Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 11.10.2022, Az.: 8 A 388/19

Asylantragstellung als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung; Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung; interner Schutz für tschetschenische Volkszugehörige in anderen Landesteilen Russlands; Kadyrow; Nachfluchtgrund; Russischer Angriffskrieg auf die Ukraine; Teilmobilmachung; Zur Prüfung eines Nachfluchtgrundes für einen wehrpflichtigen tschetschenischen Kläger wegen seiner Asylantragstellung mit mehrjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet und im Hinblick auf die russische Teilmobilmachung für den Angriffskrieg auf die Ukraine

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
11.10.2022
Aktenzeichen
8 A 388/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 46255
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2022:1011.8A388.19.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Einem Kläger aus Tschetschenien droht bei einer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner Ausreise aus Russland, der Asylantragstellung und einem mehrjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.

  2. 2.

    Die Teilmobilmachung in Russland vom 21.09.2022 stellt für einen wehrpflichtigen tschetschenischen Kläger keinen Nachfluchtgrund im Sinne von § 28 Abs. 1a i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG dar. Da es sich nicht um eine allgemeine Mobilmachung handelt, sollen nur Reservisten mit Kampf- und Diensterfahrung eingezogen werden, wozu Wehrpflichtige und Studenten nicht gehören.

  3. 3.

    Die Möglichkeit eines legalen Aufenthalts für tschetschenische Volkszugehörige in anderen Landesteilen der Russischen Föderation ist nicht aufgrund der Teimobilmachung entfallen. Nur für im Militärregister erfasste Reservisten wurde ab dem Moment der Moblilisierung das Verlassen ihres Wohnortes ohne Genehmigung der Militärkommissariate verboten.

Tenor:

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.10.2019 verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK in Bezug auf die Russische Föderation besteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der am 1999 geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volks- und islamischer Glaubenszugehörigkeit. Er reiste am 27.07.2018 mit seiner Mutter und seinen zwei damals noch minderjährigen Geschwistern, die unter dem Az. 8 A 181/20 ein eigenes gerichtliches Verfahren betreiben, aus ihrem Heimatland aus und auf dem Landweg über Weißrussland und Polen kommend am 21.08.2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 03.09.2018 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter.

Da Anhaltspunkte dafür bestanden, dass der Kläger in Polen bereits einen Asylantrag gestellt hatte, leitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im folgenden Bundesamt genannt) zunächst ein Dublin-Verfahren ein. Der Kläger gab bei der daraufhin am 05.10.2018 durchgeführten Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages an, sie hätten Polen verlassen, weil sein kranker Bruder dort nicht behandelt worden sei. Mit Bescheid vom 30.10.2018 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und ordnete die Abschiebung nach Polen an. Obgleich der Bescheid bestandskräftig wurde, scheiterte eine bereits eingeleitete Rücküberstellung des Klägers, der sich vorübergehend im Kirchenasyl aufhielt, nach Polen. Nach Ablauf der Überstellungsfrist am 09.04.2019 führte das Bundesamt das Verfahren des Klägers als nationales Verfahren fort.

Mit Anwaltsschriftsatz vom 25.09.2019 legte der Kläger einen Arztbericht des F. vom 25.04.2019 vor, in dem bei ihm eine schwere depressive Episode ohne psychische Symptome und eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert wird. Der Kläger sei nach einem ersten stationären Aufenthalt vom 05. bis 21.12.2018 erneut vom 07.01. bis 08.03.2019 stationär behandelt worden. Außerdem legte er einen fachärztlichen Befundbericht des Facharztes für Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie Dr. med. F. vom 23.03.2019 vor, der ebenfalls eine PTBS und eine Depression diagnostiziert.

Bei der persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 26.09.2019 gab der Kläger an: Im Jahr 2006 sei sein Vater verstorben. Der Bruder seines Vaters sei ein Alkoholiker gewesen. Er habe im Jahr 2009 seine Mutter, ihn selbst und seine Geschwister aufgefordert, das Haus zu verlassen. Er habe sie in das Haus des Bruders der Mutter nach Prigorodnoje geschickt. Dort habe er die Mittelschule bis zur elften Klasse besucht. Die neunte Klasse habe er mit Abschluss bestanden, am Ende der elften Klasse habe er eine Prüfung nicht bestanden. Aufgrund seines Abschlusses der neunten Klasse habe er anschließend ein College (das College "Energetikum" in Grosny) besuchen können. Dieses College habe er zwei Jahre lang besucht, aber nicht abgeschlossen, denn ungefähr zehn Monate vor Beendigung seien sie ausgereist. Wehrdienst habe er nicht geleistet. In dem Elternhaus seiner Mutter in Prigorodnoje hätten sie ein Zimmer bewohnt. In den anderen Räumen hätten die Großeltern mütterlicherseits sowie der Bruder und eine Schwester seiner Mutter gewohnt. Am Anfang sei alles einigermaßen gut gelaufen, aber dann habe der Bruder seiner Mutter allmählich damit begonnen, seine Mutter zu schlagen. Die Schläge seines Onkels hätten auch ihn getroffen. Warum sich der Onkel gegenüber seiner Schwester und ihren Kindern so aggressiv verhalten hat, wisse er nicht. Sein Onkel sei Angehöriger der Miliz gewesen und habe auf einer Polizeistation in Grosny gearbeitet. Seit vier Jahren vor der Ausreise habe der Onkel ihm, seiner Mutter und seinen Geschwistern verboten, ihr Zimmer zu verlassen. Sein Bruder sei infolge eines Impfschadens an Kinderlähmung erkrankt und habe regelmäßig behandelt werden müssen. Er sei immer für einen Monat stationär im Krankenhaus aufgenommen worden, dann habe er wieder zwei Monate zu Hause verbracht. Aufgrund des Verbots des Onkels, das Zimmer zu verlassen, sei sein Bruder seit 2014 nicht mehr behandelt worden. Immer wenn sein Onkel mit schlechter Laune nach Hause gekommen sei, habe er diese Laune an ihm und seinen Familienangehörigen ausgelassen. Nur seinen behinderten Bruder habe er nicht geschlagen. Als sie sich im Jahr 2014 zum ersten Mal dazu entschlossen hätten, das Land zu verlassen, hätten sie dies wegen seines Bruders tun wollen, damit er behandelt würde. Der Onkel habe ihnen aber dann verboten, das Haus zu verlassen. Sie hätten die erneute Ausreise deshalb für einen Tag geplant, an dem der Onkel bei der Arbeit gewesen sei. Von Weißrussland hätten sie die Grenze nach Polen überquert und seien dort ungefähr drei Wochen geblieben. Von dort aus hätten sie telefonischen Kontakt zur Schwester seiner Mutter, die in Belgien leben würde, aufgenommen. Von dieser hätten sie erfahren, dass der Onkel wisse, dass sie sich in Polen befinden würden. Sie seien darüber geschockt gewesen, hätten am nächsten Tag ein Taxi genommen und seien nach Deutschland ausgereist. Auf Nachfrage, wovon seine Mutter, seine Geschwister und er in Prigorodnoje gelebt hätten, gibt er an, seine Mutter habe für den behinderten Bruder eine monatliche Invalidenrente in Höhe von 21.000 Rubel erhalten hätte, in der auch eine monatliche Halbwaisenrente für seine Schwester und ihn enthalten gewesen sei. Das Geld hätten seine Mutter und er verwaltet. An einer schwerwiegenden Erkrankung leide er nicht, habe aber immer Kopfschmerzen. Anfang Dezember 2018 habe er zwei Wochen lang im F. gelegen und sei erstmals psychotherapeutisch behandelt worden. Der psychische Druck, unter dem er stehe, sei sehr groß, weil er damit rechnen müsse, jederzeit abgeschoben zu werden.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 14.10.2019 hob die Beklagte ihren Bescheid vom 30.10.2018 auf, lehnte den Antrag des Klägers auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, drohte dem Kläger die Abschiebung in die Russische Föderation an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter würden nicht vorliegen. Der Kläger sei kein Flüchtling, denn er berufe sich lediglich auf familiäre Probleme mit seinem Onkel. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus würden ebenfalls nicht vorliegen. Der Kläger habe stichhaltige Gründe für die Annahme, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden drohe, nicht vorgebracht. Sein Sachvortrag sei nicht glaubhaft. Abgesehen davon, dass seine Angaben zu den fluchtauslösenden Ereignissen arm an Details, vage und oberflächlich geblieben seien, seien seine Ausführungen nicht schlüssig, nicht nachvollziehbar und würden im Widerspruch zu den Angaben seiner Mutter stehen. So habe seine Mutter bei der Anhörung am 10.07.2019 ausdrücklichen wiederholt angegeben, ihr Bruder habe ihre Kinder nicht angerührt und seine ganze Wut an ihr ausgelassen. Gleiches gelte, soweit er angegeben habe mit seiner Mutter und seinen Geschwistern den Onkel väterlicherseits im Jahr 2009 und damit erst drei Jahre nach dem Tod seines Vaters verlassen zu haben. Seine Mutter hingegen habe bei ihrer Anhörung angegeben, der Umzug habe bereits 40 Tage nach dem Tod ihres Mannes - nach Ablauf der Trauerzeit - stattgefunden. Selbst wenn es zu den jahrelangen Misshandlungen gekommen sei, sei nicht nachvollziehbar, warum sich der Kläger und seine Mutter nicht an staatliche Schutzakteure gewandt haben. Nach alledem werde davon ausgegangen, dass die Erkrankung des Bruders wesentlicher Antrieb für die Ausreise der Familie aus der Russischen Föderation gewesen sei. Dem Kläger und seine Familienangehörigen sei es von Anfang an darum gegangen, nach Deutschland zu kommen, um für seinen Bruder eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung zu erhalten. Dies werde dadurch bestätigt, dass bereits im August 2014 russische Inlandspässe für den Kläger und seine Mutter ausgestellt worden seien, und der Kläger darauf hingewiesen habe, dass sein Bruder bereits seit 2014 nicht mehr behandelt worden sei. Selbst wenn es zu den Übergriffen durch den Onkel gekommen sei und der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine Wiederholung fürchte, sei er auf internen Schutz zu verweisen. Für eine drohende landesweite Verfolgung gebe es keinen vernünftigen Anhaltspunkt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG würden nicht bestehen. Weder die derzeitigen humanitären Bedingungen in Russland noch die individuellen Umstände des Klägers würden zu der Annahme führen, seine Abschiebung führe zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Beim Kläger handele es sich um einen jungen arbeitsfähigen Mann, sodass davon ausgegangen werden könne, er werde bei einer Rückkehr in der Lage sein eine Arbeit zu finden und sich zu versorgen. Schließlich würden dem Kläger auch individuelle Gefahren für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen, nicht drohen. Soweit mit ärztlichen Befundbericht vom 23.03.2019 und mit Arztbrief vom 25.04.2019 für den Kläger eine schwere komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und eine schwere Depression diagnostiziert worden seien, folge daraus kein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot. Die getroffenen Diagnosen würden nicht auf Beobachtungen, Untersuchungen und Erhebungen der behandelnden Fachärzte beruhen, sondern fast ausschließlich auf Angaben und auf eigenen Berichten des Klägers zu seinem Verhalten, seinen Befindlichkeiten und Beschwerden. Die Diagnosen würden sich offensichtlich auf eine unzutreffende Tatsachengrundlage stützen, die Angaben des Klägers zu den angeblich traumatisierenden Ereignissen seien der diagnostischen Einschätzung ungeprüft zugrunde gelegt worden. Außerdem habe der Kläger selbst angegeben, dass wesentliche Ursache für den psychischen Druck unter dem er leide, der Umstand seiner aktuell unsicheren Lage sei. Dies werde bestätigt durch den Arztbrief vom 25.04.2019, in dem ausgeführt werde, dass im Hintergrund des Patienten eine Abschiebungsproblematik bestehen, und der Kläger immer wieder über die Angst abgeschoben zu werden berichtet habe. Daher würden keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Rückkehr in das Heimatland beim Kläger zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zur Selbstgefährdung führe.

Am 30.10.2019 der Kläger Klage erhoben. Mit Anwaltsschriftsatz vom 09.12.2021 wiederholt er die bereits bei der Anhörung gegebene Begründung und führt weiter aus: Er sei aufgrund des Todes seines Vaters psychisch schwer beeinträchtigt und leide unter anderem an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer schweren depressiven Episode, aufgrund derer er bereits zweimal im F. stationär behandelt worden sei. Für den Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation bestehe die Gefahr einer Traumatisierung und damit einhergehend Suizidgefahr. Er befinde sich wegen dieser Erkrankung seit längerer Zeit nicht in Behandlung und versuche stattdessen, den ihn belastenden Erinnerung auszuweichen und möglichst wenig über die Geschehnisse nachzudenken. Er leide weiterhin unter Albträumen und unvermittelt auftretenden Angstzuständen. Die Lebenssituation seiner Familie sei sehr schwierig, und er sei stark in die Pflege seines kranken Bruders eingebunden. Nachdem sich seine Mutter aufgrund einer Krebserkrankung kaum noch um sein Bruder kümmern könne, obliege die komplette Verantwortung ihm und seiner jüngeren Schwester. Mit Anwaltsschriftsatz vom 27.09.2022 verweist er darauf, dass ihm in Russland politische Verfolgung auch angesichts der aktuellen Entwicklung im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg drohe. Im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er verpflichtet würde, den Kriegsdienst anzutreten und ihm im Verweigerungsfall Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG drohen würde. Nachdem der Präsident der Russischen Föderation am 21.09.2022 die Teilmobilmachung aller Russen im wehrfähigen Alter angeordnet habe, um die Zahl der aktiv im Rahmen des Krieges einsetzbaren Soldaten zu erhöhen, seien hiervon potenziell betroffen alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren, so auch er als 23-Jähriger. Die Strafen für die Verweigerung der Teilnahme an Kampfhandlungen und für Desertion von russischen Staatsangehörigen im wehrfähigen Alter seien massiv verschärft worden, und es würden langwierige Haftstrafen von bis zu 15 Jahren drohen. Bezogen auf Tschetschenien werde zudem bereits seit Monaten davon berichtet, dass zahlreiche Tschetschenen unter Androhung von Folter und Gefangenschaft zwangsverpflichtet worden seien, in der Ukraine zu kämpfen. Für ihn sei eine Teilnahme an diesem völkerrechtswidrigen Krieg völlig ausgeschlossen, denn er lehne diesen Krieg ab und sei unter keinen Umständen bereit, sich daran zu beteiligen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14.10.2019 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen

hilfsweise,

ihm subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen und

weiter hilfsweise

festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen

sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziff. 7 des Bescheides vom 14.10.2019 auf Null zu befristen,

hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung von Ziff. 7 des Bescheides zu verpflichten, über die Befristung des Einreise- und Aufenthalts Verbotes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens und des Verfahrens der Mutter und Geschwister des Klägers 8 A 181/20 sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 14.10.2019 ist hinsichtlich der Ziffern 1 bis 4 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Er hat weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. Allerdings hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation. Soweit der angefochtene Bescheid des Bundesamtes dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und aufzuheben (Ziffern 5 bis 7).

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG ist einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG nicht vorliegen. Flüchtling ist gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet und kein Ausschlusstatbestand nach § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG vorliegt. Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Nr.1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, dem Ausländer Schutz vor Verfolgung i.S.v. § 3d AsylG zu bieten (Nr. 3). Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn die Voraussetzungen des internen Schutzes nach § 3e AsylG erfüllt sind, wenn er also in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. § 3e Abs. 1 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (BVerwG, U. v. 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 19).

Diesen Maßstab zugrunde legend kann der Kläger nicht beanspruchen, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Die von ihm geltend gemachte Vorverfolgung - Schläge und Schikane durch seinen Onkel - knüpft wie das Bundesamt im angegriffenen Bescheid zutreffend ausgeführt hat, bereits nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG an.

Dem Kläger droht nach Auffassung des Gerichts im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch bei einer theoretischen Rückkehr in die Russische Föderation keine asylerhebliche Verfolgung. Er kann sich nicht mit Erfolg auf einen Nachfluchtgrund i.S.v. § 28 Abs. 1a i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG berufen.

Ihm droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung allein wegen seiner Ausreise aus Russland und der Asylantragstellung sowie dem mehrjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.09.2022, Stand: 10.09.2022, S. 25, Ziff. IV.2.).

Zwar erscheint denkbar, dass die Asylantragstellung in einem von Russland als "unfreundlichen Staat" bezeichnetem Land wie der Bundesrepublik Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung eingestuft werden könnte. Jedoch gibt es - bislang - keine gesetzlichen Bestimmungen in der Russischen Föderation, die Einschränkungen für Rückkehrer mit russischer Staatsangehörigkeit aus dem Ausland vorsehen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - BFA - Wien vom 14.04.2022, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Ukraine-Krieg: Situation von Rückkehrern aus dem Ausland, Seite 1 f.). Selbst wenn rein tatsächlich im Zuge von Grenzkontrollen Befragungen von Ein- und Ausreisenden durch Grenzkontrollorgane stattfinden, kann über die Verwendung der im Zuge der Befragung gewonnenen Daten durch die russischen Behörden nur gemutmaßt werden, dass derartige Informationen zu repressiven Handlungen gegen russische Bürgerinnen und Bürger verwendet werden (vgl. BFA, aaO, S. 2). Erkenntnismittel, aus denen geschlossen werden kann, dass Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung allein wegen der Asylantragstellung im westlichen Ausland mit Verfolgungsmaßnahmen nach ihrer Rückkehr in die Russische Föderation zu rechnen haben, gibt es nicht. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist der direkte Flugverkehr zwischen der Europäischen Union und Russland ausgesetzt, sodass keine Abschiebungen nach Russland mehr stattgefunden haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.09.2022, S. 23, Ziff. IV.).

Auch die Teilmobilmachung in Russland vom 21.09.2022 stellt für den 23 Jahre alten und damit wehrpflichtigen Kläger keinen Nachfluchtgrund i.S.v. § 28 Abs. 1a i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG dar.

Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG, namentlich Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, fallen (vgl. zu den weiteren Voraussetzungen: EuGH, U. v. 26.02.2015 - C-472/13 -, juris). Zwar ist die von Russland so bezeichnete "militärische Spezialoperation" in der Ukraine ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, bei dem immer wieder von schwerwiegenden Kriegsverbrechen der russischen Seite berichtet wird und damit anzunehmen ist, dass es zu den in § 3 Abs. 2 AsylG beschriebenen Handlungen kommt. Dem Kläger droht aber nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit überhaupt eine Heranziehung zum Einsatz in der Ukraine.

Er gehört nicht zu dem Personenkreis, dem eine Einziehung im Rahmen der aktuellen Teilmobilmachung vom 21.09.2022 droht. Entgegen seiner Auffassung, dass alle Russen im wehrfähigen Alter und damit potenziell alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren betroffen seien, handelt es sich gerade nicht um eine allgemeine Mobilmachung. Nach den Erkenntnissen des erkennenden Gerichts sollen nur Reservisten mit Kampf- und Diensterfahrung eingezogen werden, wozu ausdrücklich Wehrpflichtige und Studenten nicht gehören (vgl. www.tagesschau.de, Teilmobilmachung in Russland, "Hohe Nachfrage nach One-Way-Tickets", v. 21.09.2022; so auch: VG Oldenburg, U. v. 28.09.2022 - 6 A 584/21 -, S. 7, VG Hannover, U. v. 28.09.2022 - 1 A 6753/17 -, S. 13; a.A. VG Lüneburg v. 27.09.2022- 2 A 253/19 -, S. 6 in einem Folgeantragsverfahren).

Zwar wurde in den Medien von Verstößen der Einberufungsämter gegen den von der Teilmobilmachung erfassten Personenkreis berichtet und beschrieben, dass nicht nur Reservisten, sondern auch Wehrpflichtige, Familienväter, Behinderte und Kranke Einberufungsbescheide erhalten hätten. Dies hat sich nach der Einschätzung der Einzelrichterin im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aber nicht derart verdichtet, dass der Kläger eine Heranziehung gegen seinen Willen ernsthaft befürchten müsste. Vielmehr hat der Kreml ausdrücklich eingeräumt, dass es zu Fehlern bei der Mobilisierung gekommen sei und die laufende Rekrutierung im Widerspruch zu den in der Anordnung genannten Personenkategorien gestanden habe. Deshalb haben russische Gouverneure nunmehr öffentlich zugesichert, diejenigen, die versehentlich eingezogen wurden, wieder nach Hause zu entlassen (vgl. z.B. www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/russland-gesteht-mobilisierungs-chaos- und-brandmarkt-schuldige...; www.dw.com/de/mobilmachung-in-russland-was-einberufene-erzählen/...). Aufgrund dieser Entwicklung ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger als militärisch unerfahrener Mann entgegen den Vorgaben des Verteidigungsministeriums einberufen würde.

Soweit er befürchtet, als Deutschlandrückkehrer vom tschetschenischen Präsidenten Kadyrow als Widerstandskämpfer angesehen und unabhängig von der Teilmobilmachung gezwungen zu werden, in der Ukraine zu kämpfen, ist auch dies nicht beachtlich wahrscheinlich.

Zwar sind seit Februar 2022 immer wieder junge Männer in Tschetschenien gezwungen worden, sich für einen Einsatz in der Ukraine zu verpflichten. Nachdem die Teilmobilmachung angeordnet wurde, hat der tschetschenische Machthaber Kadyrow jedoch verlautbaren lassen, dass sich Tschetschenien daran nicht beteiligen würde, weil bereits 20.000 tschetschenische Kämpfer entsandt worden seien, was die Quote um 254 % übererfülle (Berliner Zeitung v. 23.09.2022: "Plan um 254 Prozent überfüllt": Kadyrow verweigert Teilmobilmachung, www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/kadyrow-verweigert-teilmobilmachung...). Wenn aus Tschetschenien keine Kämpfer mehr in die Ukraine entsandt werden, bestünde auch nicht die Gefahr, dass der völlig kampfunerfahrene Kläger gegen seinen Willen zu einem Einsatz dorthin verpflichtet würde.

Für den Fall, dass der für seinen willkürlichen Führungsstil bekannte Machthaber nach seiner Beförderung zum Generaloberst durch den russischen Präsidenten Putin (RP Online v. 06.10.2022: "Putin befördert Kadyrow zum Generaloberst", www.rp-online.de/politik/ausland/krieg_ukraine/russland-putin-befoerdert...) seine Meinung geändert hat und zukünftig weitere Kämpfer entsendet, müsste sich der Kläger darauf verweisen lassen, vor einer befürchteten Zwangsrekrutierung internen Schutz außerhalb Tschetscheniens zu suchen.

Tschetschenische Volkszugehörige können grundsätzlich in andere Landesteile der Russischen Föderation reisen und sich dort legal niederlassen. Die tschetschenische Diaspora ist in allen russischen Großstädten stark angewachsen, und allein in Moskau sollen 200.000 Tschetschenen leben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.09.2022, Stand: 10.09.2022, S. 17, Ziff. II.4.).

Die Möglichkeit des legalen Aufenthaltes in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation ist auch nicht aufgrund der Teilmobilmachung entfallen. Nur den Bürgern, die als Reservisten im Militärregister erfasst sind, wurde ab dem Moment der Mobilisierung das Verlassen ihres Wohnorts ohne Genehmigung der Militärkommissariate verboten (vgl. hierzu: VG Hannover U. v. 28.09.2022 - 1 A 6753/17 -, S. 12, m.w.N.). Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger - wie bereits ausgeführt - nicht, denn er hat nach eigenen Angaben in der Anhörung und auf nochmalige ausdrückliche Nachfrage in der mündlichen Verhandlung bislang keinen Wehrdienst geleistet.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG, denn es ist nicht erkennbar, dass ihm bei unterstellter Rückkehr nach Russland ein ernsthafter Schaden droht. Insoweit folgt das erkennende Gericht in Anwendung von § 77 Abs. 2 AsylG der zutreffenden Begründung des angefochtenen Bescheides vom 14.10.2019, in dem das Bundesamt insbesondere die Widersprüche im Vortrag des Klägers gegenüber den Angaben seiner Mutter in ihrem eigenen Verfahren (Az.: 8 A 181/20) ausführlich berücksichtigt hat.

Der Kläger hat allerdings einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hinsichtlich der Russischen Föderation. Soweit der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 14.10.2019 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U. v. 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris Rn. 17; VGH Bad.-Württ., U. v. 17.07.2019 - A 9 S 1566/18 -, juris Rn. 23; Nds. OVG, U. v. 28.07.2014 - 9 LB 2/13 Rn. 14).

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf, unzulässig ist. Ein Abschiebungsverbot besteht dann, wenn ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Dabei sind die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Abschiebungszielstaat sowie der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. Nds. OVG, U. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 104 m. w. N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen, wobei die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere relativ ist und von allen Umständen des Falls, in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen, abhängt (BVerwG, B. v. 08.08.2018 - 1 B 25/18 -, juris Rn. 9). Insoweit können schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (BVerwG, U. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 23, 25; B. v. 08.08.2018 - 1 B 25/18 -, juris Rn. 9; Nds. OVG, U. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 108). Ein solcher Ausnahmefall kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (BVerwG, B. v. 23.08.2018 - 1 B 42/18 -, juris Rn. 11; Nds. OVG, U. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 116).

Lebt der Ausländer - wie hier der Kläger - in Deutschland im Familienverband mit seiner Kernfamilie ist für die Gefahrenprognose eine hypothetische Rückkehrsituation zu Grunde zu legen, in welcher der Familienverband gemeinsam zurückkehrt. Dies gilt auch dann, wenn einzelnen Familienmitglieder bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz - wie hier für die Mutter des Klägers mit Bescheid des Bundesamts vom 29.09.2022 wegen einer schweren Krebserkrankung - festgestellt worden ist. Danach ist davon auszugehen, dass die Familie entweder gemeinsam in ihr Herkunftsland zurückkehrt, oder insgesamt in Deutschland verbleibt (BVerwG, U. v. 04.07.2019 - 1 C 45/18 - juris, Rn. 15 ff).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe sind angesichts der Lebensverhältnisse und der wirtschaftlichen Lage in der Russischen Föderation sowie in Ansehung der persönlichen Situation des Klägers, der für seine an Lungenkrebs erkrankte Mutter, seinen schwerstbehinderten Bruder und seiner erst 19 Jahre alten Schwester als "Familienoberhaupt" verantwortlich ist, außergewöhnlichen Umstände im obigen Sinne ausnahmsweise gegeben. Aufgrund seiner besonderen persönlichen Situation ist im vorliegenden Einzelfall bei unterstellter Rückkehr nach Russland im Familienverband zu befürchten, dass er einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein würde.

Zwar könnte er bei Rückkehr in die Russische Föderation voraussichtlich auf niedrigem Niveau durch Aushilfsarbeiten sein eigenes Existenzminimum sichern. Dass er darüber hinaus die Versorgung von drei weiteren Familienmitglieder sicherstellen kann, ist hingegen nicht zu erwarten. Seine Mutter leidet an einem nicht kleinteiligen Bronchialkarzinom Stadium IV mit Lymphknotenbefall in der Umgebung sowie Fern-Metastasen. Selbst wenn die dafür erforderliche medikamentöse Versorgung in Russland erhältlich wäre, wäre der Kläger voraussichtlich bereits nicht in der Lage diese zu finanzieren. Hinzu kommt die erforderliche Sicherung des Lebensunterhalts seines zu 100 % schwerbehinderten Bruders und des Lebensunterhalts seiner Schwester, die weder eine Berufsausbildung noch Berufserfahrung hat und überdies wegen der Rund-um-Pflege ihres behinderten Bruders sowie der Pflege ihrer Mutter keinen eigenen Beitrag zum Familieneinkommen leisten kann. Da der Kläger weder staatliche Hilfeleistungen noch familiäre Unterstützung zu erwarten hat, wäre er aus den im Urteil vom 11.10.2022 (Az.: 8 A 181/20) für seine Mutter und seine Geschwister genannten Gründen zu § 60 Abs. 5 AufenthG, auf die für dieses Verfahren vollinhaltlich Bezug genommen wird, im Heimatland bereits nicht in der Lage, angemessenen Wohnraum und die Versorgung der Familie mit den erforderlichen Lebensmitteln zu finanzieren. Der Kläger würde deshalb nach Überzeugung des erkennenden Gerichts bei einer Rückkehr nach Russland kein menschenwürdiges Leben führen können und innerhalb kürzester Zeit verelenden.

Hat der Kläger nach alledem einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich der Russischen Föderation erweist sich auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots als rechtswidrig. Die Ziffern 5 bis 7 des angegriffenen Bescheids sind daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.