Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 03.03.2020, Az.: 7 A 3293/17
Afghanistan; Familien-Flüchtlingsschutz; Flüchtlingseigenschaft
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 03.03.2020
- Aktenzeichen
- 7 A 3293/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 72131
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 26 AsylVfG 1992
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Zuerkennung von Familien-Flüchtlingsschutz aufgrund der Flüchtlingseigenschaft der "Ehefrau" scheidet aus, wenn die Eheschließung nach dem Recht des Herkunftsstaaes (hier: Afgahnistan) unwirksam ist.
2. Die Zuerkennung von Familien-Flüchtlingsschutz aufgrund der Flüchtlingseigenschaft des minderjährigen Sohnes scheidet aus, wenn dieser seinerseits den Flüchtlingsschutz nur von seiner Mutter ableiten konnte (keine Kettenableitung; wie Nds.OVG, Beschluss vom 29.10.2019 - 4 LA 217/19 - juris Rdnr. 6).
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des festgesetzten Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand:
Der Kläger legt keinerlei Identifikationspapiere vor. Er trägt vor, am (richtig:) F. 1993 in G., Destrikt H., Provinz I. /Afghanistan geboren und afghanischer Staatsangehöriger tadschikischen Volkstums sunnitischen Glaubens zu sein. Im Alter von 15 oder 16 Jahren sei er 2009 oder 2010 von einem Mullah im Familienkreis mit der am 17. Dezember 1996 ebendort geborenen J. B. – im Folgenden: Kindesmutter – verheiratet worden (Bl. 94 BA 001). Die Kindesmutter war zu diesem Zeitpunkt 12 oder 13 Jahre alt. Die Ehe hätten ihre Eltern arrangiert. Die Kindesmutter sei jedoch einverstanden gewesen (Bl. 101 BA 001). In der mündlichen Verhandlung hat die Kindesmutter von einer Zwangsverheiratung gesprochen. Man habe sie nicht nach ihrem Einverständnis gefragt. Am (richtig:) 10. Oktober 2011 wurde in I. der gemeinsame Sohn K. B. geboren. Der Kläger verließ mit der Kindesmutter und dem gemeinsamen Sohn am 6. Oktober 2015 Afghanistan und gelangte über Pakistan, den Iran und die Türkei nach Griechenland. Im Dezember 2015 reiste er zusammen mit der Kindesmutter, dem gemeinsamen Sohn und seiner eigenen Mutter, Frau L. auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Ebenso reisten sein Bruder, Herr M. B. mit seiner Ehefrau N. B. ein. Am 1. November 2016 beantragten der Kläger, die Kindesmutter und der gemeinsame Sohn ihre Anerkennung als Asylberechtigte.
Im Rahmen seiner Anhörung vor dem A. – Bundesamt – am 23. Februar 2017 äußerte der Kläger: Sein Vater sei vor sechs Jahren von den Taliban umgebracht worden. Daraufhin sei er aus seinem Dorf in die Stadt I. gezogen. Dort habe er ein Auto gekauft, das er auch in Besitz genommen habe. Jedoch habe er nicht die Fahrzeugpapiere erhalten. Deshalb habe er nur einen Teil des Kaufpreises gezahlt. Nach einem Verkehrsunfall habe die Polizei nach den Fahrzeugpapieren gefragt. Er sei daraufhin täglich zu dem Autoverkäufer gegangen, um die Fahrzeugpapiere zu erhalten. Dann hätten ihn am 20. oder 28. Juli 2015 Brüder und Cousins des Verkäufers aufgesucht und ihm vorgeworfen, den Verkäufer getötet zu haben. Mit dem Kolben einer mitgeführten Kalashnikov hätten sie auf seinen Kopf eingeschlagen. Auch seine Mutter sei geschlagen worden. Erst hinzugerufene Nachbarn hätten die Angreifer vertrieben. Die Mutter sei ins Krankenhaus gekommen. Er habe bei der Polizei Anzeige erstattet. Während eines Besuchs bei seiner Mutter im Krankenhaus seien zwei Brüder des Verkäufers zu der Kindesmutter gekommen und hätten ihr Rache angedroht. Nach einem Zwischenaufenthalt bei einem Freund seien sie dann ausgereist. Die Verwandten des Verkäufers hätten zuvor wiederholt seine verlassene Wohnung aufgesucht. Bei Rückkehr nach Afghanistan würde er umgebracht werden. Die Kindesmutter machte weitere Ausführungen.
Die Asylanträge des Klägers, der Kindesmutter und des gemeinsamen Sohnes lehnte das Bundesamt mit einem Bescheid vom 5. April 2017 ebenso ab (Ziffer 2] der Entscheidungsformel) wie den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1}] der Entscheidungsformel). Außerdem wurde der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 3] der Entscheidungsformel]). Ebenso stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – nicht vorliegen (Ziffer 4] der Entscheidungsformel). Außerdem drohte das Bundesamt dem Kläger, der Kindesmutter und dem gemeinsamen Sohn die Abschiebung nach Afghanistan oder einen anderen Staat an, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, sofern sie nicht innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens ausgereist seien (Ziffer 5] der Entscheidungsformel). Schließlich wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6] der Entscheidungsformel). Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Kläger lediglich von den Verwandten eines Getöteten verfolgt werde. Ihm sei es zuzumuten, sich in einem sicheren Landesteil aufzuhalten. Außerdem könne er die wirtschaftliche Existenz der Familie sichern.
Mit ihrer am 18. April 2017 beim Verwaltungsgericht Hannover zunächst gemeinsam erhobenen Klage verfolgten der Kläger, die Kindesmutter und der gemeinsame Sohn ihr Ziel weiter. Es wurde nunmehr geltend gemacht, dass der gemeinsame Sohn von der Familie des Getöteten bei Rückkehr nach Afghanistan umgebracht werde.
Im April 2018 trennten sich der Kläger und die Kindesmutter. Die Kindesmutter verzog mit dem Sohn in ein Frauenhaus und lebt seither dort. Sie teilt mit, das alleinige Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn zu besitzen. Der Kläger hält das Sorgerecht für ungeklärt und besitzt offensichtlich ein Besuchs- bzw. Umgangsrecht. Die Kindesmutter teilt mit, dass andauernde häusliche Gewalt durch den Kläger der Trennungsgrund sei.
Mit einem Beschluss vom 3. März 2020 hat das Gericht das Verfahren der Kindesmutter und des gemeinsamen Sohnes auf deren Antrag von dem des Klägers abgetrennt. Mit Urteil vom gleichen Tage hat der Einzelrichter die Beklagte verpflichtet, der Kindesmutter und dem gemeinsamen Sohn die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, dem gemeinsamen Sohn jedoch erst zum Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit der Zuerkennung gegenüber der Kindesmutter – 7 A 1787/20 -. Gründe hierfür sind die Feststellung, dass die Kindesmutter zu der verfolgten Gruppe der in Afghanistan zwangsverheirateten Frauen gehört, die sich im Fluchtland von ihrem „Ehemann“ getrennt haben, und von ihr abgeleiteter Familien-Flüchtlingsschutz für den gemeinsamen Sohn.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ausgeführt, dass der Autoverkäufer O. geheißen habe. Diesem habe er den vollen Kaufpreis entrichtet. Er habe bei der Polizei Anzeige erstattet, diese sei jedoch „im Sande verlaufen“. Gegen ihn habe die Polizei nicht ermittelt. Als er aus I. weggegangen sei, habe er sich mit der Kindesmutter und dem gemeinsamen Sohn noch zwei Monate in P. aufgehalten. Aber auch dort hätten ihm die Verwandten des O. aufgelauert. Bei Rückkehr nach Afghanistan werde er von dem Stamm der Q. verfolgt werden. Sein Bruder M. sei nach Afghanistan zurückgekehrt, um die Körperverletzung der Mutter R. zu rächen. Er habe das Vorhaben jedoch nicht realisieren können, weil die gegnerische Gruppe viel zu stark und mächtig sei. Er habe sich deshalb nur ca. drei Tage in Afghanistan aufgehalten und sei dann sofort wieder ausgereist (Bl. 144f. d.A.). Er – der Kläger – könne auch deshalb nicht ausreisen, weil er sich in Deutschland um seine Mutter R. kümmern müsse.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2017, soweit er ihn betrifft, aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise
ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
weiter hilfsweise
ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, Absatz 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Seiner zusammen mit ihm eingereisten Mutter, Frau R. B., geboren 1974/1975, wurde vom Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen fehlender Möglichkeit der Existenzsicherung in Afghanistan zuerkannt –S. -. Sein Bruder, Herr M. B., nahm seinen Asylantrag zurück und reiste am 7. September 2016 über den Flughafen Hamburg nach Afghanistan aus –T. -, wo er sich nach Angaben seiner ebenfalls nach religiösem Ritus angetrauten Ehefrau bei einem Onkel untergekommen sei und sich mit einer anderen Frau verlobt habe. Ihm habe es in Deutschland nicht gefallen (Bl. 91 BA 006). Auch die Mutter des Klägers bestätigte im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt im März 2017, dass ihr älterer Sohn „zurück nach Afghanistan“ sei und sich von seiner Ehefrau getrennt habe (Bl. 46 BA 004). Nach Angaben des Klägers halte sich der Bruder zwischenzeitlich wieder in Griechenland auf. Seiner Schwägerin N. B. und deren Kindern erkannte das Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen fehlender Möglichkeit der Existenzsicherung zu, nachdem sich die Ehefrau von ihrem Ehemann getrennt hatte –T. -.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der vorbezeichneten Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Klage muss der Erfolg versagt bleiben.
Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 5. April 2017 ist hinsichtlich des Klägers im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 des Asylgesetzes – AsylG – maßgeblichen Zeitpunkt am Schluss der mündlichen Verhandlung rechtmäßig. Die Ablehnung des Asylantrages (Ziffer 2] der Entscheidungsformel des Bescheides vom 5. April 2017) ist vom Kläger nicht angefochten und damit bestandskräftig.
I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung von Familien-Flüchtlingsschutz nach der Stammberechtigten J. B..
Das Gericht hat zwar die Beklagte mit noch nicht rechtkräftigem Urteil vom gleichen Tage verpflichtet, der J. B. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Kläger hat jedoch selbst bei Unanfechtbarkeit dieses Urteils keinen Anspruch nach § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG auf Zuerkennung von Familien-Flüchtlingsschutz, weil er bereits nicht Ehegatte der J. B. ist. § 26 Abs. 1 Satz 2 AsylG stellt klar, dass sich die Frage, ob Familien-Flüchtlingsschutz zu gewähren ist, allein danach richtet, ob nach dem Recht des Herkunftslandes (hier: Afghanistan) eine wirksame Ehe geschlossen ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Verheiratung der J. B. im Jahre 2009 im Alter von 12 oder 13 Jahren oder auch den einmal im Verwaltungsverfahren bezeichneten 14 Jahren mit dem nur drei Jahre älteren Kläger war bereits nach afghanischem Familienrecht rechtswidrig und unwirksam. Das nahezu unverändert seit 1977 für sunnitische Religionszugehörige geltende afghanische Zivilgesetzbuch setzt das Ehefähigkeitsalter für Männer auf die Vollendung des 18. und für Frauen grundsätzlich auf die Vollendung des 16. Lebensjahres fest (Art. 70 afghZGB). Allerdings kann ein Mädchen, welches das 15. Lebensjahr vollendet hat, bereits durch seinen Vater – und wenn dieser nicht Inhaber der väterlichen Gewalt ist – durch den Richter verheiratet werden (Art. 71 und 78 afghZGB; vgl. Bergmann/Ferid, Internationales Ehe und Kindschaftsrecht, Stand 229. EL 2018, Afghanistan, S. 16; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, 29.6.2018, S. 293). Die nach eigenen Angaben am 17. Dezember 1996 geborene J. B. hatte im Zeitpunkt der Eheschließung erst das 12. oder 13. Lebensjahr vollendet, sodass es ihr an der Ehefähigkeit fehlte. Die Angabe ihres Geburtsjahres 1996 wurde während ihres Aufenthalts in Deutschland von ihr nicht verändert. Die unter Beteiligung einer unter 15- bis 16-Jährigen geschlossene Ehe ist deshalb bereits nach dem Recht des Herkunftsstaates unwirksam und daher nicht geeignet, einen Anspruch auf Familien-Flüchtlingsschutz zugunsten des “Ehemannes“ zu begründen.
Zudem widersprächen vorliegend Sinn und Zweck einer Einbeziehung des Klägers in den von vom Gericht der J. B. zuerkannten Flüchtlingsschutz, weil dieser gerade wegen der Feststellung gewährt wurde, dass die J. B. zu der verfolgten Gruppe der in Afghanistan zwangsverheirateten Frauen gehört, die sich im Fluchtland von ihrem Ehemann getrennt haben. Dementsprechend besteht im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung am Schluss der mündlichen Verhandlung auch keine eheliche Lebensgemeinschaft mit der Stammberechtigten.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung von Familien-Flüchtlingsschutz nach seinem minderjährigen Sohn K. B..
Das Gericht hat zwar die Beklagte mit noch nicht rechtkräftigem Urteil vom gleichen Tage verpflichtet, auch dem 8-jährigen K. B. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Kläger hat jedoch selbst bei Unanfechtbarkeit dieses Urteils keinen Anspruch nach § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 AsylG auf Zuerkennung von Familien-Flüchtlingsschutz nach seinem stammberechtigten Sohn, weil dieser selbst nur von seiner Mutter gemäß § 26 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 2 AsylG abgeleiteten Flüchtlingsschutz zuerkannt erhalten hat. Die entsprechende Anwendung des § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG schließt eine Ableitungskette auf den Kindesvater aus. Dem Wortlaut des § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG nach gilt der Ausschlussgrund zwar nur für die Kinder eines Ausländers, der selbst nach § 26 Abs. 2 oder Abs. 3 (ggf. i.V.m. Abs. 5) AsylG als Flüchtling anerkannt worden ist. Das Kind eines Stammberechtigten, der selbst nicht aufgrund einer überprüften eigenen Verfolgung, sondern nur aufgrund der Zuerkennung eines wiederum abgeleiteten Anspruchs auf Familienflüchtlingsschutz die eigene Berechtigung zuerkannt bekommen hat, soll seinerseits nicht abgeleitet von der schon abgeleiteten Zuerkennung des Asylstatus ein eigener Asylstatus zuerkannt werden können (sog. Ableitungskette). Der Wortlaut dieses Ausschlussgrundes erfasst zwar nicht die Rechtsposition des Klägers, der einen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz nicht als Kind, sondern als Elternteil eines stammberechtigten Kindes auf § 26 Abs. 3 AsylG stützen möchte. Das Gericht wendet den Ausschlussgrund des § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG jedoch über den Wortlaut hinaus entsprechend dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck, der Vermeidung von Ableitungsketten (vgl. BT-Drs. 17/13063 S. 21) auch auf die Ableitung von Familienflüchtlingsschutz für Eltern von stammberechtigten Kindern im Sinne des § 26 Abs. 3 AsylG an (so auch: Nds. OVG, Beschluss vom 29.10.2019 – 4 LA 217/19 – juris Rdnr. 6 AuAS 2020, S. 8 = InfAuslR 2020, S. 41; BayVGH, Urteil vom 26.4.2018 - 20 B 18.30332 - juris, Rdnrn. 27ff; OVG Saarland, Urteil vom 21.3.2019 - 2 A 7/18 - S. 8; VG Düsseldorf, Urteil vom 13.3.2019 - 17 K 7515/18.A - juris Rdnrn. 128ff; Hailbronner, AuslR, Stand. Januar 2019 § 26 AsylG Rdnrn. 38ff; VG Aachen, Urteil vom 1.10.2019 – 4 K 597/19.A – juris; ebenso bereits zur früheren Rechtslage: BVerwG, Urteil vom 16.8.1993 – 9 C 7.93 – u.a. NVwZ 1994, S. 504; a.A. VG Dresden, Urteil vom 26.7.2019 - 11 K 3416/17.A - juris, Rdnrn. 29ff unter Hinweis auf den Wortlaut). Ausweislich der Gesetzesmaterialien zu § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG soll dieser Ableitungsketten ausschließen. Dieser Gesetzeszweck gilt gleichermaßen für die Gewährung des hier in Rede stehenden Familienflüchtlingsschutzes an Eltern minderjähriger stammberechtigter Kinder. Es spricht viel dafür, dass der Gesetzgeber, der durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU – QRL - erstmals in § 26 Abs. 3 AsylG die Möglichkeit eröffnet hat, auch den Eltern oder minderjährigen ledigen Geschwistern eines anerkannten Flüchtlings einen abgeleiteten Schutzstatus zu gewähren, die Anpassung des unverändert übernommenen Ausschlussgrundes des § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG an diese Erweiterung übersehen hat. Dafür spricht auch der weitere Wortlaut der Vorschrift, die in § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG jeweils an den Staat anknüpft, in dem der Flüchtling oder Asylberechtigte bzw. i.V.m. § 26 Abs. 5 AsylG der international Schutzberechtigte politisch verfolgt wird. Politisch verfolgt ist aber nur der Stammberechtigte, nicht (immer auch) der seinerseits nur nach § 26 AsylG Berechtigte (VG Aachen, aaO).
Dessen ungeachtet hat der Kläger nicht nachgewiesen, gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG die Personensorge für seinen Sohn innezuhaben. Er selbst hat in der mündlichen Verhandlung das Sorgerecht als ungeklärt bezeichnet. Offensichtlich steht ihm lediglich ein Besuchs- oder Umgangsrecht zur Seite.
3. Der Kläger hat auch keinen eigenen originären Anspruch auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz.
a. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Ausschlussvoraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zum einen Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG sind zum anderen solche Handlungen erfasst, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen Weise betroffen ist. Verfolgt ist dabei nur, wer persönlich Ziel der Verfolgungsmaßnahme war bzw. im Falle seiner Rückkehr sein wird. Die fragliche Maßnahme muss dem Betroffenen gezielt Rechtsverletzungen zufügen. Daran fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen (BVerfG, Beschluss vom 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 - juris Rdnr. 43; Thiedemann, Flüchtlingsrecht, Berlin 2015, Kap. 3 Rdnr. 52).
Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreicht, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Unerheblich ist dabei, ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - juris Rdnr. 5). Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52/07 - juris Rdnr. 22; Nds.OVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - juris Rdnr. 31; VG Hannover, Urteil vom 25.9.2018 - 15 A 532/17 - juris Rdnr. 18). Ebenfalls ausreichend ist, dass eine Verfolgungshandlung auf dem Verdacht einer bestimmten Gesinnung beruht oder sie erst der Ermittlung einer oppositionellen Gesinnung dient (vgl. Hess.VGH, Urteil vom 6.6.2017 - 3 A 3040/16.A - juris Rdnr. 71; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - juris Rdnr. 6; VG Köln, Urteil vom 9.8.2017 - 26 K 6740/16.A - juris Rdnr. 19).
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt - auch bei einer erlittenen Vorverfolgung - der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzustellen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.4.2018 - 1 C 29/17 - juris Rdnr. 14; Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rdnr. 32). Zu bewerten ist letztlich, ob aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint; insoweit geht es um die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 19.4.2018 - 1 C 29/17 - juris Rdnr. 14; Urteil vom 6.3.1990 - 9 C 14/89 - juris Rdnr. 13; Nds.OVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - juris Rdnr. 32). Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist zwischen der Frage, ob dem Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG droht, und der Frage einer ebenfalls beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu unterscheiden (Nds.OVG, Urteil vom 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - juris Rdnr. 33).
Soweit eine Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 QRL festzustellen ist, kommt dem Ausländer die Beweiserleichterung aus dieser Vorschrift zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24/08 - juris Rdnr. 18).
Das Eingreifen der Beweiserleichterung setzt voraus, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem früher erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden und dem befürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung - bei gleichbleibender Ausgangssituation - aus tatsächlichen Gründen naheliegt. Es ist deshalb im Einzelfall zu prüfen und festzustellen, auf welche tatsächlichen Schadensumstände sich die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie erstreckt (BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - 10 C 4/09 - juris Rdnr. 31).
Ist der Schutzsuchende nicht „vorverfolgt“ ausgereist, muss er glaubhaft machen, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.
Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), sowie nichtstaatliche Akteure (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten - unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Nichtstaatlicher Akteure kann jede Person und jede Organisation sein, die in der Lage ist, hinreichend Macht auszuüben (vgl. Kluth, in: BeckOK Ausländerrecht, 19. Edition, Stand: 1.8.2018, § 3c AsylG Rdnr. 6; Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3c AsylG Rdnr. 7).
Eine interne Schutzmöglichkeit ist nach § 3e Abs. 1 AsylG gegeben, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat, er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Zudem dürfen dem Ausländer in dem betreffenden Gebiet auch keine anderen Nachteile und Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.11.1989 - 2 BvR 403/84 - juris Rdnr. 22; VG Lüneburg, Urteil vom 20.2.2018 - 3 A 17/17 - juris Rdnr. 26). Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände gemäß Art. 4 QRL zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (§ 3e Abs. 2 AsylG). Schutz vor Verfolgung kann nach § 3d Abs. 1 AsylG nur geboten werden vom Staat (Nr. 1) oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten (Nr. 2). Nach § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG muss der Schutz vor Verfolgung wirksam und von nicht nur vorübergehender Art sein.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit - des behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem die Furcht vor politischer Verfolgung hergeleitet wird. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Tatsachenvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann. Wenn wegen Fehlens anderer Beweismittel nicht anderes möglich, muss die richterliche Überzeugungsbildung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Asylsuchenden glaubt (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239/89 - juris Rdnr. 3). An der Glaubhaftmachung fehlt es regelmäßig, wenn der Schutz vor Verfolgung Suchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn die Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen oder er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (Nds.OVG, Urteil vom 7.7.2008 - 9 LB 52/06 - juris Rdnr. 47 mwN).
b. Gemessen an diesen Kriterien stellt die vom Kläger geltend gemachte Bedrohung durch Mitglieder der Familie des Autoverkäufers O. keinen Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG dar. Dass er acht Jahre nach dem Tod seines Vaters durch die Taliban verfolgt werde, hat der Kläger selbst nicht dargetan. Aber auch die Auseinandersetzung mit der Familie des Autoverkäufers O. ist bereits in ihrer mitgeteilten Intensität nicht überzeugend. Dem Kläger wird von der Gegenseite wahrheitswidrig vorgeworfen, den O. getötet zu haben. Der Kläger ist nach eigenen Angaben nach einem Angriff der Familie des Getöteten auf ihn bei der Polizei vorstellig geworden. Ausdrücklich hat er in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass die afghanische Polizei nicht gegen ihn wegen eines Tötungsdeliktes ermittelt. Allerdings sei auch seine wegen des Angriffs gestellte Strafanzeige gegen die Familienmitglieder des O. „im Sande verlaufen“. Mit der Erfolglosigkeit der eigenen Strafanzeige wird jedoch nicht an ein in § 3b AsylG geschütztes Verfolgungsmerkmal angeknüpft. Hinzu kommt, dass der Einzelrichter die Bedrohungslage für den Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan wegen der Auseinandersetzung mit der Familie des O. als nicht besonders hoch einschätzt, weil der Bruder des Klägers M., der zusammen mit diesem in das Bundesgebiet eingereist war, freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt ist und ersichtlich eine Bedrohungslage für sich ausschließt. Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung, M. sei nach Afghanistan nur für drei Tage zurückgekehrt, um die bei dem Überfall auf ihn – den Kläger – ebenfalls verletzte Mutter R. zu rächen, ist nicht glaubhaft. Die Ehefrau N. des Bruders hat gegenüber dem Bundesamt erklärt, dass ihr Ehemann nach Afghanistan zurückgekehrt sei, weil es ihm in Deutschland nicht gefallen habe. Er sei bei einem Onkel in Afghanistan untergekommen und habe sich dort mit einer anderen Frau verlobt. Für die Richtigkeit dieser Angabe spricht, dass auch die Mutter R. im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt – sieben Monate nach der Ausreise ihres Sohnes M. – ausgeführt hat, dass dieser nach Afghanistan zurückgekehrt sei. Die zudem mit einem Rachemotiv versehene Darstellung des Klägers zu den Motiven und der Dauer der Rückkehr seines Bruders nach Afghanistan ist deshalb nicht glaubhaft.
c. Selbst unterstellt, die Bedrohungslage durch Mitglieder der Familie des Autoverkäufers O. wäre noch aktuell und würde auch einen Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG darstellen, besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch deshalb nicht, da für den Kläger jedenfalls in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif eine zumutbare interne Schutzmöglichkeit im Sinne von § 3e AsylG besteht. Schließlich ist es auch seinem mit ihm zusammen eingereisten Bruder M. gelungen, sich erneut in Afghanistan niederzulassen, ohne ersichtlich von den Familienmitgliedern des O. bedroht zu werden. Der Kläger selbst ist 27 Jahre alt, gesund und würde ohne Familienanhang nach Afghanistan zurückkehren.
Nach § 3e AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwarten werden kann, dass er sich dort niederlässt. Es ist somit vor der Gewährung internationalen Schutzes zu prüfen, ob dem Ausländer im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag eine effektive Schutzmöglichkeit in einem Landesteil seines Herkunftslandes zur Verfügung steht.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Es kann von dem Kläger vernünftiger Weise erwartet werden, sich in Kabul niederzulassen.
Für die Beantwortung der Frage, ob von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in einem anderen Landesteil des Abschiebezielstaats niederlässt, ist ein anderer Maßstab anzulegen als bei der im Rahmen des Abschiebungsverbots aufgrund nationalen Schutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 5 AufenthG zu prüfenden innerstaatlichen Fluchtalternative. Der Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer dort beachtlichen existenziellen Notlage hinaus, wobei das Bundesverwaltungsgericht bislang offengelassen hat, welche darüberhinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards erfüllt sein müssen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris, Rdnr. 20; Urteil vom 29.5.2008 - 10 C 11/07 -, juris Rdnr. 35 jeweils zu § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG a.F.; Nds. OVG, Urteil vom 19.9.2016 - 9 LB 100/15 - juris, Rdnr. 75; OVG NRW, Beschluss vom 6.6.2016 - 13 A 1882/15.A - juris, Rdnr. 14).
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hält in seinen Richtlinien eine innerstaatliche Fluchtalternative für Afghanistan nur für zumutbar, wenn die betreffende Person dort Zugang zu Unterkunft, zu grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung sowie zu Lebensgrundlagen hat oder über erwiesene und nachhaltige Unterstützung verfügt, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Darüber hinaus müsse die Person in dem voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft haben, die willens und in der Lage sind, die Person tatsächlich zu unterstützen. Als Ausnahme von dem Erfordernis einer externen Unterstützung sieht der Hohe Flüchtlingskommissar alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne besonderen Schutzbedarf an. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen (UNHCR-Richtlinien, 30.8.2018, S. 124f.).
Gemessen daran ist Kabul als innerstaatliche Schutzalternative für den Kläger zumutbar.
Zwar ist die Sicherheitslage in der Islamischen Republik Afghanistan für Zivilpersonen auch in Kabul besorgniserregend. Das Gericht vermag jedoch nicht die Überzeugung gewinnen, dass trotz der Anschläge in Afghanistan und in Kabul eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür bestünde, eine Zivilperson werde infolge des bloßen Umstandes der Anwesenheit einer realen Gefahr einer Fehlbehandlung ausgesetzt. Die vom VGH Mannheim in seinem Urteil vom 12.10.2018 (- A 11 S 316/17 - juris Rdnr. 302ff.) umfassend dargestellte allgemeine Situation der Gewalt bzw. Sicherheitslage in Afghanistan hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 29.1,2019 (- 9 LB 93/18 - juris Rdnr. 61ff.) bestätigt und um weitere Erkenntnismittel ergänzt. Zutreffend wurde festgestellt, dass das Ausmaß der wahllosen Gewalt noch nicht ein so hohes Niveau erreicht hat, dass ein Zivilist allein aufgrund seiner Anwesenheit einem „real risk“ schweren Schadens ausgesetzt ist. Folgendes ist zu ergänzen:
Hinsichtlich der zivilen Opfer hat sich die Lage in Afghanistan seit dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts nicht verändert. Nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinigten Nationen in Afghanistan wurden von Januar bis September 2019 dort 2.563 Zivilisten getötet und 5.676 verletzt. Im Vergleich zum Jahr davor sind dabei mehr verletzte und weniger getötete Zivilpersonen zu verzeichnen (UNAMA, Quaterly report on the protection of civilians in armed conflict: 1 January to 30 September vom 17.10.2019, S. 1).
Der Einzelrichter hat keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, in Kabul seinen Lebensunterhalt insoweit zu verdienen, und dass von ihm erwartet werden kann, sich dort aufzuhalten.
(1) Zwar sind die humanitären Bedingungen in Afghanistan und Kabul schlecht, der Personengruppe der alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Männern ist es nach Ansicht des Einzelrichters aber möglich ihr Existenzminimum zu sichern.
Der Einzelrichter macht sich für das vorliegende Verfahren die Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Urteil vom 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -, aaO) vollumfänglich zu eigen, soweit der Senat davon ausgeht, dass sich alleinstehende junge gesunde Männer auch ohne Netzwerk in Afghanistan, insbesondere in Kabul, in einem noch ausreichenden Maße versorgen können. Auch unter Berücksichtigung neuerer Erkenntnismittel lässt sich nicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass die Not- und Gefahrenlage für Zivilpersonen nunmehr ein Ausmaß erreicht hat, aufgrund dessen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots unabhängig vom Einzelfall stets erfüllt sind.
So hat auch EASO in dem Bericht vom Juni 2019 unter Verweis auf weitere, detaillierte und differenzierte Erkenntnisse festgestellt, dass Kabul für alleinstehende, erwachsene und arbeitsfähige Männer zumutbare Fluchtalternativen darstellen. Dies selbst dann, wenn die Männer kein Unterstützernetzwerk haben (vgl. EASO, Country Guidance: Afghanistan, June 2019 S. 36).
Es ist zudem auch nicht ersichtlich, dass aus dem Westen zurückkehrende junge Männer generell wegen einer etwaigen Stigmatisierung ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern könnten. Dahingehend hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht am 12. Dezember 2019 wie folgt entschieden:
„[Es] hängt es von den Einzelumständen ab, ob ein Rückkehrer Übergriffen und Diskriminierungen ausgesetzt und deshalb auf den Schutz des afghanischen Staates angewiesen sein wird. Der Kläger verweist zwar auf Einzelfälle von Stigmatisierungen, von denen die Gutachterin Frau Stahlmann gegenüber dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg berichtet hat (vgl. VGH BW, Beweisbeschluss vom 12.9.2018 – A 11 S 316/17 –). Diese Einzelfälle lassen aber schon angesichts ihrer geringen Zahl nicht den Schluss zu, dass derart schwerwiegende Folgen jeden Rückkehrer oder auch nur eine weit überwiegende Zahl an Rückkehrern treffen werden […]. Soweit der Kläger außerdem auf einen aktuellen Beitrag von Frau Stahlmann betreffend die Schwierigkeiten von Rückkehrern bei der Wiedereingliederung verweist (Beitrag aus dem Asylmagazin 8-9/2019, S. 276 ff. ‚Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen‘), [geht die] Gewalt, über die 90 % der Rückkehrer berichteten, […] im Wesentlichen von Taliban, teilweise auch von der eigenen Familie oder von verfeindeten Familien aus. […] Weitere dargestellte Gewaltursachen seien der Kontakt mit westlichen Journalisten, ‚Verwestlichung‘ oder das Wiederkennen in Fernsehberichten. Diese Ursachen ließen sich bei sorgsamer Vorbereitung umgehen, nicht zuletzt durch eine freiwillige Rückreise mit Vorbereitung auf die Rückkehr in die afghanische Kultur. […] Die Studie von Frau Stahlmann beruht nach ihren eigenen Angaben auf dokumentierten Informationen zu 55 Betroffenen von insgesamt 547 zwischen Dezember 2016 und April 2019 aus Deutschland abgeschobenen Männern (S. 277). Bei den weiteren Auswertungen u. a. zu Gewalterfahrungen wurden jedoch (nur) die Erfahrungen der 31 Männer berücksichtigt, die mindestens zwei Monate im Land waren; dabei lagen lediglich bezogen auf 17 Betroffene Berichte über Gewalterfahrungen vor, die durch den Aufenthalt in Europa oder den Status als Abgeschobene begründet worden seien (S. 278). Angesichts der geringen Anzahl dieser dokumentierten Berichte und möglichen Interessen, die zu unwahren Schilderungen über Gewalterfahrungen führen können, räumt Frau Stahlmann in ihren Ausführungen selbst Raum für eine kritische Diskussion der Repräsentativität ein (S. 280). Der Senat sieht auf dieser Grundlage keine Veranlassung zu einer Neubewertung der Situation für Rückkehrer, zumal die geschilderten Einzelschicksale ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Rückkehrer aus Europa und der Türkei zu setzen wären, nicht lediglich ins Verhältnis zu den aus Deutschland abgeschobenen Afghanen (vgl. zu dieser Relation auch Hess.VGH, Urteile vom 27.9.2019 – 7 A 1637/14.A – juris Rdnr. 132 und – 7 A 1923/14.A – juris Rdnr. 136)“ (Nds. OVG, Beschluss vom 12.12.2019 - 9 LA 452/19 - juris, Rdnrn. 14ff.).
Diesen Ausführungen schließt sich der erkennende Einzelrichter an, so dass eine generelle Gefährdung für alle Rückkehrer abzulehnen ist.
(2) Den vorliegenden Erkenntnissen ist auch nicht zu entnehmen, dass jeder Rückkehrer von Obdachlosigkeit bedroht wäre.
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht führt dazu aus:
„Zwar lebt etwa 44 % der Bevölkerung in überfüllten Behausungen mit mehr als drei Personen pro Raum. Rund 83 % der afghanischen Bevölkerung sind in Unterkünften untergebracht, die aus kurzlebigem Material bestehen. 72 % der städtischen Bewohner leben in Slums oder nicht adäquaten Unterkünften. Die Versorgung mit Wasser und Sanitärinstallationen in Afghanistan ist weltweit eine der schlechtesten. Die interne Vertreibung, Rückkehrströme aus Pakistan und dem Iran sowie die Arbeitsmigration verschärfen die ohnehin schwierige Lage zusätzlich. 2017 war zudem eine der schlechtesten Getreideernten der letzten fünf Jahre (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 12. September 2018, S. 15, 16 m. w. N.). Die ausbleibenden Niederschläge haben im Jahr 2018 erneut zu einer Dürre geführt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 12. September 2018, S. 17; UN, General Assembly, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, 10.9.2018, S. 13, 14).
Es ist aber nicht erkennbar, dass alleinstehende junge Männer regelmäßig in den sog. informellen Siedlungen Kabuls unterkommen würden, in denen die Menschen nach jüngeren Erhebungen in großer Zahl von gravierender Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind (vgl. zur Situation in den informellen Siedlungen: EASO, COI Report, Afghanistan, Security Situation – Update, May 2018, S. 33; UNHCR-Richtlinien, 30. August 2018, S. 128). Denn diese Unterkünfte sind größeren Haushalten vorbehalten. In den informellen Siedlungen Kabuls ist eine durchschnittliche Haushaltsgröße von acht Personen anzutreffen, die Unterkünfte werden mit durchschnittlich 5,2 Personen pro Raum belegt (REACH, Informal Settlement Food Security Assessment Afghanistan, Januar 2017, S. 2 und 16). Außerdem würden alleinstehende männliche Rückkehrer die Privatsphäre der Frauen in solchen Haushalten stark einschränken und als eine Gefahr für die Sicherheit der Familien angesehen (vgl. Stahlmann, VGH BW, A 11 S 316/17, Protokoll vom 12.10.2018, Anlage 2, S. 7, 8).
Junge alleinstehende Rückkehrer haben die Möglichkeit, zunächst im Spinzhar-Hotel in Kabul zu wohnen (vgl. IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2018, S. 6; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 29.6.2018, aktualisiert 22.1.2019, S. 355; Stahlmann, VGH BW, A 11 S 316/17, Protokoll vom 12.10.2018, Anlage 2, S. 5) und sich von dort um Arbeit und Unterkunft – beides ggf. auf niedrigem Niveau – zu bemühen. Zwar sind die Lebenshaltungskosten vor allem in Kabul hoch und ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und überlaufen (vgl. asylos, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, Aug. 2017, S. 61 ff.). Es erscheint aber zumutbar, dass ein alleinstehender junger Rückkehrer in einem sog. „chai khana“ (auch: „samawar“) – einer Art „Teehaus“ – nächtigt (vgl. auch Stahlmann, VGH BW, A 11 S 316/17, Protokoll vom 12.10.2018, Anlage 2, S. 6, 7). In Kabul gibt es (wie auch sonst im Land) zahlreiche dieser typisch afghanischen Unterkünfte. Ist ein Teehaus besetzt, ist es möglich, Unterkunft und Verpflegung in einem anderen Teehaus zu erhalten. Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Gäste allein kommen. Diese Teehäuser sind wichtige soziale Treffpunkte und werden typischerweise von Männern aufgesucht. Der Preis beträgt zwischen 30 und 100 Afghani (ca. 0,4 bis 1,4 USD) pro Nacht (vgl. EASO, COI Report, Afghanistan Networks, Januar 2018, S. 29)“ (Nds.OVG, Urteil vom 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - aaO Rdnrn. 108ff.).
Das Gericht macht sich für das vorliegende Verfahren auch diese Ausführungen im Grundsatz vollumfänglich zu eigen.
(3) Der Einzelrichter geht ebenfalls davon aus, dass die medizinische Versorgung für alleinstehende junge Männer insbesondere in Kabul noch hinreichend gewährleistet ist (vgl. dazu Nds.OVG, Urteil vom 29.1.2019 - 9 LB 93/18 – aaO, Rdnrn. 80ff., 111). Nach Angaben des Auswärtigen Amtes hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, so stieg beispielsweise die Lebenserwartung bei Geburt von 63 Jahre im Jahr 2018 auf mittlerweile 64 Jahre. Zudem soll es in Kabul wie in anderen Städten Afghanistans ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken geben (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. September 2019 – 508-516.80/3 AFG - S. 29).
(4) Im Falle des Klägers liegen auch keine besonderen, individuell erschwerenden Umstände vor.
Der 1993 geborene Kläger ist ein junger Mann, gesund und arbeitsfähig. Er spricht Dari, eine der offiziellen Landessprachen, die etwa von der Hälfte der afghanischen Bevölkerung gesprochen wird, und kann sich deshalb in Afghanistan verständigen. Es ist daher davon auszugehen, dass er zumindest als Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter Geld zum Überleben erwirtschaften kann.
(5) Nach obergerichtlicher Rechtsprechung (BayVGH, Beschluss vom 12.4.2018 - 13a ZB 18.30135 - juris, Rdnr. 9; 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris, Rdnr. 7; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5.12.2017 - A 11 S 1144/17 - juris, Rdnr. 525), der sich der Einzelrichter anschließt, scheitert eine Rückkehr nach Afghanistan auch nicht an einem langjährigen Aufenthalt in Europa oder Drittländern. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Betroffene - wie hier - den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht. Eines speziellen „Vertrautseins“ mit den afghanischen Verhältnissen bedarf es nicht.
(6) Selbst wenn Kabul insbesondere wegen des steigenden Sicherheitsrisikos für die Zivilbevölkerung als Abschiebungszielort ausscheiden würde, ist alleinstehenden, jungen, gesunden, erwachsenden Afghanen, ohne eigenes Vermögen und ohne soziales Netzwerk auch ein Leben in den Städten Herat und Mazar-e Sharif als Alternative grundsätzlich derzeit noch möglich (vgl. Nds.OVG, Urteil vom 29.1.2019, aaO, Rdnr. 150ff.).
(7) Der Kläger kann auch sicher und legal nach Kabul reisen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Stadt verfügt über einen internationalen Verkehrsflughafen und kann aus Deutschland relativ unkompliziert angeflogen werden, beispielsweise mit Umsteigemöglichkeiten in Istanbul, Dubai, Neu-Delhi oder Islamabad (vgl. Auswärtiges Amt, aaO, S. 31f.; EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan, Key socio-economic indicators, state-protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City, August 2017, S. 126f.). Die Stadt ist damit unabhängig vom Landweg erreichbar. Auch sein Bruder M. ist auf dem Luftweg nach Afghanistan zurückgekehrt.
II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. Er kann diesen aus den bereits oben unter I.1) und 2) der Entscheidungsgründe nicht gemäß § 26 Abs. 5 AsylG von der J. B. oder dem gemeinsamen Sohn K. ableiten. Im Übrigen besteht ein Anspruch auf Zuerkennung von subsidiären Schutz aufgrund der internen Schutzmöglichkeit im Sinne von § 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG ebenfalls nicht.
III. Ein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG steht dem Kläger ebenfalls nicht zu.
1. Ein Abschiebungsverbot ergibt sich nicht aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953, Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK -).
Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich - ziel-staatsbezogene (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris, Rdnr. 34; Urteil vom 11.11.1997 - 9 C 13/96 - juris Rdnr. 8 ff.) - Abschiebungshindernisse aus der EMRK ergeben. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Das Abschiebungsverbot ist nur dann zu bejahen, wenn das Abschiebungshindernis landesweit besteht. Voraussetzung ist also, dass sich dem betroffenen Ausländer keine inländische Fluchtalternative bietet (BVerwG, Urteil vom 31.12013, aaO, Rdnrn. 26, 38; Nds.OVG, Urteil vom 28.7.2014 - 9 LB 2/13 - juris, Rdnr. 33).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Wie bereits ausgeführt, besteht für den Kläger eine inländische Fluchtalternative.
Im Falle des Klägers liegen insbesondere keine besonderen, individuell erschwerenden Umstände vor, die über die genannten allgemeinen Umstände hinaus dazu führen, dass gerade bei ihm ein höheres Risiko besteht, einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste.
2. Auch ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
a. Für die Annahme einer derartigen - zielstaatsbezogenen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.9.1999 - 9 C 12/99 - juris Rdnr. 14) - Gefahr genügt die bloße (entfernte oder theoretische) Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die Rechtsgüter Leib, Leben oder Freiheit zu werden, nicht. Es gilt vielmehr - auch bei einer erlittenen Vorverfolgung - der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9/95 - juris Rdnr. 16; OVG Münster, Urteil vom 27.1.2015 - 13 A 1201/12.A - juris Rdnr. 25). Erheblich ist die Gefahr, wenn sie ein gewisses Gewicht hat (Möller/Stiegeler, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 AufenthG Rdnr. 32), konkret, wenn ihre Verwirklichung alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland zu erwarten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 - 1 C 18/05 - juris Rdnr. 15; für die durch eine Krankheit verursachte Gefahr; OVG Münster, Urteil vom 27.1.2015 - 13 A 1201/12.A -, juris Rdnr. 25). Die Gefahr muss dem Ausländer landesweit drohen; dieser darf sich ihr nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Heimatlandes entziehen können (BVerwG, Urteil vom 17.101995, aaO, Rdnr. 16). Von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird, ist dagegen ohne Bedeutung; einer staatlichen oder quasi-staatlichen Urheberschaft bedarf es nicht (Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, 19. Edition, Stand: 15. August 2016, § 60 AufenthG Rdnr. 39; Möller/Stiegeler, in: Hofmann, ebd.).
Schließlich muss der Ausländer der Gefahr persönlich ausgesetzt sein („für diesen Ausländer“). Von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst sind nur einzelfallbezogene, individuell bestimme Gefährdungssituationen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt ist bzw. sind, werden bei Entscheidungen über eine vorübergehende Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG unterfallen allgemeine Gefahren § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen (OVG Münster Urteil vom 27.1.2015, aaO, Rdnr. 27). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - 9 C 4/89 - juris Rdnr. 9).
Wann allgemeine Gefahren von Verfassung wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Auch müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.9.2011 - 10 C 24/10 - juris Rdnr. 20; Urteil vom 29.6.2010 - 10 C 10/09 - juris Rdnr. 15; OVG NRW, Urteil vom 27.1.2015, aaO, Rdnr. 28). Der Eintritt der Gefahr muss jedoch innerhalb eines überschaubaren Zeitraums prognostizierbar sein (BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 - 1 C 18/05 - juris Rdnr. 20). Das Bundesamt geht hier von zwei Jahren als allgemeiner Orientierung aus.
b. Nach diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht gegeben. Zwar ist - wie dargestellt - die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan schlecht. Dies stellt jedoch eine allgemeine Gefahr dar, die dem Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht unterfällt. Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich für die Kläger auch nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen wäre.
c. Soweit der Kläger geltend macht, dass er in Deutschland bleiben müsse, um seine 46-jährige Mutter R., der ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuerkannt wurde, zu betreuen, handelt es sich nicht um ein in diesem Zusammenhang allein zu prüfendes zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, sondern um einen Vortrag, der allein ausländerrechtlich von der Ausländerbehörde im Rahmen der Erteilung einer Duldung oder Aufenthaltserlaubnis zu prüfen ist. Entsprechend verhält es sich mit dem Wunsch des Klägers, weiter das Besuchs- bzw. Umgangsrecht mit seinem minderjährigen Sohn K. ausüben zu wollen.
IV. Die in Ziffer 5) der Entscheidungsformel des Bescheides ausgesprochene Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig. Die Anforderungen des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sind erfüllt.
V. Auch die in Ziffer 6) der Entscheidungsformel des ablehnenden Bescheides enthaltene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes ist nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit der festgesetzten Frist sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Im Übrigen stellt die Befristung nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Grundsatz einen den Ausländer begünstigenden Verwaltungsakt dar, weil das Verbot ohne die von der Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG vorzunehmende Befristung sonst unbefristet gelten würde (VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 22.1.2018 - 1 B 8/18 - juris Rdnr. 8).
VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.
Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.