Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.01.2021, Az.: 9 LA 150/20
Afghanistan; grundsätzliche Arbeitsfähigkeit; Bedingungen, humanitäre; unmenschliche Behandlung; Corona-Pandemie; Einreisestopp; eingeschränkt Kenntnisse; Landessprache; Pandemie; vorübergehende tatsächliche Unmöglichkeit; nicht vulnerable
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 13.01.2021
- Aktenzeichen
- 9 LA 150/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 71237
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 18.06.2020 - AZ: 12 A 6698/17
Rechtsgrundlagen
- § 60 AufenthG
- § 60 Abs7 S 6 AufenthG
- Art 3 MRK
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die vom beklagten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgeworfene Frage, ob die Corona-Pandemie bei „nicht vulnerablen“ und „grundsätzlich“ arbeitsfähigen Rückkehrern zu der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt, ist nicht klärungsfähig, weil sie nicht hinreichend bestimmt ist.
2. Eingeschränkte Kenntnisse der Landessprache können einen individuell erschwerenden Umstand darstellen, der die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG für Afghanistan begründet.
3. Die vorübergehende tatsächliche Unmöglichkeit der Einreise aufgrund eines Einreisestopps begründet ein vorübergehendes Hindernis für die Vollstreckung der Abschiebung, schließt aber die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht aus, wenn zugleich andere Gründe eine solche Feststellung rechtfertigen.
4. Auch aus einer Pandemie folgende schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebungszielstaat können in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen, zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen.
5. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG schließt die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 5 AufenthG auch dann nicht aus, wenn staatliche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung (wie ein Lockdown) die humanitären Bedingungen verschlechtern.
Tenor:
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 12. Kammer (Einzelrichter) - wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
Gründe
Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg zuzulassen, soweit dieses die Beklagte verpflichtet hat, hinsichtlich der Islamischen Republik Afghanistan für den Kläger ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen, bleibt ohne Erfolg.
Der von der Beklagten allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor bzw. ist nicht hinreichend dargelegt worden.
Eine Rechtssache ist grundsätzlich bedeutsam i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn sie eine höchstrichterlich oder – soweit es eine Tatsachenfrage betrifft – obergerichtlich noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsfähig wäre und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt dementsprechend, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage bezeichnet und erläutert wird, weshalb sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und – im Fall einer Tatsachenfrage – welche (neueren) Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur die Senatsbeschlüsse vom 4.3.2019 – 9 LA 189/19 –; vom 31.1.2019 – 9 LA 126/19 –; vom 15.1.2019 – 9 LA 107/19 –; vom 8.1.2019 – 9 LA 97/19 – m. w. N.). Die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage setzt eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus. Es reicht nicht, wenn der Zulassungsantragsteller sich lediglich gegen die Würdigung seines Vorbringens durch das Verwaltungsgericht wendet und eine bloße Neubewertung der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel verlangt (hierzu Senatsbeschluss vom 3.1.2018 – 9 LA 163/17 –).
Gemessen hieran ist die Berufung nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Hinsichtlich der von der Beklagten aufgeworfenen Frage,
„ob die Corona-Pandemie in Afghanistan landesweit bei nicht vulnerablen und grundsätzlich arbeitsfähigen Rückkehrern zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG führt“,
hat sie eine Entscheidungserheblichkeit nicht dargetan. Das Verwaltungsgericht hat nicht festgestellt, dass der Kläger zu einem „nicht vulnerablen“ Personenkreis gehört. Darüber hinaus hat es auch nicht seine Entscheidung darauf gestützt, dass dem „grundsätzlich“ arbeitsfähigen Kläger allein aufgrund der Corona-Pandemie eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG droht. Vielmehr hat es in Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 11.12.2020 – 9 LA 156/20 –; vom 12.12.2019 – 9 LA 452/19 – juris Rn. 13; vgl. auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie: BremOVG, Urteil vom 24.11.2020 – 1 LB 351/20 – juris; BayVGH, Urteile vom 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 43 ff. und vom 26.10.2020 – 13a B 20.31087 – juris Rn. 42 ff.) ausdrücklich auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abgestellt. Der Senat kann dahinstehen lassen, ob – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – im Falle des Klägers individuell erschwerende Umstände darin zu erblicken sind, dass er in Afghanistan über keinerlei soziale Anbindungen und über keine finanziellen Rücklagen verfüge und auch nicht auf Verwandte oder Freunde im westlichen Ausland oder in einem Nachbarland von Afghanistan zurückgreifen könne, die ihn finanziell unterstützen könnten (Seite 24 des Urteilsabdrucks – UA). In seinem Urteil vom 29. Januar 2019 (– 9 LB 93/18 – juris Rn. 55) hat er entschieden, dass die Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK für einen alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann auch dann derzeit nicht generell gegeben sind, wenn er der Volksgruppe der Hazara angehört, im Iran aufgewachsen ist (sog. "faktischer Iraner") und weder über ein soziales Netzwerk in Afghanistan verfügt noch über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder nennenswertes Vermögen. Das Verwaltungsgericht hat aber vorliegend zusätzlich darauf abgestellt, dass der Kläger die Landessprache Dari lediglich in einem eingeschränkten Maße spreche (Seite 24 UA). Eingeschränkte oder nicht vorhandene Kenntnisse der Landessprachen können entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin einen individuell erschwerenden Umstand darstellen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 8.10.2020 – 13a ZB 18.33212 – juris Rn. 17).
Darüber hinaus ist die von der Beklagten aufgeworfene Frage, ob die Corona-Pandemie bei „nicht vulnerablen“ und „grundsätzlich“ arbeitsfähigen Rückkehrern zu der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt, nicht klärungsfähig, weil sie nicht hinreichend bestimmt ist. Die Beantwortung der Frage bedingt, dass Rückkehrer „grundsätzlich“ arbeitsfähig sind, und umfasst damit auch Fallgestaltungen, in denen die Arbeitsfähigkeit zumindest eingeschränkt ist. Wann danach eine „grundsätzliche“ Arbeitsfähigkeit gegeben ist und welche Auswirkungen die Corona-Pandemie in Afghanistan im Falle einer lediglich „grundsätzlich“ gegebenen Arbeitsfähigkeit darauf hat, dass die humanitären Verhältnisse ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK in der Person des Schutzsuchenden ausnahmsweise begründen, ist einer allgemeinen Klärung nicht fähig, zumal es darauf ankommt, in welchem Umfang seine Arbeitsfähigkeit nicht gegeben ist, über welche Qualifikationen der Schutzsuchende verfügt und ob für ihn auf dem Arbeitsmarkt eine Nachfrage besteht.
Soweit die Beklagte ihre Frage darüber hinaus unter die Bedingung stellt, dass es sich um einen „nicht vulnerablen“ Rückkehrenden handelt, ist die Frage ebenfalls zu unbestimmt. Der Begriff der „Vulnerabilität“ (i. S. v. Verwundbarkeit oder Verletzlichkeit) ist rechtlich nicht determiniert und wird vom Verwaltungsgericht in Bezug auf den Kläger auch nicht verwendet. Insoweit ist offen, wann von einer fehlenden „Vulnerabilität“ auszugehen ist, und ob ein volljähriger gesunder Mann nicht vulnerabel ist, wenn er eingeschränkt belastbar oder durchsetzungsfähig wäre (vgl. zur individuellen Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit: BremOVG, Beschluss vom 24.11.2020, a. a. O., Rn. 55). Im Übrigen bedarf die Frage, ob ein bestimmter Personenkreis als „vulnerabel“ einzustufen ist und deshalb dem Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, einer Abwägung aller konkreten Umstände des Einzelfalls (vgl. Senatsurteil vom 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 205).
Die Beklagte hat darüber hinaus eine Entscheidungserheblichkeit hinsichtlich der von ihr aufgeworfenen Frage,
„ob die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG auch dann in Betracht kommt, wenn infolge eines Einreisestopps nach Afghanistan von einer Unmöglichkeit der Abschiebung auszugehen ist“,
nicht dargelegt. Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen eines solchen Einreisestopps nicht festgestellt.
Die Darlegungen der Beklagten gehen außerdem fehl. In der von ihr in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. April 1997 (– 9 C
38.96 –) hat dieses zwar ausgeführt, dass die vorübergehende tatsächliche Unmöglichkeit der Einreise lediglich ein vorübergehendes Hindernis für die Vollstreckung der Abschiebung begründet, nicht hingegen ein Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 4 AuslG i. V. m. Art. 3 EMRK (BVerwG, Urteil vom 15.4.1997, a. a. O., Rn. 26). Hieraus folgt aber nicht – und dies hat das Bundesverwaltungsgericht in der angeführten Entscheidung auch an keiner Stelle festgestellt –, dass im Falle der vorübergehenden tatsächlichen Unmöglichkeit der Einreise die Feststellung eines Abschiebungsverbotes wegen der drohenden Verletzung etwa von Art. 3 EMRK ausgeschlossen wäre, obwohl andere Gründe eine solche Feststellung rechtfertigten.
Im Übrigen sind die Maßstäbe, unter welchen Voraussetzungen einem Schutzsuchenden nationaler Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu gewähren ist, in der Rechtsprechung des Senats geklärt (Senatsurteile vom 29.1.2019, a. a. O., Rn. 39 ff.; vom 24.9.2019 – 9 LB 137/19 – juris). Auch unter Berücksichtigung der vorgenannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts hat die Beklagte nicht aufgezeigt, dass von diesen Maßstäben abzurücken ist. Maßgeblich ist danach allein, ob sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Demgemäß ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zu gewähren, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Schutzsuchende im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Hierzu hat der Senat in seinem Urteil vom 29. Januar 2019 (a. a. O., Rn. 42 ff.) ausgeführt:
„Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts ist Art. 3 EMRK nicht nur auf eine von staatlichen Behörden ausgehende Gefahr anwendbar, sondern auch dann, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen herrührt, die keine staatlichen Organe sind. Allerdings muss gezeigt werden, dass die Gefahr real ist und die Behörden des Empfangsstaats nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch die Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (EGMR, Urteile vom 23.8.2016 – 59166/12 [J. K. and others v. Schweden] – HUDOC Rn. 80; vom 5.7.2016 – 29094/09 [A. M. v. The Netherlands] – HUDOC Rn. 79). Insofern können Gefahren, die unabhängig von der Verantwortlichkeit eines der in § 3 c AsylG genannten Akteure bestehen und daher als Anknüpfungsmerkmal für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG in der Regel ausgeschlossen sind, ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nach sich ziehen (siehe hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen Senatsbeschluss vom 31.5.2018 – 9 LA 61/18 – juris Rn. 10 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geht der sachliche Schutzbereich des nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK über denjenigen des unionsrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG i. V. m. § 4 Abs. 1 AsylG nicht hinaus, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris Rn. 25; s. a. Senatsurteil vom 28.7.2014 – 9 LB 2/13 – juris Rn. 14).
…
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat können in ganz besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018 – 1 B 25.18 – Asylmagazin 2018, 376 = juris Rn. 9; Urteil vom 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 23 und 25).
Zwar haben die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebungszielstaat weder notwendig noch einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. EGMR, Urteile vom 29.1.2013 – 60367/10, [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 74; vom 28.6.2011 – 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 278; vom 20.1.2009 –32621/06 [F. H. v. Sweden] – HUDOC Rn. 92; vom 11.1.2007 – 1948/04 [Salah Sheekh v. The Netherlands] – HUDOC Rn. 141). Denn Art. 3 EMRK dient hauptsächlich dem Schutz bürgerlicher und politischer Rechte (vgl. EGMR, Urteil vom 27.5.2008 – 26565/05 [N. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 44).
Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebungszielstaat, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf fehlende staatliche Mittel zurückzuführen sind, um mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten umzugehen, können aber in Anwendung des in einem solchen Fall maßgeblichen (vgl. EGMR, Urteil vom 28.6.2011– 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 282), im Verfahren N. v. The United Kingdom entwickelten strengen Maßstabs in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen, zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen (vgl. EGMR, Urteile vom 28.6.2011 – 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 278; vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 75; siehe auch EGMR, Urteil vom 13.12.2016 – 41738/10 [Paposhvili v. Belgium] – HUDOC Rn. 183 zu solchen ganz besonderen Ausnahmefällen).
Nur wenn die schlechten humanitären Verhältnisse im Abschiebungszielstaat primär auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen dortiger Konfliktparteien zurückzuführen sind, hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seinen im Verfahren M. S. S. v. Belgium and Greece (Urteil vom 21.1.2011 – 30696/06 – HUDOC) entwickelten und im Verfahren Sufi and Elmi v. The United Kingdom (Urteil vom 28.6.2011, – 8319/07 und 11449/07 – HUDOC Rn. 282 f.) auch im Hinblick auf die humanitären Bedingungen in Flüchtlingslagern in Süd- und Zentralsomalia angewandten weniger strengen Maßstab für besser geeignet, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK festzustellen (vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 77). Danach muss die Fähigkeit des Betroffenen berücksichtigt werden, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu befriedigen, weiter seine Anfälligkeit für Fehlbehandlungen sowie seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 89 ff.).
Bezogen auf Abschiebungen in die Islamische Republik Afghanistan hat der Gerichtshof bislang den erstgenannten strengen Prüfungsmaßstab aus dem Verfahren N. v. The United Kingdom zugrunde gelegt (vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 89 ff.; siehe auch EGMR, Urteil vom 13.10.2011 – 10611/09 [Husseini v. Sweden] – HUDOC Rn. 91 ff.; hierzu bereits Senatsbeschluss vom 25.5.2018 – 9 LA 64/18 – juris Rn. 8; im Einzelnen auch VGH BW, Urteil vom 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 135). Er hat die Situation in Afghanistan im Verfahren S. H. H. v. The United Kingdom insoweit ausdrücklich zu derjenigen in Somalia abgegrenzt (vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 91).“
Einen solchen besonderen Ausnahmefall hat das Verwaltungsgericht aufgrund des „vorliegenden Einzelfalls“ des Klägers angenommen.
Die Beklagte hat danach auch nicht in eine den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Weise dargelegt, dass ein weitergehender Klärungsbedarf besteht,
„inwieweit sich die Gefahren, die sich aus der Pandemie für die gesamte Bevölkerung ergeben, überhaupt unter das in Art. 3 EMRK formulierte Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung subsumieren lassen“.
In Anwendung der dargestellten Grundsätze können auch aus einer Pandemie folgende schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebungszielstaat in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen, zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen.
Soweit die Beklagte in Zweifel zieht, dass ein solcher ganz besonderer Ausnahmefall vorliegt, bzw. geltend macht, die vom Verwaltungsgericht getroffene Entscheidung, dass dem Kläger zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Falle seiner Rückkehr u. a. aufgrund der sich aus der Pandemie ergebenden wirtschaftlichen Folgen nicht in der Lage wäre, zumindest sein Existenzminimum zu sichern, berücksichtige unzureichend die zu erwartenden künftigen Entwicklungen in Afghanistan, wendet sie sich der Sache nach gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Etwaige diesbezügliche Fehler sind jedoch regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 5.11.2018 – 1 B 78.18 – juris Rn. 5; vom 23.10.2017 – 1 B 144.17 – juris Rn. 6). Allenfalls schwerwiegende Mängel bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung können einen Verfahrensmangel (und damit unter Umständen eine Gehörsversagung) darstellen. Solche schwerwiegenden Mängel sind insbesondere dann anzunehmen, wenn die Sachverhalts- und Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3.9.2018 – 1 B 41.18 – juris Rn. 3). Einen solchen schwerwiegenden Mangel hat die Beklagte nicht aufgezeigt.
Schließlich hat die Beklagte hinsichtlich der von ihr aufgeworfenen Frage,
„ob § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 5 AufenthG ausschließt, wenn staatliche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung die humanitären Bedingungen verschlechtern“,
eine Klärungsbedürftigkeit nicht dargetan.
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass der sich aus § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG folgende erhöhte Maßstab für eine Extremgefahr aufgrund der Gesetzessystematik und des unterschiedlichen Regelungszwecks bei allgemeinen Gefahren nicht auf § 60 Abs. 5 AufenthG zu übertragen ist (BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 13; Senatsurteil vom 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51; BremOVG, Urteile vom 12.2.2020 – 1 LB 276/19 – juris Rn. 47; vom 24.11.2020, a. a. O., Rn. 25; HessVGH, Urteil vom 23.8.2019 – 7 A 2750/15.A – juris Rn. 46; OVG NRW, Urteil vom 18.6.2019 – 13 A 3930/18.A – juris Rn. 111; BayVGH, Urteil vom 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris Rn. 40; VGH BW, Urteil vom 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 183). Hieraus folgt zugleich, dass § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht auszuschließen vermag und zwar auch dann nicht, wenn staatliche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung (wie ein Lockdown) die humanitären Bedingungen verschlechtern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).