Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 25.06.2018, Az.: 6 A 6610/17

AAH; Abfall vom Islam; Asa’ib Ahl al-Haqq; Bagdad; Binnenvertriebene; Bürgschaft; Christ; Christentum; Irak; Konversion; Miliz; Mossul; Mosul; PMF; Popular Mobilization Front; Sunnit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.06.2018
Aktenzeichen
6 A 6610/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 73968
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der am 24. März 1986 geborene Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und ehemals sunnitischer Glaubensangehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge am 19. Juli 2015 aus dem Irak aus und, u.a. über Griechenland kommend, auf dem Landweg am 23. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag stellte.

In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 4. und 8. Mai 2017 gab er an, den Irak verlassen zu haben, da ihn eine schiitische Miliz in seinem Heimatort mit dem Tode bedroht habe. Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte der Kläger, seine Familie stamme ursprünglich aus Mosul. Er selbst sei aber in Bagdad geboren und dort auch aufgewachsen. Bis ca. sechs Wochen vor seiner Ausreise habe er in Bagdad mit seiner Frau und seinen Kindern bei seinen Eltern im Viertel Al-Saydiya gelebt, die letzten sechs Wochen vor dem Verlassen des Landes dann bei seinen Schwiegereltern in Bagdad im Viertel Alielam. In Bagdad lebe zum einen noch seine eigene Familie, d.h. seine im Jahr 1984 geborene Ehefrau, ferner sein im Jahr 2009 geborener Sohn sowie seine im Jahr 2014 geborene Tochter. Ferner wohnten im Irak weiterhin seine Eltern sowie sein Bruder und seine Schwester. Zum seinem beruflichen Werdegang gab der Kläger an, er habe in Bagdad das Abitur abgelegt und im Anschluss sechs Jahre an der Universität in Bagdad Spanisch studiert. Anschließend habe er in Bagdad als Vorarbeiter im Zentrallager der Firma Hyundai gearbeitet.

Zu den Gründen seiner Flucht schilderte der Kläger, als sunnitischer Araber habe er schon seit langem unter den Verhältnissen im Irak gelitten. Im Jahr 2006 habe jemand versucht, seinen Bruder und dessen schiitischen Freund vor dem Haus seiner eigenen Familie zu entführen. Sein Bruder habe fliehen können, den Freund hätten die Entführer mit dem Auto mitgenommen. Augenscheinlich auf Betreiben der Familie des Entführten hätten sich dann am Folgetag bewaffnete Mitglieder der Aldeeb, einer Sicherheitsbehörde des Innenministeriums, gewaltsam Zutritt zum Haus seiner Familie verschafft und ihn, seinen Vater und seinen Bruder mitgenommen. Man habe sie dann bis zum darauffolgenden Tag festgehalten und vernommen. Ihn selbst habe man hierbei geschlagen und auch beschimpft, weil er Sunnit sei und aus Mosul stamme. Am Folgetag habe man sie dann unvermittelt freigelassen. Hinterher habe er erfahren, dass seine Mutter Freunde seines Vaters, einem ehemaligen Staatsbediensteten unter Saddam Hussein, angerufen und über deren Vermittlung die Freilassung erwirkt habe. Ca. zwei Wochen nach der Entführung, d.h. Anfang April 2006, sei eine kleine Bombe vor ihrem Haus explodiert und habe ihm zahlreiche Splitterverletzungen beigefügt. Diesbezüglich reichte der Kläger ein ärztliches Attest vom 15. Februar 2016 zur Akte, demzufolge sich vor allem im Bereich seiner Beine und des Unterkörpers zahlreiche Narben und tast- bzw. röntgenologisch darstellbare Metallsplitter befinden. Er sei dann für einen Tag im Krankenhaus gewesen, habe dieses aber gegen den Rat der Ärzte wieder verlassen, weil die schiitische Mahdi-Miliz großen Einfluss in dem Krankenhaus besessen habe. Aus Angst habe seine Familie sodann Bagdad komplett verlassen und den Sommer in Mosul verbracht in der Hoffnung, dass sich die Lage beruhige. Über einen Vermittler hätten sie Kontakt zur Familie des Entführten aufgenommen. Als das Kind freigelassen worden sei, habe diese erkannt, dass die Familie des Klägers nichts mit der Entführung zu tun gehabt habe.

Nach der Rückkehr seiner Familie nach Bagdad habe sich die Sicherheitslage abermals massiv verschlechtert. Die Familie sei im Jahr 2007 ins Visier von Terroristen der Al-Qaida geraten, weil sich auf dem Dach ihres Hauses ein Mobilfunkmast mit einem großen Dieseltank befunden habe. Die Al-Qaida-Terroristen hätten sie zuhause aufgesucht und Strom und Diesel verlangt. Sein Vater habe diese Forderung brüsk zurückgewiesen. Weil die Terroristen sie bedroht hätten, sei die Familie zunächst innerhalb Bagdads umgezogen und im Anschluss nochmal nach Mosul gegangen, um erst im Februar 2009 nach Bagdad zurückzukehren. Im Jahr 2008 habe er geheiratet. Von 2009 bis 2012, dem Jahr seines Studienabschlusses, habe er ein normales Leben in Bagdad geführt. Zwischen 2012 und 2014 sei die Situation in Bagdad nicht gut, aber erträglich gewesen. Der schiitische Staat habe die sunnitische Bevölkerung seines Stadtteils entwaffnet, die schiitischen Einwohner hingegen nicht.

Die wirklichen Probleme seiner Familie hätten sodann im Jahr 2014 begonnen. Nachdem die Stadt Mosul im Juni 2014 vom „Islamischen Staat“ (IS) eingenommen worden sei, seien viele sunnitische Bekannte zur Familie des Klägers geflohen. Da diese nicht ohne Bürgschaft in Bagdad leben durften, habe seine Familie die Personen angemeldet und deren Pässe abgegeben. Zur damaligen Zeit hätten viele Menschen in Bagdad Flüchtlinge aus Mosul als IS-Anhänger verdächtigt; zwei Familien aus Mosul seien deshalb sogar getötet worden. Im Januar 2015 habe er in der Nähe des Hauses seiner Familie mit einem Freund in dessen Auto gesessen und Alkohol getrunken. Sodann habe sich ein anderes Auto mit zwei Personen genähert und hinter ihnen geparkt. Einer der Insassen sei ausgestiegen und habe ihnen mitgeteilt: „Haji will Euch.“ Weil er, der Kläger, dachte, dass der mit diesem Spitznamen Bezeichnete ggf. schon älter sei, seien sie dann zu dem Auto hinübergegangen. Der als Haji Bezeichnete habe auf das Haus seiner Familie gezeigt und gefragt, wessen Haus dies sei. Auf die Antwort des Klägers, es sei das Haus seiner Familie, habe ihn Haji gefragt, ob die aus Mosul stammenden Bewohner seine Verwandten seien, was der Kläger bejaht habe. Die Nachfrage Hajis, ob die (Stammes-) Verwandten IS-Mitglieder seien, habe der Kläger verneint. Auf das weitere Nachhaken Hajis, was sie in dem Auto getan hätten, hätte der Begleiter Hajis diesen darüber informiert, dass sie Alkohol getrunken hätten. Daraufhin habe Haji ihnen ärgerlich gesagt: „Ihr macht ja alles. Ihr betreut Vertriebene aus Mosul und trinkt Alkohol – das ist nicht der richtige Platz dafür!“ In Reaktion auf die Antwort des Klägers, all dies gehe ihn nichts an, habe ihm der Begleiter Hajis angeherrscht, er solle den Mund halten. Im Anschluss seien beide Personen einfach weggefahren. Sein Freund habe sich seit dem Vorfall nicht mehr getraut, ihn zu besuchen.

Erst später habe er, der Kläger, erfahren, dass Hajis richtiger Name D. E. gewesen sei und es sich bei ihm um eine wichtige Persönlichkeit gehandelt habe. Er sei nicht nur für eine große Moschee verantwortlich, sondern auch unter dem Namen „Sunnitenjäger“ bekannt gewesen. Am 12. März 2015 sei Haji getötet worden. An dem Tag der Beerdigung habe man den gesamten Stadtteil abgesperrt. Am Morgen des 24. April 2015 habe er beim Öffnen einer Schiebetür an der Außenseite seines Hauses festgestellt, dass jemand dort ein großes Bild des verstorbenen Haji angeklebt habe mit dem sinngemäßen Aufdruck: „Die Rache gibt es, wartet ab!“ Er habe das Bild entfernt und mitgenommen. Sodann habe er unverzüglich seine Sachen gepackt und sei mit seiner Frau und den Kindern zu seinen Schwiegereltern gefahren. Er habe sich zuvor in seiner Nachbarschaft umgesehen und festgestellt, dass sich das Bild nur an seiner Haustür befunden habe sowie an derjenigen seines sunnitischen Anwohners mit dem Namen Riad, der beruflich Strom erzeuge. Das Bild habe er zunächst im Kofferraum versteckt, unterwegs dann aber weggeworfen. Am selben Abend habe er einen Anruf von seinem sichtlich nervösen Vater erhalten, der ihm mitgeteilt habe, auf keinen Fall nachhause zu kommen. Näheres habe sein Vater nicht erzählen wollen. Er habe dann seinen Schwiegervater gebeten, nochmals seinen Vater anzurufen und sich zu erkundigen, was konkret passiert sei. Seinem Schwiegervater habe sein Vater dann erzählt, dass Personen erst nach ihm gefragt hätten und dann zum Haus von Riad gegangen seien. Dort hätten sie diesen ebenso getötet wie dessen Neffen, der zufällig an diesem Tag zu Besuch gewesen sei. Er, der Kläger, sei dann zunächst bei seinen Schwiegereltern geblieben und habe sich ernsthafte Gedanken gemacht, ob er das Problem irgendwie lösen könne. Da er auch nicht nach Mosul habe gehen können, habe er sich entschlossen, mit seiner Familie das Land zu verlassen. Weil es zur damaligen Zeit aber viele Unglücke auf dem Mittelmeer gegeben habe, habe er Angst um seine Frau und seine Kinder gehabt und sich infolgedessen entschieden, alleine vorzugehen und seine Familienangehörigen später nachzuholen.

Später habe er erfahren, dass eine andere Person aus einem anderen Stadtteil, bei der man auch ein derartiges Bild an die Tür geklebt habe, ebenfalls getötet worden sei. Verantwortlich hierfür sei die Gruppe Asa'ib Ahl al-Haqq. Diese Gruppe habe nach seiner Ausreise auch häufiger nach ihm, dem Kläger, gefragt. Er könne sich dies nur derart erklären, dass die Gruppierung ihn wegen des Vorfalls vor seinem Haus sowie deshalb verfolgt habe, weil er die Aufnahme seiner Verwandten aus Mosul organisiert, d.h. sich insbesondere bei den Behörden um die Bürgschaften seiner Verwandten gekümmert habe. Ansonsten habe er niemals Kontakt mit der Gruppe gehabt. Es sei Methode dieser Milizen, dass sie (Todes-)Listen von Personen anfertigen, die sie als Unterstützer des IS ansähen. Er, der Kläger, gehe davon aus, dass die Gruppe ihn aus religiösen Gründen verfolgt habe. Zum einen seien seine Familie und er fast die einzigen Sunniten im ganzen Stadtteil gewesen. Seine unmittelbaren Nachbarn seien alle Schiiten. Zum anderen seien in seinem Stadtteil fast alle jungen sunnitischen Männer vertrieben worden. Zum Teil würden die Milizen auch ganze Familien vertreiben, aber gezielt würden sie vor allem gegen junge Männer vorgehen. Seine Eltern würden noch in dem Haus leben; sein Bruder hingegen sei zu seinen Schwiegereltern gezogen.

Des Weiteren ergänzte der Kläger, seine Familie sei im Irak ebenfalls in Gefahr. Im November 2016, d.h. nach seiner Ausreise, habe jemand versucht, seinen Sohn zu entführen. Zunächst habe seine Frau ihm nichts von dem Vorfall erzählen wollen, um ihn nicht zusätzlich zu beunruhigen, aber dann habe sie nicht mehr an sich halten können. An dem Tag des Vorfalls hätten seine Frau und seine Schwägerin seinen Sohn lange Zeit gesucht. Schlussendlich hätten sie ihn unter einem Auto gefunden, wo er sich versteckt habe. Erst zuhause habe er dann erzählt, dass drei Personen in einem gelben Auto ihn mitnehmen wollten, woraufhin er weggelaufen sei. Zunächst habe die Familie gedacht, das Kind habe das Ganze sei nur erfunden, weshalb dessen Großvater, der Vater des Klägers, mit ihm habe sprechen sollen. Daraus habe sich dann ergeben, dass sein Sohn die Wahrheit gesagt habe. Im Falle seiner Rückkehr in den Irak, so der Kläger abschließend, befürchte er, von der vorgenannten Miliz getötet zu werden. Der Kläger legte dem Bundesamt zudem eine Bescheinigung einer freikirchlichen Gemeinde aus April 2017 vor, der zufolge er regelmäßig an einer Stabilisierungsgruppe für traumatisierte Flüchtlinge teilnimmt.

Mit Bescheid vom 7. Juli 2017, dem Kläger zugestellt am 11. Juli 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 2) ab und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 5).

Zur Begründung führte das Bundesamt u.a. aus, dem Kläger sei es nicht gelungen, nachvollziehbar darzustellen, wer gegen ihn Rache ausüben wollte. Zudem habe er nicht dargestellt, worin die vermeintliche Rache überhaupt bestehen oder weshalb ausgerechnet er davon betroffen sein sollte. Auch die Schilderung des Klägers, sein Nachbar sei getötet worden, führe nicht zu der Bewertung, dass es sich bei diesem Vorfall um eine tatsächlich gegen den Kläger zielgerichtete Maßnahme gehandelt hat. Es sei nämlich nicht ersichtlich, dass die nicht näher beschriebene Tötung des Nachbars im Zusammenhang mit dem Bild stehe, welches angeblich der Kläger und sein Nachbar erhalten haben sollen. Insgesamt betrachtet sei aus den Schilderungen des Klägers vielmehr ersichtlich, dass unbekannte Personen mit den Bildern hauptsächlich Angst verbreiten wollten. Dem Kläger und seiner Familie sei bis zu seiner Ausreise nichts passiert. Sein Vorbringen, im November 2016 habe man versucht, sein Kind zu entführen, könne zu keiner anderen Entscheidung führen. Die versuchte Entführung sei auf die im Irak herrschende allgemeine Lage zurückzuführen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 19. Juli 2017 Klage erhoben und zudem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt.

Zur Begründung führt er über seinen Prozessbevollmächtigten aus, die Beklagte beanstande zu Unrecht, dass er nicht dargelegt habe, wer gegen ihn aus welchem Motiv heraus und auf welche Weise Rache nehmen wolle. Hiermit überspanne sie deutlich die an eine schutzsuchende Person zu stellenden Darlegungsanforderungen. Nach den Richtlinien des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) könne einer schutzsuchenden Person gerade keine konkrete Kenntnis über Identität, Motivlagen und Vorgehensweisen der Verfolgungsakteure abverlangt werden. Entscheidend sei das objektive Vorliegen einer Verfolgungsgefahr. Diese sei insbesondere in Anbetracht der engen zeitlichen Zusammenhänge zwischen dem Anbringen der Bilder an den Haustüren und der Tötung des Nachbarn des Klägers gegeben. Soweit die Beklagte hier einen inneren Zusammenhang zur Bedrohung verneine, ignoriere sie auch, dass die Täter vor der Erschießung des Nachbarn explizit nach dem Kläger gefragt hätten.

Das Gericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 17. Mai 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen; dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom selben Tag Prozesskostenhilfe bewilligt.

Mit Schriftsatz vom 21. Juni 2018 legte der Kläger eine Bescheinigung des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V. vor, der zufolge er sich dort in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung befindet und an einer posttraumatischen Belastungsstörung in Remission (ICD-10: 43.1G) leidet. Des Weiteren überreichte der Kläger ein Schreiben der Arabisch-deutschen evangelischen Gemeinde A-Stadt vom 31. Mai 2018. Hierin bescheinigt der Pastor Herr D. E., dass der Kläger seit anderthalb Jahren regelmäßiger Besucher der Gemeinde sei, regelmäßig an arabischen Gottesdienten teilnehme und einen Glaubenskurs der Gemeinde besuche. Sein Tauftermin sei im Juni 2018.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 7. Juli 2017 zu verpflichten,

1 dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen,

4. hilfsweise, über das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Ge-richts neu zu entscheiden.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.

In Bezug auf den Inhalt der informatorischen Anhörung des Klägers wird auf die Sitzungsniederschrift vom 25. Juni 2018 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 25. Juni 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 7. Juli 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Der Kläger war nach Überzeugung des Gerichts vor seiner Ausreise aus dem Irak aufgrund seiner Religion von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische Glaubensüberzeugungen sowie Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner, die sich auf eine entsprechende Überzeugung stützen. Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnli-cher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen einer religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 AsylG vor. Das Gericht ist aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass die schiitische Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH) dem Kläger aufgrund seiner (ehemals) sunnitischen Glaubenszugehörigkeit nach dem Leben trachtete.

Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:

„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“

In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die sunnitische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige schiitische Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten irakischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah Ali al-Husseini al-Sistani, der alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Al-Haschd asch-Schaʿbī, Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (Amnesty International (AI), Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35). Offizielle Statistiken betreffend die Anzahl der Milizen innerhalb der PMF existieren nicht. Medienberichte, die sich auf Schätzungen nicht näher spezifizierter Offizieller berufen, sprechen von 40 bis 50 Milizen. Das irakische Budget des Bundeshaushalts für das Jahr 2016 lässt nach Erkenntnissen von Amnesty International den Rückschluss darauf zu, dass sich zum damaligen Zeitpunkt 110.000 Personen in den PMF befanden; ein Sprecher der PMF nannte im Dezember 2016 eine Zahl von 141.000 affiliierten Kämpfern (AI, a.a.O., S. 9). Im Länderbericht Irak für das Jahr 2017 des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl wird eine Zahl von vierzig bis siebzig (fast ausschließlich schiitischen) Milizen genannt, die schätzungsweise zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen haben (BFA, a.a.O., S. 73):

Die PMF-Milizen stellen im Irak einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik wiederspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 15). Hiermit korrespondierend suchen sie im Einklang mit den fortschreitenden militärischen Erfolgen im Kampf gegen den IS nach neuen Gründen, um ihren weiteren Einsatz auch über das Bestehen einer Fatwa hinaus zu rechtfertigen. Dies betrifft etwa den Schutz Bagdads sowie wichtiger schiitischer Stätten, ferner den Einsatz in den zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebieten im Nordirak. Der Umstand, dass sich die irakischen Streitkräfte auf die Sicherung des westlichen und nördlichen Irak konzentrieren, bietet den PMF-Milizen zudem die Möglichkeit, sich in den ölreichen südlichen Provinzen als lokale Warlords zu etablieren, insbesondere an florierenden Wirtschaftsstandorten wie Basra und Amara (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3).

Das Vorgehen schiitischer PMF-Milizen gegen sunnitische Araber beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 84 f.):

„Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017).“

In Bezug auf die Finanzierung der PMF-Milizen und ihr Wirken im zivilen Sektor hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die folgenden Erkenntnisse fest (BFA, a.a.O. S. 79, S. 83 f.):

„Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat.“

„Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. […] Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).

Offiziell ist nach wie vor das sogenannte „Baghdad Operations Command“ (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017).“

Die PMF- Milizen lassen sich in grob in vier inoffizielle Blöcke einteilen, wobei diese Unterteilung an ihre jeweils ähnlichen Ziele anknüpft, nicht hingegen an formelle Allianzen. Die nicht-schiitischen Milizen bilden den vierten Block und umfassen Sunniten, Yeziden, Christen und andere Minderheiten. Die ersten drei Gruppen bestehen demgegenüber aus schiitischen Milizen (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3). Auch diese sind innerhalb der PMF jedoch nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 97). Den ersten und einflussreichsten Block bilden die pro-iranischen, d.h. vom iranischen Regime etablierten Milizen. Innerhalb dieser Gruppe handelt es sich bei der von Haidi al-Amiri geführten Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization) um die größte und am besten ausgestattete Vereinigung, welche ca. 20.000 Kämpfer umfasst. Andere hier zu verortende Milizen sind ‘Asa’ib Ahl al-Haqq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute oder Chazali-Terrornetzwerk), Kata’ib Hizbullah (Hizbullah Brigades bzw. Hizbullah Brigaden), Saraya al-Khorasani und Harakat al-Nujaba. Hierbei handelt es sich um Gruppierungen, die jeweils der Doktrin des Obersten Religionsführers des Iran (Welāyat-e Faghīh) folgen und politische Ambitionen hegen. Der zweite Block setzt sich aus den Hashd al-Sistani zusammen, d.h. denjenigen Milizen, die im Lager des irakischen Großayatollah al-Sistani stehen (Liwa Ali al-Akbar, Furqat Imam Ali al-Qitaliyah, und Furqat al-Abbas al-Qitaliyah) und dem (früheren) Premierminister Abadi gegenüber loyal sind. Ihre Truppen sind zahlenmäßig schwächer als die pro-iranischen Gegenspieler und setzen sich aus ca. 20.000 Kämpfern zusammen. Ihre Anhänger sind überwiegend durch die Fatwa Sistanis motivierte Freiwillige ohne politischen Ambitionen., die jedoch auf die Unterstützung des irakischen Verteidigungsministeriums zurückgreifen können. Der dritte Block umfasst die Milizen, die den von Ammar al-Hakim geführten Islamic Supreme Council of Iraq (ISIC bzw. SIIC, Oberster Islamischer Rat des Irak (OIRI)) unterstützen, ferner die Anhänger des Predigers Muqtada al-Sadr. Hierbei handelt es sich um einflussreiche politische Fraktionen des Schiitentums mit komplex ausgestalteten Beziehungen zum Iran, welche sich zugleich in loser Gefolgschaft zur irakischen Zentralregierung befinden. Die Pro-Hakim-Milizen umfassen dabei die Gruppen Saraya Ansar al-Aqeeda, Liwa al-Muntathar und Saraya Ashura. Bei der wichtigsten dem Prediger Sadr loyalen Miliz handelt es sich um die Gruppe Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone), ehemals bekannt als Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi (JAM)).

Bei der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Gruppierung Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH) handelt es sich um eine schiitische Miliz, die von Qais al-Khazali als Splittergruppe der Mahdi-Armee im Juli 2006 gegründet wurde. Al-Kzahali, ein ehemaliger Kommandeur der von Muqtada al-Sadr befehligten Mahdi-Armee, wurde von der Iranischen Revolutionsgarde (Iran Revolutionary Guard Corps (IRGC)) im Jahr 2006 rekrutiert und damit beauftragt, eine neue Miliz im Irak zu gründen, die als Stellvertreter des Iran die iranische Agenda sowie dessen Interessen im Irak vertreten sollte. Im Gegenzug erhält AAH massive finanzielle und logistische Unterstützung aus dem Iran sowie eine militärische Ausbildung von Mitgliedern der iranischen Revolutionsgarde, u.a. in Trainingscamps im Iran und im Libanon. (Stanford University, Mapping Militant Organizations: Asa'ib Ahl al-Haq, 24. März 2017, S. 1, 4 der Druckversion). AAH propagiert die Ideale der Iranischen Revolution nach den Vorstellungen der Theokratie Ayatollah Khomeinis, insbesondere die Welāyat-e Faghīh, d.h. die Einführung eines politischen Islam, in dem ein Faqīh, ein juristischer Experte im islamischen Recht, die Vormundschaft über die Gemeinschaft der Gläubigen ausübt. Unter der spirituellen und politischen Lenkung des gegenwärtigen Großayatollahs, Ayatollah Khameini, versucht AAH eine schiitische Regierung im Irak zu errichten und das Recht der Sharia im gesamten Irak zu etablieren. Obgleich es sich bei Qais al-Khazali formal um den Anführer von AAH handelt, wird die Gruppierung von Qasem Soleimani beaufsichtigt, dem Kommandeur der iranischen al-Quds-Einheiten bzw. Qods-Brigaden, einer Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden für exterritoriale Operationen. Ihm wird die Letztverantwortung in Bezug auf die Ziele, Angriffe und Gesamtstrategie von AAH zugeschrieben. AAH, deren Mitgliederzahl im Februar 2014 auf 1.000 bis 5.000 bewaffnete Militante geschätzt wurde, operiert schwerpunktmäßig im (Süd-)Irak und besitzt ein Hauptquartier in Bagdad, wo die Gruppe zwei politische Büros unterhält. Zudem befinden sich zahlreiche Büros der Gruppe im Rest des Irak, darunter in Basra, Hillah und Najaf (Stanford University, a.a.O., S. 4 f.). Mittlerweile expandiert die Organisation jedoch in den gesamten Irak und hat ein lokales aber auf nationaler Ebene verbundenes Netzwerk geschaffen, indem sie erfolgreich Beziehungen zu verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen etabliert hat, beispielsweise durch Entsendung politischer Delegationen zu Treffen mit Anführen von Stämmen und Minderheiten in den Provinzen Dhi Qar, Muthanna und Maysan (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten von Asa'ib Ahl al-Haqq [a-10041], 20. Februar 2017, S. 1 der Durckversion).

Nachdem AAH zunächst im Jahr 2006 im Libanonkrieg gemeinsam mit der Hizbollah gegen Israel gekämpft hatte, verlegte sie sich in den Jahren 2006 bis 2011 auf Angriffe gegen die US-Streitkräfte im Irak und übernahm für über 6.000 Angriffe auf US-Soldaten die Verantwortung. Nach dem Abzug der amerikanischen Truppen im Jahr 2011 verschob die Miliz ihre Aktivitäten vom Guerillakrieg auf das Feld der Politik, ohne jedoch ihr umfangreiches Waffenarsenal preiszugeben. Auf politischer Ebene verlagerte AAH das Image der Gruppierung von einer anti-westlichen Miliz hin zu einer irakisch-nationalistischen Partei mit dem Ziel, einen schiitisch-dominierten Staat zu etablieren, den iranischen Einfluss im Irak zu mehren und soziale Dienstleistungen für die schiitische Bevölkerung bereitzustellen. Ebenfalls im Jahr 2011 errichtete AAH eine politische Zweigstelle im Libanon und trat auf Weisung des Iran hin als Konfliktpartei in den syrischen Bürgerkrieg ein, um das Assad-Regime im Kampf gegen den IS zu unterstützen (Stanford University, a.a.O., S. 2, 5). Obgleich die Gruppierung die US-Streitkräfte während der Besatzungszeit massiv bekämpft hatte, kämpfen Mitglieder von AAH mittlerweile gemeinsam mit US-Streitkräften im Irak gegen den IS. Im Jahr 2015 teilte ein Sprecher der Miliz mit, die Gruppe sei bereit, die Luftschläge sowie die Präsenz von US-Truppen im Irak zu akzeptieren, bleibe jedoch misstrauisch gegenüber den langfristigen Zielen der US-Regierung. Im März 2016 veröffentlichte AAH auf ihrem Fernsehsender Al-Ahd eine Erklärung, sie würde die US-Truppen als feindliche Besatzer ansehen, sofern diese nicht unverzüglich aus dem Irak abzögen (Stanford University, a.a.O., S. 3).

Nach ihrem Eintritt in die Politik erwarb sich AAH zudem schnell den Ruf, der militante militärische Arm der politischen Fraktion des (ehemaligen) schiitischen Premierministers Nouri al-Maliki zu sein und sektiererische Gewalt auszuüben. So wurde die Gruppe in zahlreichen Berichten beschuldigt, in der Zeit von Ende 2013 bis in das Jahr 2014 im Zentralirak sowie im Süden des Landes Mitglieder sunnitischer Stämme, die zu den politischen Gegnern Malikis zählten, exekutiert oder widerrechtlich verhaftet und in geheimen Gefängnissen eingesperrt zu haben, um Maliki eine schiitische Mehrheit in diesen Provinzen zu sichern. Zudem wird die Gruppe im Zeitraum von März bis Juli 2014 für die Tötung von 109 sunnitischen Männern in Bagdad bzw. den Randbezirken der Stadt verantwortlich gemacht (Stanford University, a.a.O., S. 2, 5 f. m.w.N.). AAH werden darüber hinaus in zahlreichen Berichten weitere massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber Sunniten zur Last gelegt, welche die Gruppierung im Zentralirak und im Süden des Landes in Kooperation mit den regulären Sicherheitskräften der irakischen Armee bzw. unter ihrer Duldung verübt haben soll. Diese reichen über Massenhinrichtungen, gewaltsame Vergeltungsmaßnahmen gegenüber der sunnitischen Zivilbevölkerung nach Anschlägen des IS, willkürliche (Massen-)Verhaftungen und Inhaftierungen von Sunniten und mutmaßlichen IS-Unterstützern in geheimen Haftanstalten nach Rückeroberung der vom IS besetzten Gebiete, Zerstörung sunnitischer Dörfer und Vertreibung der Bevölkerung, Einschüchterung von Wählern, Bedrohung von Journalisten sowie Fälle von Verschwindenlassen, Entführungen, Folter und Tötungen, die vornehmlich auf sunnitische Männer und Jungen abzielen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Asa'ib Ahl al-Haqq, insbesondere Verhalten gegenüber sunnitischen MuslimInnen [a-10480-2 (10481)], Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten von Asa'ib Ahl al-Haqq [a-10041], 20. Februar 2017; Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Aktivitäten der Milizen der Asaib Ahl al-Haqq (AAH) seit 2013 bis heute; Übergriffe auf die Zivilbevölkerung [a-10409], 30. November 2017). Dabei sind auch Fälle dokumentiert, in denen AAH nach der rechtswidrigen Tötung männlicher Sunniten Bekennerschreiben am Tatort zurückließ (ACCORD, Aktivitäten von Asa'ib Ahl al-Haqq [a-10041], 20. Februar 2017, S. 6 der Druckversion).

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist überdies in einer Stellungnahme aus April 2018 darauf hin, dass die Vorschriften für die Wohnsitznahme in bestimmten Bezirken Bagdads, insbesondere der Umfang der erforderlichen Dokumente (Bürgschaften, Sicherheitsüberprüfungen etc.) in den unterschiedlichen Stadtvierteln oftmals von den im betreffenden Stadtviertel Verantwortlichen abhängig sind, etwa dem für die Checkpoints der irakischen Sicherheitskräfte zuständigen Mukhtar oder der jeweiligen PMF-Miliz. Selbst wenn alle Voraussetzungen erfüllt seien, sei die Erteilung der Wohnsitzerlaubnis nicht garantiert, sondern läge im Ermessen der zuständigen lokalen Behörde. Die Wohnsitzvorschriften in Bagdad würden in der Regel nach sicherheitsrelevanten Vorfällen strenger angewendet. Oftmals würden Personen sunnitisch-arabischen Hintergrundes für diese Vorfälle verantwortlich gemacht. Dies gelte vor allem dann, wenn sie aus ehemals oder gegenwärtig vom IS besetzten Gebieten stammten, da allein aufgrund dieses Umstandes ihre Sympathie für bzw. Zugehörigkeit zum IS vermutet würde. Infolgedessen stünden sunnitisch-arabische Binnenvertriebene in Bagdad unter erheblichem Druck, in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 6 f.).

Diese Erkenntnisse zur Bedrohung sunnitischer Männer durch schiitische PMF-Milizen sowie zur Behandlung sunnitisch-arabischer Binnenvertriebener in Bagdad finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften und äußerst substantiierten Schilderungen des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass ihn Mitglieder der in Bagdad ansässigen Miliz AAH im Rahmen einer Vergeltungsmaßnahme gegenüber männlichen sunnitischen Einwohnern töten wollten. Dabei war die Gruppe auf den Kläger aufmerksam geworden, weil er für aus Mosul geflohene sunnitische Verwandten Bürgschaftserklärungen gegenüber den städtischen Behörden abgegeben hatte und u.a. aus diesem Anlass heraus in einen verbalen Disput mit dem vorgenannten hochrangigen Offiziellen der Gruppierung geraten war.

Bereits die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts dokumentierte Aussage des Klägers enthielt zahlreiche Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Diesen Eindruck hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vollumfänglich bestätigt. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Wiedergabe von Komplikationen im Handlungsverlauf und zunächst unverstandenen Handlungselementen, unter Beschreibung deliktsspezifischer Merkmale sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung als inhaltlich konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Der Kläger hat insbesondere umfassend dargelegt, für welche Verwandte er Bürgschaften abgegeben habe, welche Formulare hierfür erforderlich gewesen seien und wie sich das entsprechende Registrierungsverfahren über die Zeit durch den örtlichen Wechsel der Registrierungsorte bzw. Kontrollpunkte von Kerbala nach Bagdad geändert habe. Des Weiteren hat er ausführlich erläutert, wie er mit der als Haji bezeichneten Person infolge der Bürgschaften in Konflikt geraten sei; ferner, wie er nachträglich von Freunden erfahren habe, dass der Betreffende in der Moschee Al-Hosseiniya bzw. in dem dort befindlichen militärischen AAH-Stützpunkt Ansar Ahel Al-Qaim Leiter der militärischen Abteilung gewesen sei, schließlich, wie er erfahren habe, dass jener auf dem Rückweg von Samaraa nach Bagdad getötet worden sei. Nicht zuletzt hat er in einem außergewöhnlichen Detailreichtum den Tag beschrieben, an dem er das Plakat mit dem Konterfei des Getöteten an seiner Haustür und an derjenigen eines sunnitischen Anwohners entdeckt habe, der nach Auskunft seines Vaters noch am selben Tag gemeinsam mit seinem Neffen von Mitgliedern des AAH getötet worden sei, nachdem sich diese zuvor bei seinen Eltern auch nach ihm persönlich erkundigt hätten.

Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen wurde der Kläger von den Angehörigen der Miliz AAH im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Abs. 3 AsylG verfolgt, d.h. mit dem Tode bedroht und aus dem eigenen Heim vertrieben. Anknüpfungspunkt der Verfolgung bildete dabei der Umstand, dass er zum Zeitpunkt der Verfolgungshandlung sunnitischen Glaubens war (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG), wobei die Mitglieder Miliz ihn aufgrund dieser Glaubenszugehörigkeit sowie des Bürgens für sunnitische Binnenvertriebene aus Mosul als IS-Sympathisanten einstuften, jedenfalls aber als männliches Mitglied der örtlichen sunnitischen Bevölkerung, an dem nach der Ermordung eines hochrangigen Miliz-Offiziellen ein Exempel zu statuieren war.

Soweit der zuständige Entscheider im angegriffenen Bescheid ausführt, es sei nicht ersichtlich, dass der Kläger individuell bedroht gewesen sei, weil keinerlei Zusammenhang zu dem bei seinem getöteten Nachbarn angebrachten Bild bestehe, vielmehr hätten unbekannte Personen lediglich Angst verbreiten wollen, so ist diese Würdigung des festgestellten Sachverhalts in einer derartigen Weise konstruiert und lebensfremd, dass sie die Grenze zur Willkür überschreitet. Im Übrigen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft allein auf das objektive Verfolgungsgefahr abzustellen ist, wohin einer schutzsuchenden Person regelmäßig keine genaue Kenntnis über Identität und Motivlagen der Verfolgungsakteure oder deren genaue Vorgehensweisen abverlangt werden kann (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 2011, S. 18).

Die dem Kläger drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Partei-en oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Bei AAH handelt es sich um eine staatliche Organisation im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG. Zum Staat im Sinne dieser Vorschrift rechnen alle seine Organe im weite-ren Sinne (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3c AsylG, Rn. 4). Für die Zurechnung zur staatlichen Sphäre ist es dabei ausreichend, dass sich der Staat der betreffenden Personen oder Gruppierung zur Herrschaftsausübung bedient (Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: November 2017, § 3c AsylG, Rn. 2). Eine asylrechtlich relevante Verantwortlichkeit des Staates für Verfolgungsmaßnahmen (privater) Dritter ist ferner nicht nur in dem Fall anzunehmen, in dem diese Verfolgungsmaßnahmen auf Anregung des Staates zurückgehen oder doch dessen Unterstützung oder einvernehmliche Duldung genießen, wie z. B. bei faktischer Einheit von Staat, Staatspartei oder Staatsreligion. Übergriffe sind vielmehr auch dann einem Staat zurechenbar, wenn der an sich schutzwillige Staat zur Verhinderung von Verfolgungsmaßnahmen prinzipiell und auf gewisse Dauer außerstande ist, weil er das Gesetz des Handelns an andere Kräfte verloren hat und seine staatlichen Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen nicht mehr durchzusetzen vermag (Bergmann, a.a.O., Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 22. 04.1986 – 9 C 318/85 -, NVwZ 1986, S. 928 f. [BVerwG 22.04.1986 - BVerwG 9 C 318.85 u.a.], LS 3). So liegt es hier. Der irakische Staat bedient sich AAH zur Herrschaftsausübung, weil er sie unter dem Dachverband der PMF in die offizielle Struktur der irakischen Sicherheitskräfte eingegliedert hat und sie überdies finanziell sowie mit Waffen unterstützt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70).

AAH ist wie die übrigen PMF-Milizen mittlerweile eng mit dem irakischen Staat verknüpft. Amnesty International weist darauf hin, dass Angehörige der PMF-Milizen Militäruniformen tragen, zum Teil unabhängig von, zum Teil auch gemeinsam mit den regulären Regierungstruppen im Gefecht und an Checkpoints agieren und zudem die Stützpunkte und Haftzentren der regulären Truppen nutzen (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.). Auch das Auswärtige Amt erklärt in seinem Lagebericht zum Irak aus Februar 2017, durch die staatliche Akzeptanz, teilweise Führung und Bezahlung der Milizen der PMF verschwimme die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 15).

Sämtliche der PMF zugeordneten Milizen genossen seit der Gründung des Dachverbandes starke Unterstützung durch die irakische Regierung. Am 19. Juni 2014 erließ der damalige irakische Premierminister Nouri al-Maliki eine Anweisung, PMF-Freiwilligen ein staatliches Gehalt zu zahlen und sie im Falle ihrer Verwundung oder ihres Todes den Angehörigen des Innen- und Verteidigungsministeriums gleichzustellen. Am 30. September 2014 verfügte darüber hinaus der irakische Ministerrat, die PMF-Milizen mit Waffen und anderem militärischen Equipment auszustatten. Im November 2014 wies der Generalsekretär des Kabinetts dem Verteidigungsministerium Haushaltsmittel für die Gehälter der PMF-Kämpfer zu. Das Budget des zentralirakischen Haushalts stellte den PMF im Jahr 2016 nahezu 1,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung und räumte dem Finanzministerium die Berechtigung ein, weitere 2 Milliarden US-Dollar zum Zwecke der Waffenbeschaffung und des Anlagenbaus an das Ministerium der Verteidigung, des Inneren und die PMF zu überweisen. Zudem gründete der Ministerrat im Jahr 2014 die Volksmobilisierungskommission (Popular Mobilization Commission (PMC)), die für die Verwaltung der PMF zuständig ist (AI, Iraq: Turning a blind eye. The arming of the Popular Mobilization Units, S. 9). Im Februar 2016 erließ der irakische Premierminister des Weiteren eine Verfügung, welche den PMF den Status einer „unabhängigen militärischen Formation, Teil der irakischen Streitkräfte und angekoppelt an den obersten Befehlshaber der Streitkräfte“, verlieh. Zudem spezifizierte die Verfügung, dass die PMF der Militärgesetzgebung unterliegen und verlieh ihnen eine ähnliche Organisationsstruktur wie die Iraqi Counter Terrorism Force, welche sowohl vom Verteidigungs- als auch vom Innenministerium unabhängig ist. Diese Verfügung setzte das irakische Parlament am 26. November 2016 vollumfänglich in ein Gesetz betreffend die Volksmobilisierungseinheiten um, welches am 26. Dezember 2016 in Kraft trat. Zusätzlich sah das Gesetz vor, dass der Einsatz der PMF-Milizen an spezifischen Orten der Autorität des Oberbefehlshabers der Streitkräfte unterliegt und das Parlament der Ernennung von Führungsoffizieren der PMF oberhalb eines bestimmten Ranges zustimmen muss (AI, a.a.O., S. 14).

Darüber hinaus nimmt der irakische Staat das (kriminelle) Handeln von Mitgliedern der AAH tatenlos zur Kenntnis. Die tatsächliche Möglichkeit des irakischen Staates, über Befehle und Weisungen auf die PMF Einfluss zu nehmen, beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 78):

„Obwohl das Milizenbündnis unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die Volksmobilisierung dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Ministerpräsidenten als Oberkommandierendem unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. […] Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert […].“

An anderer Stelle heißt es zu den Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf die PMF in noch deutlicheren Worten (BFA, a.a.O., S. 35, 108):

„Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt.“

„Den staatlichen Stellen ist es nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen, insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dies geht einher mit Repressionen, mitunter auch Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession. Minderheiten geraten oft zwischen die Fronten (AA 7.2.2017).“

Auch Amnesty International hebt hervor, dass Angehörige der PMF-Milizen nicht der Befehlsgewalt der regulären Truppen unterstellt sind. Die Milizen schienen vielmehr über größere Autorität und Schlagkraft vor Ort zu verfügen als die mitgenommenen Regierungstruppen, die als schwach und ineffektiv gälten (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.). Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist zudem die irakische Polizei nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen seien hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 9; BFA, a.a.O., S. 70). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23). Mutmaßliche Rechtsverletzungen schiitischer Milizen vermag die Polizei nicht zu ahnden. Führungskräfte der Polizei sind in Bagdad überdies gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befinden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Diese Befunden gelten auch für die Aktivitäten von AAH (siehe im Einzelnen: ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Asa'ib Ahl al-Haqq, insbesondere Verhalten gegenüber sunnitischen MuslimInnen [a-10480-2 (10481)], Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten von Asa'ib Ahl al-Haqq [a-10041], 20. Februar 2017; Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Aktivitäten der Milizen der Asaib Ahl al-Haqq (AAH) seit 2013 bis heute; Übergriffe auf die Zivilbevölkerung [a-10409], 30. November 2017; jeweils m.w.N.).

Ausgehend von ihrer zahlenmäßigen Größe und ihrem Wirkungsgrad im Südirak handelt es sich bei AAH selbst bei einer abweichenden Betrachtungsweise zu § 3c Nr. 1 AsylG jedenfalls um eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht (§ 3c Nr. 2 Var. 2 AsylG). Der Kläger könnte sich schließlich auch dann nicht auf wirksamen staatlichen Schutz berufen, sofern man die ihm drohende Verfolgung durch AAH als eine Verfolgung von sonstigen nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG einstufen würde. Der irakische Staat sowie die in § 3c Nr. 2 AsylG genannten Akteure sind nämlich, wie dargestellt, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung durch Angehörige der PMF zu bieten.

Schließlich scheitert die Annahme einer Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie nicht daran, dass sich der Kläger nach dem Vorfall im April 2015 noch bis zu seiner Ausreise im Juli 2015 bei seinen Schwiegereltern versteckt hielt. Dieser zeitliche Abstand führt nicht dazu, dass sich annehmen ließe, der Kläger sei nicht mehr aufgrund der Verfolgung ausgereist. Entgegen der Annahme des Bundesamts lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger in dieser Zeit vor der einflussreichen Miliz AAH in Sicherheit gewesen wäre, weil seine Schwiegereltern in derselben Stadt wohnen, nach substantiierter Ausführung des Klägers in der mündlichen Verhandlung je nach Verkehrslage 10 bis 20 Minuten Fahrtzeit mit dem Auto von seinem Haus entfernt. Des Weiteren hat der Kläger glaubhaft dargelegt, dass er nur deshalb mit der Ausreise gewartet habe, weil er zunächst über inländische Fluchtalternativen nachgedacht und zusätzlich erfolglos versucht habe, über seinen Vater, einen ehemaligen Brigadegeneral bei der Luftwaffe Saddam Husseins, Kontakt mit jemandem aufzunehmen, der eine höhere Position als die Miliz AAH habe und ggf. in dem Konflikt vermitteln könne.

Es sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht wird. Bei der Beurteilung der Frage, ob stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung sprechen, sind insbesondere die Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen und das Ausmaß der drohenden Gefahr zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19; Nds. OVG, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 30). Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A - juris Rn. 38). In Anwendung dieses rechtlichen Maßstabs liegen derzeit keine stichhaltigen Gründe vor, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak nicht mehr Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein würde, die an seine (ehemals) sunnitische Glaubenszugehörigkeit anknüpfen.

Die Vermutung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak erneut verfolgt wird, ist bereits deshalb nicht widerlegt, weil AAH ausweislich der vorliegenden Erkenntnismittel seit der Ausreise des Klägers ihre Machtposition im Irak massiv ausgebaut hat. Des Weiteren besteht gegenüber der Vorverfolgungsvermutung sogar eine gesteigerte beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut verfolgt würde, weil er nach seinem glaubhaften persönlichen Bekenntnis in der mündlichen Verhandlung mittlerweile zum christlichen Glauben konvertiert ist. Diesbezüglich hat der Kläger, der von seinem Pastor in die mündliche Verhandlung begleitet wurde und dessen Taufe nur wenige Tage bevorstand, nicht nur Nachweise über sein umfangreiches und langjähriges Engagement in seiner Kirchengemeinde vorgelegt. Er hat vielmehr auch in prägnanter und überzeugender Form dargetan, aufgrund seiner langjährigen Leidensgeschichte in einem streng islamisch geprägten Land ein immer stärkeres Interesse für den christlichen Glauben entwickelt zu haben, wobei er insbesondere nach der Genesung seines Sohnes von einer schweren Erkrankung eine enge persönliche Gottesbindung entwickelt habe mit dem dauerhaften, ernsthaften Bedürfnis, ein zentral christlich geprägtes Leben zu führen.

Nach irakischem Recht besteht dabei keine ausdrückliche Strafandrohung für Menschen, die vom islamischen Glauben abfallen. Die Verfassung erklärt einerseits den Islam als die offizielle Religion und legt fest, dass kein Gesetz beschlossen werden darf, das den „bestehenden Vorschriften des Islam“ widerspricht, andererseits gewährt sie das Recht auf Religionsfreiheit für Muslime, Christen, Jesiden, und Saebäer/Mandäer. Ein vom Islam abkehrender Religionswechsel wird jedoch rechtlich nicht anerkannt, so das beispielsweise auf der Identitätskarte einer (zum Christentum) konvertierten Person auch nach deren Konversion noch steht, dass sie/er Muslimin/Muslim ist (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 125 f.; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20. Mai 2016 zu Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 1). Feindseligkeiten gegenüber Konvertiten oder Atheisten sind im Irak darüber hinaus weit verbreitet. Gefahren gehen zum Teil durch Mitarbeiter staatlicher Behörden aus, vor allem aber durch private Dritte, insbesondere religiöse Milizen, welche die im Irak bestehenden Strafgesetze zu Lasten von Atheisten oder Konvertiten auslegen (siehe ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 5 der Druckversion). Iraks Muslime sind überdies nach wie vor der Scharia untergeordnet, d.h. dem islamischen Recht, welches Apostasie bzw. den Abfall vom islamischen Glauben verbietet. Menschen, die den islamischen Glauben ablegen wollen, sind auf dieser Basis oft ernsthafter Verfolgung durch die Gesellschaft ausgesetzt, oftmals Familienangehörigen/Bekannten, die bis hin zu tödlicher Gewalt reichen kann (BFA, a.a.O., S. 125 f. m.w.N.). Ein im April 2007 verfasstes Gutachten des German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Institut für Nahost-Studien, erläutert dieses religiös-dogmatische Begriffsverständnis eines mit dem Tode zu ahndenden Abfalls vom Islam wie folgt (GIGA, Stellungnahme vom 2. April 2007 an das Verwaltungsgericht Aachen im Verfahren 4 K 605/05.A). Hierzu führt das Gutachten aus (GIGA, a.a.O., S. 6, 1-4):

„Die individuelle Entscheidung für eine andere Religion ist nach dem eigentlichen Bedeutungsgehalt des Abfalls vom Islam überhaupt nicht von diesem Begriff erfasst, denn das gibt es eigentlich nach den dortigen Vorstellungen nicht, ein Muslim kann nicht individuell über seine Glaubenszugehörigkeit disponieren, da diese eben auch einer „Nationalität“ und einer Zugehörigkeit zu einem Staat entspricht, deshalb sind für solche Vorstellungen eigentlich auch nach dem „Recht der Shariah“ kein Raum.“

„Im Islam gibt es keine Trennung zwischen Staats- und Glaubensgemeinschaft. Der Muslim ist qua definitionem nicht nur Mitglied der Gemeinschaft der Gläubigen, sondern, als solcher, auch Mitglied der dieser Gemeinschaft entsprechenden „Staatsbevölkerung“. Der Islam geht – gedanklich – davon aus, dass die Gemeinschaft der Gläubigen in dem von ihr dominierten Gebiet auch die Staatsgewalt innehat. Das folgt aus den geschichtlichen Anfängen des Islams, in welcher mit der Ausbreitung der Religion automatisch auch die territorial-staatspolitische Ausbreitung einherging. […] Ihrem Wesen und ihrer geschichtlichen Herkunft nach, ist daher die Strafbarkeit des Abfalls vom Islam gleichbedeutend mit dem politischen Hochverrat, und das ist auch der Grund dafür, dass etwa in einem Land, das sehr auf die Übereinstimmung des staatlich kodifizierten Strafrechtes mit dem islamischen Recht bedacht ist, wie etwa der Iran, der Abfall vom Islam als solcher keine Regelung im dort geltenden Strafrecht gefunden hat (vgl. zur Bedeutung: Halim et. Al. Criminal Justice in Islam, S. 42 ff.). Auch die nach den religiösrechtlichen Vorstellungen vorgesehene Todesstrafe für den Abfall vom Islam hat ihren Grund in diesem eigentlichen Bedeutungsinhalt des „Abfalls vom Islam“, der eben zur gedanklich-geistigen Voraussetzung hat, dass jemand nicht allein seinen Glauben aufgibt, sondern dass er sich als Gläubiger, und deshalb Angehöriger sowohl einer „islamischen Nation als auch des islamischen Staates“ seiner Loyalitätspflichten entschlägt, und in ein anderes Lager übergeht.“

Zugleich betont das Gutachten, wie stark die Bejahung eines mit dem Tode zu ahndenden Abfalls vom Islam im konkreten Fall vom Begriffsverständnis des jeweiligen religiösen Akteurs abhängt (GIGA, a.a.O., S. 4-6):

„Die heutigen Fundamentalisten und gewalttätigen oder gewaltbereiten Fanatiker schert naturgemäß auch der politisch-geschichtliche Kontext nicht, für sie ist jeder, der den Islam verlässt, ein Abtrünniger und, nach der religiös-rechtlichen Vorgabe mit dem Tode zu bestrafen […]. Dies bedeutet, dass es hier darauf ankommt, wer für sich in Anspruch nimmt, das „Recht der Shariah“ auf den Kläger anzuwenden: Unter „Taliban-Umständen“, also vor dem Hintergrund der Herrschaftsausübung äußerst düster und verbohrt denkender Fundamentalisten, die normalerweise über die nötigen Rechtskenntnisse gar nicht verfügen, würde ein solcher „reiner Religionsabfall“ ausreichen (können). Normalerweise wäre freilich zu verlangen, dass der Abfall von der Religion auch eine Stoßrichtung gegen die Gemeinschaft der Gläubigen hat, der typische Tabubruch ist insoweit die Mission, die in allen islamischen Ländern strikt verboten ist. Wer also etwa versucht, andere zum Abfall vom Islam und zur Annahme eines neuen Glaubens zu bewegen […], der würde nach dortiger Vorstellung daran mithelfen, die Gemeinschaft der Gläubigen zu verkleinern und damit einen Angriff gegen diese Gemeinschaft richten, und das könnte dann schon eher zu einer Todeswürdigkeit des Abfalls vom Islam passen. Ebenso der Abgefallene, der seinerseits dann seinen „neuen Glauben“ weiterverbreiten will, oder der sich aus religiös motivierten Gründen gegen die Glaubens-/Staatsgemeinschaft wendet.“

Auf Basis dieser Erkenntnismittel besteht eine nochmals gesteigerte beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Kläger, im Falle einer Rückkehr in den Irak von Mitgliedern von AAH verfolgt zu werden, weil diese sich den Vorstellungen der Theokratie des Iran verpflichtet sehen, in dem der Abfall vom Islam durch Konversion zum Christentum mit dem Tode geahndet werden kann (vgl. VG Augsburg, Urteil v. 19.09.2016 – Au 5 K 16.30957 -, juris Rn. 32 m.w.N.).

Dem Kläger und seiner Familie steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr überdies kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dazu heißt es im Urteil vom 26. Oktober 2017 (6 A 9126/17):

„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn Personen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu diesen Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Karbala. Die Sicherheitsüberprüfungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden.

Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.

Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“

Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweis-beschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass im Fall des Klägers besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, seine Lage könne von der vorgenannten Situation abweichen. Insbesondere bietet sich für den Kläger in Anbetracht der weiterhin von AAH ausgehenden Bedrohung keine für die Gesamtfamilie zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad. Die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).

Schließlich kann der Kläger nicht in zumutbarer Form darauf verwiesen werden, in Mosul seinen Wohnsitz zu nehmen bzw. bei dortigen Verwandten unterzukommen. Zum einen wurde Mosul im Zuge der Rückeroberung vom IS weitestgehend zerstört. Zwischen Oktober 2016 und Juni 2017 flohen über 800.000 Menschen zwangsweise aus der Stadt. Hiervon waren im Juni 2017 ca. 380.000 Personen noch nicht zurückgekehrt, von denen sich ca. 215.000 in offiziellen Flüchtlingscamps aufhielten (Rise-Foundation, Post-ISIS Mosul Context Analysis, Juli 2017, S. 2). In Anbetracht der signifikant höheren Zerstörung West-Mosuls wird geschätzt, dass die Rückkehr der dortigen Bevölkerung noch deutlich länger dauern wird (GPPI, Report: Mosul, 21. August 2017, S. 8 der Druckversion). Zum anderen würde dem Kläger in der Stadt weiterhin Verfolgung durch Mitglieder der AAH drohen. Gegenwärtig bestehen in der Stadt massiven Spannungen bezüglich des Verbleibs von Familien, deren Mitglieder (zu Recht oder zu Unrecht) dem Umfeld des IS zugeschrieben werden (siehe hierzu Urteil des Einzelrichters vom 7. Juni 2018 – 6 A 7652/16 -, n.v., S. 11 ff. m.w.N.). Viele Iraker sehen die Einwohner Mosuls als willfährige Kollaborateure der Organisation während ihrer dreijährigen Herrschaft über die Stadt (The Independent, Artikel vom 13. Juli 2017, „Mosul’s Sunni residents face mass persecution als Isis ‘collaborators‘“, S. 1, 4). In der Stadt operieren zahlreiche lokale, hybride und sub-staatliche Sicherheitskräfte („Local, hybrid and sub-state security forces“ (LHSF), GPPI, a.a.O., S. 10). Offiziell sind PMF-Milizen nicht im Stadtgebiet von Mosul präsent und hatten weder eine Funktion bei der Befreiung noch bei der Absicherung der Stadt. Inoffiziell waren diese Truppen jedoch in beiden Bereichen gleichermaßen aktiv, vorwiegend durch Ad-hoc-Kooperationen mit den regulären ISF-Kräften sowie über lokale Gruppen, die loyal zu den PMF sind. Des Weiteren waren PMF-Milizen bei der Einnahme der Mosul umgrenzenden Siedlungen beteiligt, etwa im Süden von Mosul, wobei eine signifikante Anzahl von Stützpunkten westlich der Stadt errichtet wurde. Angesichts der geringen örtlichen Distanz und dem generellen Mangel rechtsstaatlicher Strukturen ist es für diese Gruppen einfach, in Mosul Ein- und Ausgang zu erhalten. Nach Auskunft eines hochrangigen irakischen Militärs ändere die Weisung an die PMF-Milizen, Mosul nicht zu betreten, auch nichts daran, dass diese Truppen sich in letzter Konsequenz ausschließlich der eigenen militärischen Führung unterordneten und regelmäßig Anweisungen der irakischen Armee in Bezug auf ihren Einsatzort missachteten (GPPI, a.a.O., S. 12 f. der Druckversion). Männer und Jugendliche, die wegen eines mutmaßlichen Bezuges zum IS von irakischen Sicherheitskräften verhaftet werden, werden dabei oftmals Opfer einer Strategie des „Verschwindenlassens“ bzw. „erzwungenen Verschwindens“ („enforced disappearances“). Die Sicherheitskräfte leugnen in diesen Fällen gegenüber den Angehörigen, die betreffende Person in Gewahrsam zu haben oder geben keine Auskunft über deren Aufenthaltsort, womit ein Verlust gerichtlichen Rechtsschutzes einhergeht (AI, The Condemned. Women and Children isolated, trapped and exploited, 2018, S. 16). Die von den Autoritäten verwendeten Screening-Methoden sehen sich dabei erheblichen Bedenken bezüglich einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung ausgesetzt und ermangeln grundlegende Sicherungsmechanismen, um Misshandlungen vorzubeugen. Eine gerichtliche Kontrolle findet nicht statt; Zugang zu einem Rechtsbeistand wird nicht gewährt (AI, a.a.O., S. 17). Bei den Verhören kommt es zudem oftmals zu Misshandlungen oder Foltermaßnahmen gegenüber den Verdächtigen, unabhängig davon, ob sich der Verdacht einer IS-Zugehörigkeit letztendlich bewahrheitet (The Guardian, Artikel vom 21. November 2017, „After the liberation of Mosul, an orgy of killing, S. 14 f.). Eine Einstufung als IS-Sympathisant erfolgt anhand einer Vielzahl, sich überlappender Faktoren, primär jedoch anhand der Frage, ob der Name des Betroffenen auf einer der zahlreichen datenbankbasierten Fahndungslisten auftaucht. Diese Fahndungslisten wurden seit dem Jahr 2014 von den verschiedenen Sicherheitsbehörden erstellt und gründen sich größtenteils auf öffentlich zugängliche Informationen über IS-Mitglieder, ferner auf Erkenntnisse, die von Informanten oder Mitgliedern der örtlichen Gemeinschaften vermittelt wurden (AI, a.a.O., S. 17; HRW, Flawed Justice, 5. Dezember 2017, S. 16 der Druckversion). Dieses Risiko, als IS-Sympathisant eingestuft zu werden, betrifft auch den Kläger, weil aufgrund der aus der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass er nach den Vorfällen im Januar bzw. April 2015 auf einer der Namenslisten der AAH als IS-Sympathisant geführt wird.

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.