gestohlen worden. Die Polizei sei vor Ort gewesen, und er habe Anzeige erstattet. Nachbarn aus den umliegenden Läden hätten sich als Zeugen gemeldet. Er sei fast verrückt geworden, als er die Leiche seines Bruders gesehen habe; die Tat habe die gesamte Familie psychisch stark beeinträchtigt. Sie hätten seinen Bruder beerdigt und eine Trauerfeier abgehalten. Seine Frau habe ihre Arbeit als Lehrerin aufgegeben. Außerdem hätten sie sich entschieden, das Land zu verlassen. Sie hätten alle große Angst gehabt und hätten deshalb nicht mehr zuhause wohnen wollen. Am 26. oder 27. September 2015 hätten sie das Haus verlassen. Zwischendurch sei er damit beschäftigt gewesen, die Ausreise zu organisieren und seinen Reisepass etc. in Ordnung zu bringen. Aufgehalten hätten sie sich bei seinen Schwiegereltern im Stadtteil Hussainiyat Al-Rashidiya, jedoch nicht sehr lange, lediglich ca. einen Monat. Am 3. November 2015 seien sie dann aus dem Irak ausgereist. Der Kläger zu 1. legte dem Bundesamt im Rahmen der Anhörung einen an ihn adressierten Drohbrief vor, ferner drei Ausweise der Handelskammer, eine Kopie der Sterbeurkunde seines Bruders sowie Kopien mehrerer Ermittlungsberichte des Polizeipräsidiums Bagdad, einer von ihm gestellten Strafanzeige sowie der Zeugenaussagen von Nachbarn. Auf Nachfrage gab der Kläger zu 1. an, er habe nicht bereits bei Erhalt des Drohbriefs Strafanzeige erstattet, weil die Polizei in derartigen Fällen ohnehin nichts bewirken könne. Seit dem Vorfall habe er starke Magenprobleme, u.a. Magenschmerzen, und sei deshalb in ärztlicher Behandlung.

Die Klägerin zu 2. schilderte im Rahmen ihrer Anhörung zu ihren persönlichen Verhältnissen, sie habe in Bagdad im Stadtteil Al-Shalyiya gelebt und dort auch als Arabisch-Lehrerin an einer Grundschule gearbeitet. Seit dem Tag, an dem ihr Schwager umgebracht worden sei, sei sie jedoch nicht mehr zur Arbeit gegangen. Im Irak hielten sich noch ihre Eltern auf; diese würden in Bagdad im Stadtteil Hussainiyat Al-Rashidiya wohnen. Zu den Gründen ihrer Flucht erklärte die Klägerin zu 2., sie hätten den Irak verlassen, da die Familie von Mitgliedern der Asa’ib Ahl Al-Haqq mit dem Tode bedroht worden sei. Wie ihr ihr Ehemann erzählt habe, seien Mitglieder der Gruppe an einem Sonntag zu ihm gekommen und hätten Geld als Hilfe für diese Gruppe verlangt. Ihr Mann habe dies aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt; daraufhin hätten ihn die Männer mündlich bedroht. An einem Sonntag habe ihr Mann einen auf den 12. September 2015 datierten Zettel in der Nähe ihrer Haustür gefunden. Sie habe den Zettel, der einen Koranvers enthalten habe, selbst gesehen. Darin habe man ihren Mann aufgefordert, innerhalb von drei Tagen seinen Laden und sein Haus zu verlassen, andernfalls werde man ihn und seine ganze Familie töten. Sie selbst habe Angst gehabt, besonders große Angst um ihre Kinder, aber ihr Mann habe die Drohung nicht ernst genommen. Am 20. September 2015 sei ihr Mann gegen 13:00 Uhr zur Arbeit gegangen und habe seinen mit mehreren Kopfschüssen getöteten Bruder vorgefunden. Das ganze Gold im Laden, ca. 2 kg, sowie 5 Mio. irakische Dinar seien gestohlen worden. Ihr Mann habe bei der Polizei Anzeige erstattet und den Drohbrief vorgelegt. Sie und ihre Kinder hätten unter dem Tod des Schwagers psychisch stark gelitten, zumal der Drohbrief ja auf die ganze Familie Bezug genommen habe. Auf Nachfrage könne sie sagen, dass sie sich die letzten fünf Tage vor der Ausreise bei ihren Schwiegereltern aufgehalten hätten.

Mit Bescheid vom 8. November 2016 erkannte das Bundesamt den Klägern weder die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) noch den subsidiären Schutzstatus (Nr. 2) zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 3). Zudem drohte es die Abschiebung der Kläger in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte der mit dem Anhörenden nicht personenidentische Entscheider aus, eine Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungsmerkmal sei nicht zu erkennen. Die Kläger hätten ein Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft vorgetragen.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 21. November 2016 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholen und vertiefen sie ihr bisheriges Vorbringen. Ergänzend lassen sie von ihrem Prozessbevollmächtigten vortragen, der Kläger zu 1. sei sunnitischen, die Klägerin zu 2. schiitischen Glaubens. Es müsse davon ausgegangen werden, dass sich Asa’ib Ahl Al-Haqq (AAH) bewusst an den sunnitischen Kläger zu 1. wegen der erzwungenen finanziellen Unterstützung gewandt habe. In seiner Nachbarschaft gebe es zahlreiche von Schiiten geführte Goldgeschäfte, die nicht in dieser Form bedroht worden seien. Aufgrund der gegebenen Vorverfolgung und der allgemeinen Bedrohungslage für arabische Sunniten durch schiitische Milizen hätten sie einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Außerdem knüpfe die Verfolgung an die dem Kläger zu 1. zugeschriebene politische Überzeugung nach § 3b Abs. 2, Abs. 1 Nr. 5 AsylG an. So könnten, und darum gehe es hier, in extrem polarisierten Bürgerkriegssituationen neutrale Positionen oder die fehlende Unterstützung der Regierung respektive einer anderen Organisation, von der Verfolgungshandlungen ausgingen, als politische Position eingeschätzt werden. Der angegriffene Bescheid, der die Glaubhaftigkeit des klägerischen Verfolgungsvorbringens verneine, bestehe nur aus Textbausteinen. Richtigerweise seien die Schilderungen jedoch in sich schlüssig, stünden mit den allgemeinen Erkenntnismitteln zu Übergriffen schiitischer Milizen auf Sunniten im Raum Bagdad im Einklang und seien überdies im Wesentlichen widerspruchsfrei. Hinsichtlich des Aufenthaltsorts in den Wochen vor der Flucht sei es überdies augenscheinlich zu Missverständnissen bei der Befragung bzw. Sprachmittlung gekommen. Zutreffend sei, dass die Kläger in den Wochen vor der Flucht nicht mehr dauerhaft in ihrer Wohnung wohnten, sich dort aber immer wieder wegen der Fluchtvorbereitungen aufhielten. Lediglich in den letzten fünf Tagen vor der Ausreise, nachdem sie bereits alles organisiert hätten, hätten sie sich ununterbrochen im Haus ihrer Eltern aufgehalten.

Überdies bestehe ein separater Verfolgungsgrund in Bezug auf die nach Stellung ihres Asylantrags nunmehr volljährig gewordene Klägerin zu 3. Als Frau, die infolge ihres längeren Aufenthalts in Deutschland in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sei, dass ihr bei einer Rückkehr in den Irak eine Anpassung ihres Lebensstils an die dort erwarteten geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen und Traditionen nicht zumutbar sei, drohe ihr geschlechtsspezifische Verfolgung als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG. Die Klägerin zu 3. lebe seit mittlerweile drei Jahren in Deutschland, besuche das Gymnasium in der zwölften Klasse, spreche fließend Deutsch und möchten nach dem Abitur Pharmazie studieren. Sie trage kein Kopftuch, schminke sich, kleide sich wie die anderen jungen Frauen in ihrem Freundeskreis „westlich“, unternehme viel mit ihren Freunden und Freundinnen und besuche zusammen mit ihrer Familie regelmäßig ein Fitnessstudio. Im Falle einer Rückkehr in den Irak fürchte sie Übergriffe auf ihre Person, sofern sie ihre westliche Prägung offen auslebe, sei es durch Mitglieder von AAH oder anderer fundamentalistischer Milizen, in deren Fokus die gemischt-konfessionelle Familie geraten sei, sei es durch Mitglieder der Gesellschaft.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 7. November 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 08.11.2016 zu verpflichten,

1. den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

1.

Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 8. November 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt die Kläger in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr in den Irak aus individuellen, an ihre Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung der Kläger sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Den Klägern kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihnen (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Die Kläger waren nach Überzeugung des Gerichts vor ihrer Ausreise aus dem Irak aufgrund ihrer Religion bzw. der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe, namentlich der Kernfamilie des Klägers zu 1., von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische Glaubensüberzeugungen sowie Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner, die sich auf eine entsprechende Überzeugung stützen. Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. In diesem Fall geschieht die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe, etwa der Familie des Betroffenen (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rnr. 5; BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 - 1 B 63.17, 1 PKH 23.17 -, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 28). Diese Erwägungen gelten für die religiöse Verfolgung entsprechend. Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle der Kläger die Voraussetzungen einer religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 AsylG vor. Das Gericht ist aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass die schiitische Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH) den Kläger zu 1. aufgrund seiner sunnitischen Glaubenszugehörigkeit als Opfer einer Schutzgelderpressung auswählte und auf seine Zahlungsverweigerung hin die gesamte Familie mit dem Tode bedrohte sowie seinen Bruder tötete.

Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:

„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“

In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die sunnitische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige schiitische Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten irakischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah al-Husseini al-Sistani, der alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Al-Haschd asch-Schaʿbī, Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (Amnesty International (AI), Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35). Offizielle Statistiken betreffend die Anzahl der Milizen innerhalb der PMF existieren nicht. Medienberichte, die sich auf Schätzungen nicht näher spezifizierter Offizieller berufen, sprechen von 40 bis 50 Milizen. Das irakische Budget des Bundeshaushalts für das Jahr 2016 lässt nach Erkenntnissen von Amnesty International den Rückschluss darauf zu, dass sich zum damaligen Zeitpunkt 110.000 Personen in den PMF befanden; ein Sprecher der PMF nannte im Dezember 2016 eine Zahl von 141.000 affiliierten Kämpfern (AI, a.a.O., S. 9). Im Länderbericht Irak für das Jahr 2017 des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl wird eine Zahl von vierzig bis siebzig (fast ausschließlich schiitischen) Milizen genannt, die schätzungsweise zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen haben (BFA, a.a.O., S. 73):

Die PMF-Milizen stellen im Irak einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik wiederspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 15). Hiermit korrespondierend suchen sie im Einklang mit den fortschreitenden militärischen Erfolgen im Kampf gegen den IS nach neuen Gründen, um ihren weiteren Einsatz auch über das Bestehen einer Fatwa hinaus zu rechtfertigen. Dies betrifft etwa den Schutz Bagdads sowie wichtiger schiitischer Stätten, ferner den Einsatz in den zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebieten im Nordirak. Der Umstand, dass sich die irakischen Streitkräfte auf die Sicherung des westlichen und nördlichen Irak konzentrieren, bietet den PMF-Milizen zudem die Möglichkeit, sich in den ölreichen südlichen Provinzen als lokale Warlords zu etablieren, insbesondere an florierenden Wirtschaftsstandorten wie Basra und Amara (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3).

Das Vorgehen schiitischer PMF-Milizen gegen sunnitische Araber beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 84 f.):

„Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017).“

In Bezug auf die Finanzierung der PMF-Milizen und ihr Wirken im zivilen Sektor hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die folgenden Erkenntnisse fest (BFA, a.a.O. S. 79, S. 83 f.):

„Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat.“

„Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. […] Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).

Offiziell ist nach wie vor das sogenannte „Baghdad Operations Command“ (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017).“

Die PMF- Milizen lassen sich in grob in vier inoffizielle Blöcke einteilen, wobei diese Unterteilung an ihre jeweils ähnlichen Ziele anknüpft, nicht hingegen an formelle Allianzen. Die nicht-schiitischen Milizen bilden den vierten Block und umfassen Sunniten, Yeziden, Christen und andere Minderheiten. Die ersten drei Gruppen bestehen demgegenüber aus schiitischen Milizen (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3). Auch diese sind innerhalb der PMF jedoch nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 97). Den ersten und einflussreichsten Block bilden die pro-iranischen, d.h. vom iranischen Regime etablierten Milizen. Innerhalb dieser Gruppe handelt es sich bei der von Haidi al-Amiri geführten Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization) um die größte und am besten ausgestattete Vereinigung, welche ca. 20.000 Kämpfer umfasst. Andere hier zu verortende Milizen sind ‘Asa’ib Ahl al-Haqq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute oder Chazali-Terrornetzwerk), Kata’ib Hezbollah (Hezbollah Brigades bzw. Hezbollah Brigaden), Saraya al-Khorasani und Harakat al-Nujaba. Hierbei handelt es sich um Gruppierungen, die jeweils der Doktrin des Obersten Religionsführers des Iran (Welāyat-e Faghīh) folgen und politische Ambitionen hegen. Der zweite Block setzt sich aus den Hashd al-Sistani zusammen, d.h. denjenigen Milizen, die im Lager des irakischen Großayatollah al-Sistani stehen (Liwa al-Akbar, Furqat Imam al-Qitaliyah, und Furqat al-Abbas al-Qitaliyah) und dem (früheren) Premierminister Abadi gegenüber loyal sind. Ihre Truppen sind zahlenmäßig schwächer als die pro-iranischen Gegenspieler und setzen sich aus ca. 20.000 Kämpfern zusammen. Ihre Anhänger sind überwiegend durch die Fatwa Sistanis motivierte Freiwillige ohne politischen Ambitionen., die jedoch auf die Unterstützung des irakischen Verteidigungsministeriums zurückgreifen können. Der dritte Block umfasst die Milizen, die den von Ammar al-Hakim geführten Islamic Supreme Council of Iraq (ISIC bzw. SIIC, Oberster Islamischer Rat des Irak (OIRI)) unterstützen, ferner die Anhänger des Predigers Muqtada al-Sadr. Hierbei handelt es sich um einflussreiche politische Fraktionen des Schiitentums mit komplex ausgestalteten Beziehungen zum Iran, welche sich zugleich in loser Gefolgschaft zur irakischen Zentralregierung befinden. Die Pro-Hakim-Milizen umfassen dabei die Gruppen Saraya Ansar al-Aqeeda, Liwa al-Muntathar und Saraya Ashura. Bei der wichtigsten dem Prediger Sadr loyalen Miliz handelt es sich um die Gruppe Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone), ehemals bekannt als Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi (JAM)).

Bei der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Gruppierung Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH) handelt es sich um eine schiitische Miliz, die von Qais al-Khazali als Splittergruppe der Mahdi-Armee im Juli 2006 gegründet wurde. Al-Kzahali, ein ehemaliger Kommandeur der von Muqtada al-Sadr befehligten Mahdi-Armee, wurde von der Iranischen Revolutionsgarde (Iran Revolutionary Guard Corps (IRGC)) im Jahr 2006 rekrutiert und damit beauftragt, eine neue Miliz im Irak zu gründen, die als Stellvertreter des Iran die iranische Agenda sowie dessen Interessen im Irak vertreten sollte. Im Gegenzug erhält AAH massive finanzielle und logistische Unterstützung aus dem Iran sowie eine militärische Ausbildung von Mitgliedern der iranischen Revolutionsgarde, u.a. in Trainingscamps im Iran und im Libanon. (Stanford University, Mapping Militant Organizations: Asa'ib Ahl al-Haq, 24. März 2017, S. 1, 4 der Druckversion). AAH propagiert die Ideale der Iranischen Revolution nach den Vorstellungen der Theokratie Ayatollah Khomeinis, insbesondere die Welāyat-e Faghīh, d.h. die Einführung eines politischen Islam, in dem ein Faqīh, ein juristischer Experte im islamischen Recht, die Vormundschaft über die Gemeinschaft der Gläubigen ausübt. Unter der spirituellen und politischen Lenkung des gegenwärtigen Großayatollahs, Ayatollah Khameini, versucht AAH eine schiitische Regierung im Irak zu errichten und das Recht der Sharia im gesamten Irak zu etablieren. Obgleich es sich bei Qais al-Khazali formal um den Anführer von AAH handelt, wird die Gruppierung von Qasem Soleimani beaufsichtigt, dem Kommandeur der iranischen al-Quds-Einheiten bzw. Qods-Brigaden, einer Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden für exterritoriale Operationen. Ihm wird die Letztverantwortung in Bezug auf die Ziele, Angriffe und Gesamtstrategie von AAH zugeschrieben. AAH, deren Mitgliederzahl im Februar 2014 auf 1.000 bis 5.000 bewaffnete Militante geschätzt wurde, operiert schwerpunktmäßig im (Süd-)Irak und besitzt ein Hauptquartier in Bagdad, wo die Gruppe zwei politische Büros unterhält. Zudem befinden sich zahlreiche Büros der Gruppe im Rest des Irak, darunter in Basra, Hillah und Najaf (Stanford University, a.a.O., S. 4 f.). Mittlerweile expandiert die Organisation jedoch in den gesamten Irak und hat ein lokales aber auf nationaler Ebene verbundenes Netzwerk geschaffen, indem sie erfolgreich Beziehungen zu verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen etabliert hat, beispielsweise durch Entsendung politischer Delegationen zu Treffen mit Anführen von Stämmen und Minderheiten in den Provinzen Dhi Qar, Muthanna und Maysan (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten von Asa'ib Ahl al-Haqq [a-10041], 20. Februar 2017, S. 1 der Durckversion).

Nachdem AAH zunächst im Jahr 2006 im Libanonkrieg gemeinsam mit der dortigen Hizbollah gegen Israel gekämpft hatte, verlegte sie sich in den Jahren 2006 bis 2011 auf Angriffe gegen die US-Streitkräfte im Irak und übernahm für über 6.000 Angriffe auf US-Soldaten die Verantwortung. Nach dem Abzug der amerikanischen Truppen im Jahr 2011 verschob die Miliz ihre Aktivitäten vom Guerillakrieg auf das Feld der Politik, ohne jedoch ihr umfangreiches Waffenarsenal preiszugeben. Auf politischer Ebene verlagerte AAH das Image der Gruppierung von einer anti-westlichen Miliz hin zu einer irakisch-nationalistischen Partei mit dem Ziel, einen schiitisch-dominierten Staat zu etablieren, den iranischen Einfluss im Irak zu mehren und soziale Dienstleistungen für die schiitische Bevölkerung bereitzustellen. Ebenfalls im Jahr 2011 errichtete AAH eine politische Zweigstelle im Libanon und trat auf Weisung des Iran hin als Konfliktpartei in den syrischen Bürgerkrieg ein, um das Assad-Regime im Kampf gegen den IS zu unterstützen (Stanford University, a.a.O., S. 2, 5). Obgleich die Gruppierung die US-Streitkräfte während der Besatzungszeit massiv bekämpft hatte, kämpfen Mitglieder von AAH mittlerweile gemeinsam mit US-Streitkräften im Irak gegen den IS. Im Jahr 2015 teilte ein Sprecher der Miliz mit, die Gruppe sei bereit, die Luftschläge sowie die Präsenz von US-Truppen im Irak zu akzeptieren, bleibe jedoch misstrauisch gegenüber den langfristigen Zielen der US-Regierung. Im März 2016 veröffentlichte AAH auf ihrem Fernsehsender Al-Ahd eine Erklärung, sie würde die US-Truppen als feindliche Besatzer ansehen, sofern diese nicht unverzüglich aus dem Irak abzögen (Stanford University, a.a.O., S. 3).

Nachdem AAH in der irakischen Parlamentswahl 2014 lediglich ein Mandat erringen konnte, erzielte die Gruppierung in der Parlamentswahl im Mai 2018 über die Liste der al-Fatih-Koalition 13 von 47 Koalitionssitzen, vorbehaltlich der Ergebnisse einer gegenwärtig erfolgenden manuellen Stimmennachzählung in zahlreichen Wahlbezirken des Irak (Counter Extremism Project, Report: Asaib Ahl al-Haq, Juli 2018, S. 2). Die vom irakischen Vizepräsidenten angeführte al-Wataniya-Koalition beschuldigte AAH Ende Mai 2018 des Wahlbetruges unter Mitwirkung einer „ausländischen Macht“, der gewaltsamen Einschüchterung von Wählern sowie der Bedrohung von Mitgliedern der Independent High Electoral Commission (IHEC) mit dem Ziel, das Wahlergebnis entgegen zahlreicher Beschwerden zu bestätigen (Artikel von Kurdistan24, vom 27. Mai 2018, „Iraqi VP’s Coalition claims ‚foreign country‘ supported Asaib Ahl al-Haq’s electoral fraud).

Nach ihrem Eintritt in die Politik erwarb sich AAH zudem schnell den Ruf, der militante militärische Arm der politischen Fraktion des (ehemaligen) schiitischen Premierministers Nouri al-Maliki zu sein und sektiererische Gewalt auszuüben. So wurde die Gruppe in zahlreichen Berichten beschuldigt, in der Zeit von Ende 2013 bis in das Jahr 2014 im Zentralirak sowie im Süden des Landes Mitglieder sunnitischer Stämme, die zu den politischen Gegnern Malikis zählten, exekutiert oder widerrechtlich verhaftet und in geheimen Gefängnissen eingesperrt zu haben, um Maliki eine schiitische Mehrheit in diesen Provinzen zu sichern. Zudem wird die Gruppe im Zeitraum von März bis Juli 2014 für die Tötung von 109 sunnitischen Männern in Bagdad bzw. den Randbezirken der Stadt verantwortlich gemacht (Stanford University, a.a.O., S. 2, 5 f. m.w.N.). In Bagdad tätige Gerichtsmediziner erklärten gegenüber Human Rights Watch im Juli 2014, seit der Übernahme von Mosul durch den IS am 10. Juni 2014 sei die weit überwiegende Mehrheit der eingelieferten Opfer gewaltsamer Tötungen sunnitischen Glaubens gewesen, obgleich Sunniten in Bagdad die Minderheit darstellten. In allen Fällen seien die Täter nach Auskunft von Zeugen ähnlich angezogen gewesen und hätten ähnliche Einsatz- und Tötungstaktiken (Tötung durch Kopfschuss) verwendet. Für die Taten wurden insbesondere AAH verantwortlich gemacht, zumal viele Opfer aus den von dieser Miliz kontrollierten Stadtteilen stammten (Finnish Immigration Service, Security Situation in Bagdad – The Shia Militias, 29. April 2015, S. 18; Human Rights Watch, Iraq: Pro-Government Militias‘ Trail of Death, 31. Juli 2014, S. 3 ff. der Druckversion). Nach Auskunft örtlicher Kontaktpersonen verbot die irakische Regierung im Jahr 2015 Journalisten, Leichenhallen der Gerichtsmedizin zu besuchen; zudem sei der sunnitische Direktor eines gerichtsmedizinischen Instituts entlassen und durch ein Mitglied von AAH ersetzt worden (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 19). AAH werden darüber hinaus in zahlreichen Berichten weitere massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber Sunniten zur Last gelegt, welche die Gruppierung im Zentralirak und im Süden des Landes in Kooperation mit den regulären Sicherheitskräften der irakischen Armee bzw. unter ihrer Duldung verübt haben soll. Diese reichen über Massenhinrichtungen, gewaltsame Vergeltungsmaßnahmen gegenüber der sunnitischen Zivilbevölkerung nach Anschlägen des IS, willkürliche (Massen-)Verhaftungen und Inhaftierungen von Sunniten und mutmaßlichen IS-Unterstützern in geheimen Haftanstalten nach Rückeroberung der vom IS besetzten Gebiete, Zerstörung sunnitischer Dörfer und Vertreibung der Bevölkerung, Einschüchterung von Wählern, Bedrohung von Journalisten sowie Fälle von Verschwindenlassen, Entführungen, Folter und Tötungen, die vornehmlich auf sunnitische Männer und Jungen abzielen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Asa'ib Ahl al-Haqq, insbesondere Verhalten gegenüber sunnitischen MuslimInnen [a-10480-2 (10481)], Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten von Asa'ib Ahl al-Haqq [a-10041], 20. Februar 2017; Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Aktivitäten der Milizen der Asaib Ahl al-Haqq (AAH) seit 2013 bis heute; Übergriffe auf die Zivilbevölkerung [a-10409], 30. November 2017; ausführlich: Human Rights Watch, Iraq: Pro-Government Militias‘ Trail of Death, 31. Juli 2014, S. 3 ff. der Druckversion). Dabei sind auch Fälle dokumentiert, in denen AAH nach der rechtswidrigen Tötung männlicher Sunniten Bekennerschreiben am Tatort zurückließ (ACCORD, Aktivitäten von Asa'ib Ahl al-Haqq [a-10041], 20. Februar 2017, S. 6 der Druckversion).

Diese Erkenntnisse zur Bedrohung sunnitischer Araber durch AAH finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung der Kläger zu 1. bis 3. in der mündlichen Verhandlung. Das Gericht ist aufgrund ihrer glaubhaften und substantiierten Schilderungen zu der Überzeugung gelangt, dass sie von Angehörigen der Miliz AAH im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Abs. 3 AsylG verfolgt, d.h. wegen der Weigerung, Schutzgeld zu zahlen, unmittelbar mit dem Tode bedroht und aus dem eigenen Heim vertrieben wurden. Anknüpfungspunkt der Verfolgung bildete dabei der Umstand, dass der Kläger zu 1. sunnitischen Glaubens ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG), wobei seine übrigen Familienangehörigen entweder ebenfalls als Sunniten eingestuft oder zumindest deshalb bedroht wurden, um Druck auf den Kläger zu 1. auszuüben bzw. diesen für seine Weigerung, Schutzgeld zu zahlen, zu bestrafen.

Bereits die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts dokumentierte Aussage der Kläger zu 1. und 2. enthielt zahlreiche Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Diesen Eindruck haben die Kläger zu 1. bis 3. in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Sie schilderten das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Wiedergabe von Komplikationen im Handlungsverlauf und zunächst unverstandenen Handlungselementen, unter Beschreibung deliktsspezifischer Merkmale sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung in Bezug auf das verfolgungsrelevante Kerngeschehen als inhaltlich konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Soweit die Kläger zu 1. und 2. in Bezug auf das Nebengeschehen vor der Ausreise in einem Punkt von den beim Bundesamt protokollierten Feststellungen abwichen, konnten sie hierfür plausible Gründe dartun. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift verwiesen.

Der Kläger zu 1. hat insbesondere glaubhaft dargetan, wie ihn Anfang September 2015 drei Mitglieder der Miliz AAH in seinem Goldschmiedeladen aufgesucht und vergeblich die Zahlung von „Unterstützungsgeld“ gefordert hätten. Die drei Männer seien zivil gekleidet gewesen, d.h., sie hätten Hemden bzw. T-Shirts getragen, wobei man hierunter verborgene Waffen habe erkennen können. Als er seinem Bruder von dem Vorfall erzählt habe, habe dieser den Vorfall augenscheinlich nicht so ernst genommen und zeitnah das Gesprächsthema gewechselt. Ca. eine Woche später habe er dann den bereits beim Bundesamt vorgelegten Drohbrief unter der Eingangstür seines Grundstücks gefunden. Er habe den Brief sonntags frühmorgens gefunden, denke jedoch, dass jemand ihn in der Nacht von Samstag auf Sonntag dort hindurchgeschoben habe. Datiert gewesen sei der Zettel jedenfalls auf den 12. September 2015, d.h., den Vortag. Er habe diesen mit ins Haus genommen und dann gemeinsam mit seiner Frau durchgelesen. Seine Frau habe zu ihm geraten: „Wirf den Brief weg, das sind doch Kinder!“ Hiermit habe sie seiner Meinung nach drauf anspielen wollen, dass es sich bei den Mitgliedern von AAH zum Teil um Fünfzehnjährige handele, die Waffen tragen. Falls seine Ehefrau große Angst gehabt habe, so habe sie ihm dies jedenfalls nicht gezeigt. Sein Bruder habe ihm zunächst Vorhaltungen gemacht und ihn gefragt: „Was hast gemacht? Hast du ein Problem gemacht, hast Du Sie provoziert?“ Letztendlich habe sein Bruder jedoch eingeräumt, dass es sich wohl um eine Provokation handele, weil sie schon lange in dem Viertel leben würden und keine Probleme verursacht hätten; ferner, dass sie ohnehin nichts machen könnten. Sieben Tage nach dem Auffinden des Briefes sei er dann gegen Mittag zu seinem Geschäft gegangen und habe gesehen, dass viele Leute vor der Tür des Ladens gestanden hätten. Sein Bruder habe im Geschäft auf dem Boden gelegen und habe viel Blut im Gesicht gehabt. Die Fenster des Ladens seien zerbrochen, Schubladen geöffnet gewesen. Er habe angefangen zu weinen. Seine Nachbarn hätten ihn festgehalten und nicht zugelassen, dass er zu seinem toten Bruder gehe. Dann sei auch schon bald die von Nachbarn informierte Polizei gekommen. Er habe sich im Nachhinein die Schuld am Tod seines Bruders gegeben. Hätte sein Bruder ihm damals nicht selbst gesagt, er solle die Drohung nicht ernst nehmen, hätte er vielleicht anders gehandelt.

Am Folgetag sei er zur Polizei gegangen und habe bei diesem Mal auch direkt den Drohbrief vorgelegt. Er habe große Angst gehabt, weil AAH in Bagdad erhebliche Macht habe und auch mit der Polizei zusammenarbeite. Dennoch habe er den Polizisten alles erzählt. Die Polizei habe allerdings nichts weiter unternommen. Er habe dann seinen Bruder beerdigen lassen und eine Trauerfeier abgehalten. Ca. eine Woche später sei er mit seiner Frau und seinen Kindern zu seiner Schwiegerfamilie, d.h., der Mutter seiner Frau nach Hussainiyat Al-Rashidiya gegangen. Dort hätten sie sich aus Angst versteckt gehalten. Jede Woche sei er ca. einmal in der Dunkelheit der Nacht zur Wohnung zurückgekehrt, um Wertsachen mitzunehmen. Seine Kinder seien nicht mehr in die Schule gegangen. Sein Sohn, der Kläger zu 5, habe keinen Reisepass besessen, und es habe ca. einen Monat gedauert, diesen für ihn zu beantragen. Etwa im Oktober habe sein Sohn dann seinen Reisepass erhalten und er, d.h., der Kläger zu 1., habe die Visa und die Flugtickets organisiert. In der gesamten Zeit hätten sie das Haus seiner Schwiegereltern kaum verlassen. Am 3. November 2015 seien sie in die Türkei geflogen. Seine Kinder hätten nicht gewusst, warum sie ausreisten. Insbesondere hätten sie nicht gewusst, dass sein Bruder getötet worden sei. Es habe insgesamt drei Versuche gebraucht, um aus der Türkei auszureisen. Beim ersten Mal sei ihr Boot gekentert. Seine Tochter, die Klägerin zu 3., habe damals geweint und ihren Eltern vorgeworfen, dass sie sie töten wollten. Sie habe wieder in den Irak zurückkehren wollen. Daraufhin habe seine Frau, d.h., die Klägerin zu 2., ihr mitgeteilt, dass ihr Onkel väterlicherseits nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern ermordet worden sei. Der dritte Ausreiseversuch aus der Türkei sei dann erfolgreich gewesen und schlussendlich seien sie nach Deutschland gelangt.

Hiermit korrespondierend hat die Klägerin zu 2. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, sie habe den Vorfall mit dem Drohbrief zunächst nicht so ernst genommen, weil es sich nur um Worte gehandelt habe und derartiges im Irak oft vorkomme. Insgeheim habe sie allerdings schon etwas Angst gehabt. Am Tag, als ihr Schwager gestorben sei, sei ihr Ehemann nach Hause gekommen und habe ihr erzählt, dass sein Bruder tot sei. In dem Moment habe sie unermessliche Angst um ihre Kinder, ihren Ehemann und auch sich selbst bekommen. Hätte sie gewusst, dass die Drohung derartige Folgen haben würde, hätte sie den vorherigen Vorfall mit dem Besuch und dem Briefen sicherlich viel ernster genommen. Ihren Kindern haben sie gesagt, dass der Onkel an einer natürlichen Todesursache gestorben sei. Erst später in der Türkei hätten sie ihnen die Wahrheit erzählt. Sie hätten die Trauerfeier über mehrere Tage abgehalten und seien im Anschluss zu ihren Eltern gegangen, wo sie sich ca. einen Monat vor der Ausreise aufgehalten hätten. Ihre Mutter habe sie zuerst nur erzählt, dass sie sich nicht mehr im Irak aufhalten könne, weil sie Angst um ihre Kinder und ihren Ehemann habe. Später habe sie ihr dann verraten, dass der Schwager getötet worden sei. Dies habe sie auch ihrem älteren Bruder gesagt. Insgesamt seien sie etwas mehr als einen Monat bei ihren Eltern gewesen. In dieser Zeit sei ihr Ehemann mehrmals, schätzungsweise dreimal, zu Hause gewesen und habe Wertsachen gesammelt, um diese zu verkaufen und die Ausreise zu finanzieren.

Der Glaubhaftigkeit dieser Aussagen steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin zu 2. ausweislich der Feststellungen im Anhörungsprotokoll beim Bundesamt angegeben haben soll, sie hätten sich lediglich fünf Tage vor der Ausreise im Haus ihrer Eltern aufgehalten. Zum einen hat die Klägerin zu 2. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, diese Feststellung im (nicht rückübersetzten) Protokoll müsse definitiv ein Missverständnis sein. Auch auf nochmalige Nachfrage bleibe sie dabei, dass sie ca. einen Monat bei ihren Eltern gewesen seien und lediglich die letzten fünf Tage das Haus nicht mehr verlassen hätten. Zum anderen würde selbst ein Widerspruch bzw. eine bewusst unzutreffende Angabe der Klägerin zu 2. gegenüber dem Bundesamt in Bezug auf das Randgeschehen zurücktreten gegenüber der Vielzahl von Realkennzeichen, die für die Wiedergabe real erlebter vorheriger Verfolgungshandlungen sprechen. Ob sich die Kläger einen Monat oder lediglich fünf Tage vor der Ausreise bei der Mutter der Klägerin zu 2. aufgehalten habe, ist für die tatsächliche Feststellung und rechtliche Bewertung einer (Vor-)Verfolgung irrelevant. Insbesondere würde der Zusammenhang zwischen Vorverfolgung und Ausreise selbst dann nicht unterbrochen, sofern man zuungunsten der Kläger unterstellte, sie hätten sich lediglich in den letzten fünf Tagen vor ihrer Ausreise bei der Mutter der Klägerin zu 2. aufgehalten.

Schließlich hat auch die Klägerin zu 3. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargetan, sie habe bereits im Irak vom Tod ihres Onkels erfahren, nicht aber, dass er eines gewaltsamen Todes gestorben sei. Damals seien Sommerferien gewesen. Ihre Eltern seien ein-, zweimal zur Trauerfeier gegangen; ihr selbst sei dies als Kind verwehrt gewesen. Sie hätten sich ca. einen Monat bei ihrer Großmutter mütterlicherseits aufgehalten. Als Begründung habe ihr Vater ihr damals lediglich angegeben, dass die Sicherheitslage in ihrem damaligen Wohnviertel gerade sehr schlecht sei. Ob ihre Großmutter gewusst habe, weshalb sie umgezogen seien, wisse sie nicht. Sie habe sich mit ihr darüber jedenfalls nicht unterhalten. Ihre Mutter habe sich in dieser Zeit bei ihnen zu Hause aufgehalten; ihr Vater sei ab und zu unterwegs gewesen. Erst als sie bei einem gescheiterten Ausreiseversuch aus der Türkei per Boot äußerst unglücklich gewesen sei und ihre Eltern gefragt habe, warum sie nicht einfach in den Irak zurückgehen könnten, hätten ihre Eltern ihr die wahren Umstände des Todes ihres Onkels berichtet. Sie habe große Angst bekommen, als sie erfahren habe, dass es einen Drohbrief gegeben habe und eigentlich ihr Vater gemeint gewesen sei. Damals sei ihr bewusstgeworden, dass es auch leicht ihren Vater hätten treffen können, sofern dieser zu dem fraglichen Zeitpunkt im Laden gewesen wäre. Dass die Klägerin zu 3. infolge eines Erinnerungsirrtums zunächst den gescheiterten Ausreiseversuch per Boot, bei dem sie vom Schicksal ihres Onkels erfuhr, mit einem anderen fehlgeschlagenen Versuch der Ausreise mit einem Boot verwechselte, erweist sich als unschädlich für die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit.

Der Einzelrichter geht auf Basis der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse des Weiteren davon aus, dass die Verfolgung der klägerischen Familie auch nicht bloßes kriminelles Unrecht darstellte, sondern spezifisch an den sunnitischen Glauben des Klägers zu 1. bzw. – hierauf aufbauend – an die Zugehörigkeit zu seiner Familie anknüpfte. Hierbei berücksichtigt das Gericht den Umstand, dass AAH ausweislich der aufgeführten Erkenntnismittel gezielt gegen sunnitische Familien in Bagdad vorgeht, wobei die sunnitisch (bzw. konfessionell gemischte) Familie des Klägers zur Minderheit in einem schiitischen Wohnviertel gehörte und auch sein Goldschmiedeladen der einzige Laden war, der in einer schiitisch geprägten Geschäftsstraße überfallen wurde. Eine politische Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG) schließt das Gericht demgegenüber aus. Ausgehend vom Vorgehen der Miliz AAH gegen die sunnitische Minderheitsbevölkerung in Bagdad dürfte die Geldforderung der Milizionäre keine ernsthafte Bitte um politische Unterstützung gewesen sein, sondern, wie dargestellt, eine gezielte Benachteiligung eines Angehörigen der sunnitischen Minderheit. Hierin liegt nach Auffassung des Gerichts auch der Unterschied zu der von den Klägern zitierten Entscheidung des VG Göttingen, die eine Unterstützungsforderung von AAH gegenüber einem schiitischen Araber betraf (VG Göttingen, Urteil vom 22.03.2017 – 2 A 390/16 -, n.v., S. 3 ff.).

Die den Klägern widerfahrene Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, weil es sich bei AHH um eine staatliche Organisation handelt (§ 3c Nr. 1 AsylG), denn der irakische Staat bedient sich der PMF-Milizen zur Herrschaftsausübung und nimmt ihr (kriminelles) Handeln tatenlos zur Kenntnis (s. hierzu ausführlich: VG Hannover, Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/16, juris Rn. 52-61; Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16 -, juris LS 1).

In Anbetracht der Schwere der den Klägern drohenden Rechtsgutverletzungen und dem Ausmaß der drohenden Gefahr (vgl. hierzu generell: BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19; Nds. OVG, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 30), sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass die Kläger im Falle ihrer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht werden.

Den Klägern steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr insbesondere kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dazu heißt es im Urteil vom 26. Oktober 2017 (6 A 9126/17):

„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn Personen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu diesen Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Karbala. Die Sicherheitsüberprüfungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden.

Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.

Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“

Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass im Falle der Kläger besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, ihre Lage könne von der vorgenannten Situation abweichen. Insbesondere bietet sich für sie in Anbetracht der weiterhin von AAH ausgehenden Bedrohung keine für die Gesamtfamilie zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Die Klägerin zu 3. wäre zudem aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe irakischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG), im Fall der Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch staatliche Akteure ausgesetzt.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (lit. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (lit. b). Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 – 8a K 1971/16.A –, juris Rn. 33; VG Göttingen, Urteil vom 05.07.2011 – 2 A 215/09 -, juris Rn. 24 ff.; grundlegend zu diesen Grundsätzen in Bezug auf westlich geprägte Frauen afghanischer Herkunft: Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 -, juris LS 1). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet (VG Gelsenkirchen, a.a.O.). Der Einzelrichter schließt sich in diesem Zusammenhang den überzeugenden Ausführungen des VG Gelsenkirchen im vorgenannten Urteil an, auch unter Berücksichtigung der dem Gericht aus anderen Verfahren vorliegenden Erkenntnismittel zur Lage von Frauen im Irak (VG Hannover, Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 6292/16 -, juris Rn. 36 ff.; Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 5751/16 -, juris Rn. 40 ff.; Urteil vom 09.07.2018 – 6 A 5945/16 -, n.v., S. 9 ff.).

Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12. Februar 2018 (Stand: Dezember 2017) vermerkt in Bezug auf die Lage der Frauen im Irak (S. 13 f.), die in der Verfassung festgeschriebene Gleichstellung der Geschlechter und das verfassungsrechtlich verankerte Verbot jeder Art von Diskriminierung (Art. 14 und 20 der irakischen Verfassung) fänden in niederrangigen Rechtsnormen keine Entsprechung und seien in der Praxis durch erhebliche Defizite gekennzeichnet. Die Stellung der Frau habe sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Die geschätzte Erwerbsquote unter Frauen habe im Jahr 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17% gelegen. Die prekäre Sicherheitslage und wachsende fundamentalistische Tendenzen in Teilen der irakischen Gesellschaft hätten negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak würden islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen würden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken.

Auch Human Rights Watch berichtete im Februar 2014, die Rechten der Frauen im Irak hätten sich seit dem Golfkrieg 1991 dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend, hätten frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sähen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden, was ihre fortwährende Viktimisierung im häuslichen Bereich konsolidiere. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit seien junge Frauen. Sie würden verwitwet, versklavt, zur frühen Heirat gezwungen, häuslicher Gewalt ausgesetzt oder sexuell belästigt, sobald sie das Haus verließen. Letzteres sei ein neues Phänomen im Irak (Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq’s criminal justice system, Februar 2014). Middle East Online hebt in einem Artikel aus Dezember 2011 hervor, nach Angaben der irakischen Parlamentsabgeordneten Safia al-Souhail sei in statistischer Hinsicht eine von fünf irakischen Frauen körperlicher oder psychischer Gewalt ausgesetzt, die oft von Familienangehörigen ausgehe (Middle East Online, Hidden victims of Iraq conflict: Women expect little change for better, 21.12.2011).

Nach den Förderungsrichtlinien für die Bewertung der internationalen Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden aus dem Irak des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) vom 31. Mai 2012 ist die Gewalt gegen Frauen und Mädchen seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen seien im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution (UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Iraq, 31.05.2012, S. 34 f.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 – 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 60).

Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BfA) führt des Weiteren zur Lage der Frauen im Irak in seinem aktuellen Länderbericht aus (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017), S. 141):

„Durch den steigenden Einfluss von besonders konservativen Kräften, einschließlich der schiitischen Milizen, von denen viele mit politischen Akteuren verlinkt sind, geht der Trend deutlich in Richtung Einschränkung der persönlichen Freiheit der Bevölkerung. Die Milizen führen Regelungen ein, die sie für den „richtigen“ islamischen Lebensstil halten (AIO 12.6.2017). Der Kleidungsstil, der von Frauen erwartet wird, ist im Irak über die letzten zwei Dekaden konservativer geworden. Dieses Phänomen hat sich nach 2003 dadurch beschleunigt, dass sunnitische und schiitische religiöse Kräfte im Irak auf dem Vormarsch sind. Im IS-Gebiet gibt es einen strengen Dress Code, der strikt durchgesetzt wird. In schiitischen Gebieten, einschließlich Basra und Bagdad versuchen schiitische Milizen ebenfalls strikte Bekleidungsvorschriften durchzusetzen und sind für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich, deren Kleidungsstil als unangebracht angesehen wird. Über das Jahr 2006-2007 ist bekannt, dass Milizen in Basra und Diyala hunderte Frauen töteten, weil sie den Dress Code nicht eingehalten hatten. Es gibt Befürchtungen, dass ein solches Ausmaß erneut droht (Lattimer 23.6.2017).

Zu den von religiösen Milizen ausgehenden Gefahren für westlich orientierte Frauen heißt es im vorgenannten BfA-Bericht (S. 141 f.):

„In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt (wie z.B. jenen der Volksmobilisierung - PMF), kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen (AIO 12.6.2017). In von diesen Milizen kontrollierten Gebieten werden die Rechte von Frauen eingeschränkt. Einige Milizen tun dies systematisch (IISS 15.5.2017). Ob und wie weit dies geht, hängt nicht nur von der jeweiligen Miliz ab, sondern auch von den jeweiligen lokalen Kommandanten. Die Milizen schränken die Rechte von Frauen nicht nur in jenen Gebieten ein, die unter ihrer Kontrolle stehen, sondern auch in den Städten wie z.B. Bagdad und Basra, in denen der Einfluss der Milizen sehr groß ist. Die Milizen operieren diesbezüglich ungestraft, zum Teil auch in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden (Lattimer 23.6.2017).“

Gerade der Miliz AAH wird vorgeworfen, Frauen wegen der Begehung „moralischer Verbrechen“ zu verfolgen. So berichtet das European Asylum Support Office (EASO) von einem (datumsmäßig nicht näher bezeichneten) Vorfall in Bagdad, bei dem Mitglieder von AAH ein angebliches Bordell gestürmt und sämtliche Anwesenden getötet hätten. Überdies seien in Basra Frauen von unbekannten Milizionären getötet worden, wobei man an ihren Leichnamen Bekennerschreiben gefunden habe, denen zufolge die Frauen anstößige Kleidung getragen hätten oder in kompromittierenden Situationen gefunden worden seien (Lattimer, in: EASO, EASO COI Meeting Report: Iraq; Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Brussels, Juli 2017, S. 22).

Nach Auskunft der Iraq Civil Solidarity Initiative (ICSSI) wurden im schiitisch dominierten Basra im Sommer 2016 mehrere Cafés im Stadtzentrum, die Frauen beschäftigten und sich zum Teil nur wenige Meter von der Residenz des Gouverneurs und anderen Sicherheitseinrichtungen entfernt befanden, von religiösen Extremisten in die Luft gesprengt. Als Reaktion hierauf hätten viele in örtlichen Cafés oder der Tourismusindustrie beschäftigte Frauen ihren Arbeitsplatz aufgegeben (ICSSI, House Of The Devil? Religious Extremists Bomb Cafes In Basra Because They Employ Women, 19. Oktober 2016; Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen [a-10544-2 (10545)], S. 2 f.). Im September 2018 wurde Tara Fares, eine ehemalige Schönheitskönigin, die als Model und als Social Media Influencerin arbeitete, einen westlichen Lebensstil pflegte und sich gegen die traditionellen Rollenbilder der irakischen Gesellschaft stellte, in Bagdad auf offener Straße von unbekannten Tätern erschossen. Der irakische Premierminister Haider al-Abadi ordnete eine Untersuchung durch das Innenministerium und die Geheimdienste mit der Begründung an, es bestehe im Hinblick auf vergleichbare Tötungen und Entführungen von Frauen in Bagdad und Basra der Verdacht einer gezielten Kampagne. Nach Auskunft von Nibras al-Maamouri, der Leiterin des „Iraqi Women Journalists Forum“, hat sich die gezielte Verfolgung einflussreicher Frauen im Irak drastisch gesteigert. In diesem Zusammenhang verwies sie auf die Tötung zweier Kosmetikerinnen in Bagdad im Abstand von nur einer Woche im August 2018, die sich in denselben sozialen Kreisen wie Tara Fares bewegt hätten (The Sydney Morning Herald, Artikel vom 30. September 2018, „Iraq's women of influence 'targeted' in murder spree“; siehe auch: Fox News, Artikel vom 4. Oktober 2018, „Ex-Miss Iraq reveals she received death threats after a string of 'Westernized' women were killed“).

ACCORD bezieht sich schließlich in seinem aktuellen Bericht aus April 2018 auf Erkenntnisse des US Department of State (USDOS) in seinem Jahresbericht zur Religionsfreiheit (Beobachtungszeitraum: 2016). Diesem gegenüber hätten Vertreter christlicher Nichtregierungsorganisationen angegeben, einige Muslime würden weiterhin Frauen und Mädchen, egal welcher religiösen Zugehörigkeit, bedrohen, weil diese sich weigerten, einen Hidschab zu tragen, weil sie einen westlichen Kleidungsstil hätten oder weil sie sich nicht an die strengen Auslegungen islamischer Normen, die das öffentliche Verhalten dominieren würden, hielten. Zahlreiche Frauen, auch Christinnen, hätten berichtet, sie würden nach Schikanen einen Hidschab tragen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen [a-10544-2 (10545)], 30. April 2018, S. 3; USDOS – US Department of State: 2016 Report on International Religious Freedom - Iraq, 15. August 2017).

Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) HS 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 -, juris LS 2, Rn. 38). Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf überdies einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen (vgl. für Afghanistan: Nds. OVG, a.a.O., LS 2, Rn. 39). Dieses ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit die Betreffende voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann (vgl. AA, Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12. Februar 2018 (Stand: Dezember 2017), S. 13 f.; ferner: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 – 8a K 1971/16.A –, juris Rn. 70-72). Eine grundsätzliche Verfolgungsgefahr besteht vor allem für alleinstehende oder alleinerziehende Frauen, die nicht auf den Schutz eines Familienverbandes zurückgreifen können (VG Hannover, Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 6292/16 -, juris Rn. 36 ff.; Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 5751/16 -, juris Rn. 40 ff.).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, ist der Einzelrichter zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin zu 3. im Rahmen ihres bisherigen Aufenthalts in Deutschland eine solche nachhaltige Prägung erfahren hat, die auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Er steht ferner zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die westliche Lebensweise in ihrer Persönlichkeit so tief verwurzelt ist, dass sie diese nicht mehr ablegen kann, jedenfalls aber, dass es ihr nicht mehr zumutbar wäre, sich dem im Irak vorherrschenden traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen zu unterwerfen, da sie hierfür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben müsste.

In der mündlichen Verhandlung vermittelte die Klägerin zu 3. das Bild einer jungen, intelligenten und selbstbewussten Frau, die zielstrebig ihre schulische Ausbildung verfolgt und sich in ihrem Kleidungsstil, ihrem Auftreten und im Gesprächsverhalten nicht von Gleichaltrigen unterscheiden lässt, welche ihre gesamte Kindheit in Deutschland verbracht haben. Obgleich sie sich erst seit ca. drei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, konnte sie die gesamte Anhörung in der mündlichen Verhandlung in flüssigem, akzent- und fehlerfreien Deutsch durchführen und war lediglich bei der Übersetzung von zwei Begriffen aus dem Arabischen auf die Unterstützung des Dolmetschers angewiesen. Die Klägerin hat in diesem Rahmen glaubhaft dargelegt, dass sie ursprünglich geplant habe, Chemie zu studieren, sich jetzt aber für einen Studiengang im Bereich Dolmetschen mit den Grundsprachen Arabisch, Deutsch und Englisch bewerben möchte. Diese Ausbildung sei ihr derart wichtig, dass sie bereit sei, einen von ihrer Familie weit entfernten Studienplatz in Süddeutschland anzutreten. Dass die Klägerin zu 3. diesen Plan zielstrebig verfolgt, zeigt sich auch daran, dass sie mit Unterstützung ihrer Gymnasiallehrerin den selbständigen Besuch des dortigen Hochschulinformationstages plante und sich in dessen Vorfeld um eine Übernachtungsmöglichkeit bei der örtlichen Fachschaft bemühte.

Ebenso hat die Klägerin zu 3. glaubhaft und mit besonderem Nachdruck betont, dass sie sich nicht mehr vorstellen könne, als junge Frau im Irak zu leben. Ihre Zukunft sehe sie nunmehr in Deutschland, weil sie die hier bestehenden Möglichkeiten der individuellen, auch beruflichen Entfaltung im Irak niemals haben würde. Die letzten drei Jahre in der Bundesrepublik Deutschland habe sie als Befreiung erlebt, weil sie sich gegenüber den Gleichaltrigen im Irak oft fremd gefühlt habe. Sie sehe sich beispielsweise weder als Sunnitin noch als Schiitin, was selbst für die absolute Mehrheit ihrer Altersgenossen im Irak undenkbar sei. Das Tragen eines Kopftuchs habe sie stets als Belastung empfunden und habe sich oft bei ihren Eltern darüber beklagt, die ihr entgegnet hätten, sie hätten leider keine Möglichkeit, ihre Tochter vor dem entsprechenden sozialen Druck ihres Umfeldes zu schützen. In Deutschland habe sie das Kopftuch sofort abgelegt und unternehme viel mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen (z.B. Ausflüge, Schützenfestbesuche, wechselseitige Besuche etc.). Anders als im Irak könne sie als Frau in Deutschland ohne männliche Begleitung ihr Haus gefahrlos verlassen und Unternehmungen machen. Ebenso nehme sie die vielfältigen Betreuungs- und Unterrichtsangebote ihrer Schule wahr, die im Irak nicht im Ansatz in dieser Form vorhanden wären. Im Moment konzentriere sie sich ganz auf das bevorstehende Abitur, um eine möglichst gute Note zu erzielen, danach wolle sie gerne ihren Führerschein ablegen und auch endlich schwimmen lernen.

Der Einzelrichter ist überdies zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin zu 3. im Falle der Rückkehr in den Irak aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der vorgenannten sozialen Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zumindest einer Verfolgung durch staatliche Akteure ausgesetzt wäre. Dieses gilt zum einen deshalb, weil ihr Wohnviertel in Bagdad, wie der Kläger zu 1. glaubhaft dargelegt hat, ganz überwiegend von Schiiten bewohnt wird, wobei nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln schiitische Milizen in derartigen Gebieten strikte Bekleidungsvorschriften durchsetzen und für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich zeichnen, deren Kleidungsstil sie als unangebracht ansehen (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017), S. 141). Dieses Risiko wird im vorliegenden Fall nochmals dadurch gesteigert, dass das betreffende Wohnviertel nach den glaubhaften Angaben des Klägers zu 1. durch die PMF-Miliz AAH kontrolliert wird, deren Angehörige sich – wie dargestellt – der Theokratie des Iran und den damit einhergehenden Sitten- und Moralvorstellungen bezüglich der Rolle der Frau verpflichtet sehen. In diesem Zusammenhang ist schließlich zu berücksichtigen, dass die Gruppierung nach den obigen Feststellungen bereits die Familienangehörigen des Klägers zu 1. im Fokus hat, im Übrigen, dass es ausgeschlossen erscheint, dass die Klägerin zu 3. ihre nunmehr als innerlich verpflichtend erlebte Einstellung zur Rolle der Frau im Alltag ausleben könnte, ohne dass Angehörige oder Zuträger der vorgenannten Miliz auf sie aufmerksam würden. Die unter 1. getroffenen Feststellungen zum Fehlen inländischer Fluchtalternativen und zum Nichtvorliegen von Ausschlussgründen gelten insoweit entsprechend.

3.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.