Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 12.11.2018, Az.: 6 A 6923/16
Popular Mobilisation Forces; PMF; Irak
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 12.11.2018
- Aktenzeichen
- 6 A 6923/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 74377
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Bei den Milizen der al-Haschd asch-Scha?bi/Popular Mobilisation Forces (PMF) handelt
es sich um staatliche Organisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG.
2. Gegen eine Verfolgung durch Angehörige einer PMF-Miliz besteht im Irak im Übrigen kein wirksamer Schutz gemäß § 3d Abs. 1 AsylG.
3. Im Falle einer Verfolgung von Sunniten durch eine schiitische PMF-Miliz besteht innerhalb von Bagdad regelmäßig keine innerstädtische Fluchtalternative nach § 3e AsylG.
Tenor:
1. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. November 2016 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Tatbestand:
Die Kläger, irakische Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Sie reisten eigenen Angaben zufolge am 9. August 2015 aus dem Irak aus und am 21. August 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellten sie in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Asylanträge, die sie in ihrer späteren Anhörung auf die Anträge auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes beschränkten. In ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 7. März 2016 gaben die Kläger zu 1. und 2. an, sie und ihre Kinder hätten den Irak verlassen, da schiitische Milizionäre die Familie mit dem Tod bedroht hätten.
Der Kläger zu 1. erklärte zu seinen persönlichen Verhältnissen, bis zu seiner Ausreise habe er in Bagdad im Stadtteil Al-Ridwaniyah gelebt. Im Irak hielten sich noch seine Eltern, seine zwei Schwestern und sein Bruder auf. Er selbst habe die Mittelschule in Bagdad bis 1997 besucht. Im Anschluss habe er als angestellter Taxifahrer gearbeitet. Zu den Gründen seiner Flucht erklärte der Kläger, alles habe damit begonnen, dass er seine Mutter, die an Schilddrüsenkrebs leide, ca. drei bis vier Monate vor seiner Ausreise wegen Komplikationen bei der Behandlung eilig ins Krankenhaus habe fahren müssen. Als er auf dem Weg nachhause gewesen sei, um seine Mutter abzuholen, habe er es sehrt eilig gehabt und versucht, eine aus drei Fahrzeugen bestehende Kolonne zu überholen. Diese hätten ihn jedoch daran gehindert, indem sie mal schneller, mal langsamer gefahren seien. Als er auf der Höhe der Fahrzeuge gewesen sei, habe ihm einer der Insassen mit einem Handzeichen zu verstehen gegeben, anzuhalten. Aus Sorge um seine Mutter, die im schlimmsten Fall Atemprobleme bekommen könne, habe er das Fahrzeug dennoch versucht zu überholen. Daraufhin habe jemand zwei Schüsse in Richtung seines Fahrzeugs abgegeben. Als eines der Fahrzeuge vor ihn gefahren sei, habe er anhalten und aussteigen müssen. Die Insassen hätten ihn mit Waffen bedroht und ihm vorgeworfen, sie verfolgt zu haben. Er habe versucht, ihnen zu verdeutlichen, dass er unter massivem Zeitdruck stehe. Im Laufe des Gesprächs habe er gehört, dass jemand von innen gegen den Kofferraum eines der Fahrzeuge geklopft habe, wobei er im Nachhinein vermute, dass es sich um ein Entführungsopfer gehandelt habe. Nach zehn Minuten habe er weiterfahren dürfen. Ein Fahrzeug habe ihn jedoch die ganze Zeit verfolgt, d.h. über eine Strecke über sechs bis acht Kilometer hinweg. Nachdem er mit seiner Mutter wieder vom Krankenhaus zurückgefahren sei, habe er auf dem Weg in seinen Stadtteil drei Kontrollpunkte überqueren müssen. Beim ersten Kontrollpunkt habe er eine der Personen wiedererkannt, die ihn zuvor angehalten habe. Er gehe davon aus, dass es sich bei den Betreffenden um Angehörige einer Miliz gehandelt habe. Danach hätten die Schikanen begonnen. Wenn er unterwegs gewesen sei, hätten ihn Personen an Kontrollpunkten mehrmals gezwungen, eine Stunde und länger an einem Kontrollpunkt zu warten. Hierbei habe es sich seiner Einschätzung nach zum Teil um Personen gehandelt, mit denen er bei seiner Autofahrt aneinandergeraten sei. Diese hätten die ebenfalls anwesenden Polizisten aufgefordert, ihn zu kontrollieren. Zudem hätten sie ihm mehrmals vorgeworfen, dass er aus dem Stamm Al-Dulemi komme und zu den „Yazid ibn Muawiya“ gehöre. Außerdem hätten Männer bei ihnen Hausdurchsuchungen durchgeführt. Ob es zum Teil dieselben Männer wie vom Kontrollpunkt gewesen seien, wisse er nicht, weil die Betreffenden maskiert gewesen seien, gehe jedoch davon aus. Meistens seien sie in Zivil gewesen, zum Teil hätten sie Militäruniformen getragen. Die Männer hätten ihn und seine Frau schlecht behandelt und seine Frau zur Seite genommen, um sie zu befragen. Er habe überlegt, das Land zu verlassen, sei aber aus Rücksicht auf seine Mutter geblieben. Als er eines Tages von zuhause auf dem Weg zur Arbeit gewesen sei, habe er einen Drohbrief gefunden, den jemand unter seiner Tür durchgeschoben habe. Diesen legte der Kläger in Kopie vor und teilte mit, das Original befinde sich bei seiner Mutter im Irak. Das vom 7. August 2015 datierende und mit „Milizen der Hezbollah“ unterzeichnete Schreiben richtete sich an den Kläger und forderte ihn auf, innerhalb von drei Tagen den Stadtteil bzw. das Land zu verlassen, andernfalls werde man ihn töten. Der Kläger ergänzt des Weiteren, er habe an zwei Familien aus seinem Stadtteil gedacht, die getötet worden seien, ohne dass die Polizei die Täter verfolgt habe, und sei deshalb unverzüglich ausgereist. Zur Polizei habe er nicht gehen wollen, weil niemand im Irak der Polizei in solchen Angelegenheiten vertraue.
Die Klägerin zu 2. gab zu ihren persönlichen Verhältnissen an, sie habe die Mittelschule abgeschlossen und sei danach Hausfrau gewesen. Sie ergänzte den Vortrag ihres Mannes dahingehend, die Männer hätten ihren Mann an Kontrollpunkten geschlagen und sie beide als Sunniten beschimpft. Zudem seien sie zu Ihnen nach Hause gekommen, hätten sie voneinander getrennt und bedroht. Ursprünglich hätten sie nicht ausreisen wollen, aber dann seien zwei Familien aus ihrem Stadtteil getötet worden. In einem Fall hätten die Täter die Familienangehörigen geköpft. Diese Familie sei wie viele andere Familien aus dem Stadtteil zuvor bedroht worden.
Mit Bescheid vom 10. November 2016 erkannte das Bundesamt den Klägern weder die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) noch den subsidiären Schutzstatus (Nr. 2) zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 3). Zudem drohte es die Abschiebung der Kläger in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte es aus u.a., eine Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungsmerkmal sei nicht zu erkennen. Die Glaubhaftigkeit des Vorbringens, so der mit dem anhörenden Mitarbeiter nicht personenidentische Entscheider, sei fraglich, zumal das vorgelegte Schreiben nahezu unversehrt sei. Im Übrigen seien die Kläger nicht zur Polizei gegangen. Auf den ausdrücklich protokollierten Vortrag des Klägers, dass es sich beim vorgelegten Schreiben lediglich um eine Kopie handele, ging der zuständige Entscheider nicht ein.
Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 22. November 2016 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholen und vertiefen sie ihr bisheriges Vorbringen.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 10. November 2016 zu verpflichten,
1. den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
2. hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
3. hilfsweise, die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG zugunsten der Kläger festzustellen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. In Bezug auf die informatorische Anhörung des Klägers zu 1. wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 12. November 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
1.
Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 10. November 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt sie in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).
Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs erfüllen die Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr in den Irak aus individuellen, an ihre Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung der Kläger sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.
Den Klägern kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihnen (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Die Kläger waren nach Überzeugung des Gerichts vor ihrer Ausreise aus dem Irak aufgrund ihrer Religion von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion dabei insbesondere theistische, nichttheistische und – so wie im vorliegenden Fall in Rede stehend – atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten schließlich gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss dabei zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7).
Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle der Kläger die Voraussetzungen einer religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 AsylG vor. Das Gericht ist aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass schiitische Milizionäre die Kläger aufgrund ihrer Konfession mit dem Tode bedrohten, mit willkürlichen Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen überzogen und diese schließlich aus ihrem Haus bzw. ihrem Stadtteil vertrieben.
Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:
„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“
In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die sunnitische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige schiitische Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten irakischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah Ali al-Husseini al-Sistani, der alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Al-Haschd asch-Schaʿbī, Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (Amnesty International (AI), Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35). Offizielle Statistiken betreffend die Anzahl der Milizen innerhalb der PMF existieren nicht. Medienberichte, die sich auf Schätzungen nicht näher spezifizierter Offizieller berufen, sprechen von 40 bis 50 Milizen. Das irakische Budget des Bundeshaushalts für das Jahr 2016 lässt nach Erkenntnissen von Amnesty International den Rückschluss darauf zu, dass sich zum damaligen Zeitpunkt 110.000 Personen in den PMF befanden; ein Sprecher der PMF nannte im Dezember 2016 eine Zahl von 141.000 affiliierten Kämpfern (AI, a.a.O., S. 9). Im Länderbericht Irak für das Jahr 2017 des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl wird eine Zahl von vierzig bis siebzig (fast ausschließlich schiitischen) Milizen genannt, die schätzungsweise zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen haben (BFA, a.a.O., S. 73):
Die PMF-Milizen stellen im Irak einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik wiederspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 15). Hiermit korrespondierend suchen sie im Einklang mit den fortschreitenden militärischen Erfolgen im Kampf gegen den IS nach neuen Gründen, um ihren weiteren Einsatz auch über das Bestehen einer Fatwa hinaus zu rechtfertigen. Dies betrifft etwa den Schutz Bagdads sowie wichtiger schiitischer Stätten, ferner den Einsatz in den zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebieten im Nordirak. Der Umstand, dass sich die irakischen Streitkräfte auf die Sicherung des westlichen und nördlichen Irak konzentrieren, bietet den PMF-Milizen zudem die Möglichkeit, sich in den ölreichen südlichen Provinzen als lokale Warlords zu etablieren, insbesondere an florierenden Wirtschaftsstandorten wie Basra und Amara (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3).
Das Vorgehen schiitischer PMF-Milizen gegen sunnitische Araber beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 84 f.):
„Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017).“
In Bezug auf die Finanzierung der PMF-Milizen und ihr Wirken im zivilen Sektor hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die folgenden Erkenntnisse fest (BFA, a.a.O. S. 79, S. 83 f.):
„Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat.“
„Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. […] Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).
Offiziell ist nach wie vor das sogenannte „Baghdad Operations Command“ (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017).“
Die PMF- Milizen lassen sich in grob in vier inoffizielle Blöcke einteilen, wobei diese Unterteilung an ihre jeweils ähnlichen Ziele anknüpft, nicht hingegen an formelle Allianzen. Die nicht-schiitischen Milizen bilden den vierten Block und umfassen Sunniten, Yeziden, Christen und andere Minderheiten. Die ersten drei Gruppen bestehen demgegenüber aus schiitischen Milizen (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3). Auch diese sind innerhalb der PMF jedoch nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 97). Den ersten und einflussreichsten Block bilden die pro-iranischen, d.h. vom iranischen Regime etablierten Milizen. Innerhalb dieser Gruppe handelt es sich bei der von Haidi al-Amiri geführten Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization) um die größte und am besten ausgestattete Vereinigung, welche ca. 20.000 Kämpfer umfasst. Andere hier zu verortende Milizen sind Asa’ib Ahl al-Haqq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute oder Chazali-Terrornetzwerk), Kata’ib Hezbollah (Hezbollah Brigades bzw. Hezbollah Brigaden), Saraya al-Khorasani und Harakat al-Nujaba. Hierbei handelt es sich um Gruppierungen, die jeweils der Doktrin des Obersten Religionsführers des Iran (Welāyat-e Faghīh) folgen und politische Ambitionen hegen. Der zweite Block setzt sich aus den Hashd al-Sistani zusammen, d.h. denjenigen Milizen, die im Lager des irakischen Großayatollah al-Sistani stehen (Liwa Ali al-Akbar, Furqat Imam Ali al-Qitaliyah, und Furqat al-Abbas al-Qitaliyah) und dem (früheren) Premierminister Abadi gegenüber loyal sind. Ihre Truppen sind zahlenmäßig schwächer als die pro-iranischen Gegenspieler und setzen sich aus ca. 20.000 Kämpfern zusammen. Ihre Anhänger sind überwiegend durch die Fatwa Sistanis motivierte Freiwillige ohne politischen Ambitionen., die jedoch auf die Unterstützung des irakischen Verteidigungsministeriums zurückgreifen können. Der dritte Block umfasst die Milizen, die den von Ammar al-Hakim geführten Islamic Supreme Council of Iraq (ISIC bzw. SIIC, Oberster Islamischer Rat des Irak (OIRI)) unterstützen, ferner die Anhänger des Predigers Muqtada al-Sadr. Hierbei handelt es sich um einflussreiche politische Fraktionen des Schiitentums mit komplex ausgestalteten Beziehungen zum Iran, welche sich zugleich in loser Gefolgschaft zur irakischen Zentralregierung befinden. Die Pro-Hakim-Milizen umfassen dabei die Gruppen Saraya Ansar al-Aqeeda, Liwa al-Muntathar und Saraya Ashura. Bei der wichtigsten dem Prediger Sadr loyalen Miliz handelt es sich um die Gruppe Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone), ehemals bekannt als Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi (JAM)).
Bei der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Gruppierung Kata’ib Hezbollah (KH) handelt es sich, wie dargestellt, um eine pro-iranische schiitische Miliz, welche im Jahr 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet wurde, einem ehemaligen Mitglied der Badr-Organisation, der über langjährige, enge Verbindungen zu den Iranischen Revolutionsgarden und der libanesischen Hizbollah verfügt. Diese beiden Organisationen unterstützen KH seit ihrer Gründung personell, finanziell und logistisch (Stanford University, Mapping Militant Organizations: Kata’ib Hezbollah, Stand: 25. August 2016, S. 1, 3 der Druckversion). KH propagiert die Ideale der Iranischen Revolution nach den Vorstellungen der Theokratie Ayatollah Khomeinis, insbesondere die Welāyat-e Faghīh, d.h. die Einführung eines politischen Islam, in dem ein Faqīh, ein juristischer Experte im islamischen Recht, die Vormundschaft über die Gemeinschaft der Gläubigen ausübt. Unter der spirituellen und politischen Lenkung des gegenwärtigen Großayatollahs, Ayatollah Khameini, versucht KH eine schiitische Regierung im Irak mit engen Bindungen zum Iran zu errichten und das Recht der Sharia im gesamten Irak zu etablieren. Seit ihrer Gründung im Jahr 2007 bis zum Abzug des US-Militärs im Jahr 2011 griff KH vorwiegend Truppen der US-Koalitionsstreitkräfte an; seitdem kämpft sie gemeinsam mit den regulären irakischen Streitkräften und anderen schiitischen Milizen gegen den IS. Seit 2012 oder 2013 kämpft KH überdies im syrischen Bürgerkrieg an der Seite des Assad-Regimes und seiner Verbündeten gegen die syrische Opposition und islamistische Gruppierungen (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion). Im Januar 2018 schloss sich KH mit Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH), der Badr Organisation und anderen schiitischen Milizen zur politischen Partei Fatah Allianz (Fatah Alliance bzw. iʾtilāf al-fatḥ) zusammen, die in der irakischen Parlamentswahl im Mai 2018 47 Parlamentssitze gewann. Im Juni 2018 schloss die Fatah Allianz eine Koalitionsvereinbarung mit der Wahlsiegerin „Liste Sairoon“, die Muqtada Al-Sadr untersteht, dem Anführer der Mahdi-Armee. Diese neue Koalition versetzt die Fatah Allianz – und indirekt damit auch KH – in die Position, Einfluss auf die neue irakische Regierung zu nehmen (Counter Extremism Project: Kata’ib Hezbollah, Stand: 12.11.2018, S. 2 f. der Druckversion). Bei KH handelt es sich um die einzige schiitische Miliz des Irak, welche von den Vereinigten Staaten als Terrororganisation gelistet wird; sie gilt zudem innerhalb des Irak als die schiitische Miliz mit der höchsten Geheimhaltungsstufe. Die Zentrale der Organisation wird allgemein in den schiitisch geprägten Gebieten Bagdads verortet, wobei KH jedoch höchstwahrscheinlich aus den gesamten schiitischen Regionen des südlichen Iraks rekrutiert (Counter Extremism Project, a.a.O., S. 3 der Druckversion; Stanford University, a.a.O., S. 4 der Druckversion). KH wird vorgeworfen, in zahlreichen Operationen, zum Beispiel in Tuz Khurmatu, Diyala und Tikrit, Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, darunter außergerichtliche Hinrichtungen, Entführungen, willkürliche Verhaftungen, Folter, Plünderungen und Massenzerstörungen von Wohnhäusern. Hierbei soll es sich um sektiererisch motivierte Gewalt handeln, die sich vor allem gegen Sunniten richtet (Global Public Policy Institute (GPPI), Who’s Who: Quick Facts about Local and Sub-State Forces, 16. August 2017, S. 7 der Druckversion). Nach einer ausführlichen Befragung von mehr als 20 Einwohnern beschuldigte Human Rights Watch mehrere Milizen, darunter KH, im Juni 2014 in den „Gürteln von Bagdad“ (sog. „Baghdad Belts“, d.h. den an die Hauptstadt angrenzenden Provinzen) willkürliche Attacken in zivilen Gebieten verübt und dabei Sunniten entführt sowie außergerichtlich hingerichtet zu haben (Counter Extremism Project, a.a.O., S. 5 der Druckversion; Human Rights Watch, Artikel vom 12. Juni 2014, „Iraq: ISIS Advance Threatens Civilians“). Im Mai 2015 beschuldigten irakische Offizielle die Miliz KH, nach Rückeroberung der vom IS besetzten Stadt al-Dour Häuser geplündert und niedergebrannt zu haben. Entsprechende Vorwürfe erhoben sunnitische Einwohner der Stadt Tikrit im April 2015. Im Zeitraum von Mai bis Juni 2016 stellten die Vereinten Nationen fest, KH habe bei der Rückeroberung der Stadt Fallujah schwerste Menschenrechtsverletzungen gegenüber der einheimischen sunnitischen Bevölkerung begangen, darunter die willkürliche Inhaftierung und Folterung von ca. 1.500 sunnitischen Männern und Jugendlichen im Alter von 15 Jahren aufwärts, ferner die Ermordung von mindestens 49 der Inhaftierten, dabei in vier Fällen durch Enthauptung. Nach Opferangaben rechtfertigten die Milizionäre gegenüber den Inhaftierten diese Taten als Rache für die Ermordung von 1.566 vornehmlich schiitischen Luftwaffenkadetten durch den IS im Camp Speicher im Juni 2014 (Counter Extremism Project, a.a.O., S. 5 f. der Druckversion; Stanford University, a.a.O., S. 5; Reuters, Artikel vom 23. August 2016, „Special Report: Massacre reports show U.S. inability to curb Iraq militias).
Diese Erkenntnisse zur Bedrohung von Sunniten durch schiitische PMF-Milizen, insbesondere KH, finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung. Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften und äußerst substantiierten Schilderungen des Klägers zu 1. zu der Überzeugung gelangt, dass Mitglieder der in Bagdad ansässigen Miliz KH die klägerische Familie mit willkürlichen Kontrollen und Hausdurchsuchungen schikanierten, mit dem Tode bedrohten und letztlich aus ihrem Haus im Bagdader Vorort Al-Ridwaniyah, auch bekannt als Al-Salam Wohngemeinschaft, vertrieben.
Bereits die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts dokumentierte Aussage des Klägers zu 1. enthielt zahlreiche Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Diesen Eindruck hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vollumfänglich bestätigt. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Beschreibung deliktsspezifischer Merkmale sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung in Bezug auf das verfolgungsrelevante Kerngeschehen als inhaltlich konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Der Kläger hat insbesondere umfassend dargelegt, wie schiitische Milizen in den Monaten vor seiner Flucht begonnen hatten, Sunniten aus seinem Stadtteil Al-Salam Wohngemeinschaft zu vertreiben. Der Hintergrund hierfür sei gewesen, dass jedes Jahr Schiiten einen traditionellen Pilgergang von Bagdad zum Imam-Hussein-Schrein in Kerbala durchführten (Husseiniya bzw. 40 Tage von Hussein), namentlich in Gedenken an den dritten Imam Hussein ibn Ali, einem Enkel des islamischen Propheten Muhammad, der am 10. Oktober 680 n.c. in der Schlacht von Kerbala gegen die Armee von Abū Chālid Yazīd ibn Muʿāwiya (Yazid I.) fiel. Aus dem gemischt sunnitisch-schiitischen Stadtteil Al-Dora heraus hätten sunnitische Extremisten Anschläge auf die Pilger verübt, woraufhin schiitische Milizen mit der Vertreibung der dortigen sunnitischen Einwohner begonnen hätten. Sein Dorf, so der Kläger zu 1. im Weiteren, liege nicht an der für den Autoverkehr gesperrten Pilgerstrecke, sondern an der Umgehungsstraße, welche Autofahrer während der Pilgerreise nutzen müssten. Da es sich um den einzigen sunnitischen Ort in einer langen Reihe von schiitisch dominierten Ortschaften handele, gehe er davon aus, dass schiitische Milizen seinen Ort ebenfalls als Sicherheitsrisiko angesehen hätten. In diesem Zusammenhang hat der Kläger zu 1. überdies in der mündlichen Verhandlung zwei Berichte irakischer Fernsehsender aus November 2017 vorgespielt, in denen sunnitische Bewohner der Al-Salam Wohngemeinschaft darüber berichten, Milizionäre würden versuchen, sie aus zu dem Ort zu vertreiben. Er hat des Weiteren einen Zeitungsartikel der Irak News Agency vom 7. Mai 2015 präsentierte, demzufolge maskierte Männer am frühen Morgen in das Haus einer fünfköpfigen Familie in der Al-Salam Wohngemeinschaft eingedrungen seien und die Eltern, die Schwester der Ehefrau und die beiden Kinder enthauptet hätten. Diesbezüglich hat der Kläger zu 1. glaubhaft geschildert, diese Familie sei ihm als Nachbarsfamilie persönlich bekannt gewesen. Er sei, ebenso wie andere Nachbarn, nicht nur bei der Bergung der Leichen zugegen gewesen, sondern habe noch zu Lebzeiten der Familie beobachtet, wie der Familienvater vor den Augen mehrerer Nachbarn einen an ihn gerichtet Drohbrief mit der Aufforderung, den Stadtteil zu verlassen, zerknüllt und verächtlich weggeworfen habe.
Des Weiteren hat der Kläger insbesondere glaubhaft geschildert, wie er ca. drei oder vier Monate vor der Ausreise bei dem Vorhaben, seine kranke Mutter mit dem Auto von zuhause abzuholen und ins Krankenhaus zu bringen, von bewaffneten Milizionären in einem der schiitischen Stadtteile auf seinem Nachhauseweg angehalten wurde, da er versucht hatte, deren Fahrzeugkolonne zu überholen. Hier hat der Kläger insbesondere glaubhaft dargetan, dass er sich nicht getraut habe, in Erfahrung zu bringen, um welche Gruppierung es sich überhaupt handele, ferner, wie er sich in Todesangst zunächst als „Abu “ bzw. Vater von vorgestellt habe, da sein Sohn einen schiitischen Namen trage. Er hat ebenso glaubhaft geschildert, dass der ihn mit einer Pistole bedrohende Milizionär seine vollen Personalien sodann telefonisch überprüft habe, wobei er, d.h. der Kläger zu 1., während der hiermit einhergehenden Wartezeit erstmals Klopfgeräusche aus dem Kofferraum des mittleren der drei Autos gehört habe, die er jedoch aus Angst um sein Leben ignoriert habe. Obwohl er letztendlich habe weiterführen dürfen, da – so die Mutmaßung des Klägers zu 1. – die Milizionäre erkannt hätten, dass er kein Verwandter des im Kofferraum befindlichen Entführungsopfers gewesen sei, habe sich sein Leben danach drastisch zum Schlechteren gewendet. Ihn habe nicht nur eines der Autos nachhause und sodann bis zum Krankenhaus verfolgt, vielmehr sei er noch am selben Tag an einem der Kontrollpunkte vor seiner Ortschaft auffallend intensiv kontrolliert worden. Danach habe man ihn regelmäßig an zweien der Kontrollpunkte in der Nähe seiner Ortschaft schikaniert, beschimpft und auch geschlagen. Vor allem aber habe es danach mehrfach bei ihm Hausdurchsuchungen gegeben, bei denen u.a. maskierte Zivilpersonen ihn als Muʿāwiya aus dem Stamm Al-Dulemi beschimpft und ihn sowie seine Frau auch körperlich misshandelt hätten. In diesem Zusammenhang hat der Kläger zu 1. insbesondere die erste nächtliche Hausdurchsuchung außerordentlich plastisch geschildert. Ferner hat er glaubhaft dargetan, wie er kurz vor seiner Ausreise den bereits beim Bundesamt in Kopie vorgelegten Drohbrief unter seiner Wohnungstür fand, in dem man ihn als „Verräter“ anredete und seine Familie im Namen von KH zum Wegzug aus dem Stadtviertel innerhalb von drei Tagen aufforderte. Bereits beim Bundesamt hatte der Kläger zu 1. in der Anhörung dargetan, es handele sich lediglich um eine Kopie, da das Original ja farbig gewesen sei. Diesen Vortrag hat er in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage dahingehend nachvollziehbar ergänzt, er hätte sich niemals getraut, mit dem Original-Schreiben im Gepäck auszureisen, da er befürchtet habe, man werde ihn töten, sofern das Schreiben an einem Kontrollpunkt von Milizionären entdeckt werden würde. Schließlich hat der Kläger zu 1. glaubhaft geschildert, sie hätten nach Erhalt dieses Schreibens so schnell wie möglich ihre Wohnung verlassen, nachdem er sich von einem Freund Geld geliehen und diesen gebeten habe, in seinem Namen ihre persönlichen Wertgegenstände zu verkaufen.
Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen wurden die Kläger von ihnen unbekannten Milizionären, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Angehörigen der Miliz KH, im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Nr. 2, Abs. 3 AsylG verfolgt, d.h. mit dem Tode bedroht, mit diskriminierenden polizeilichen Maßnahmen überzogen und aus dem eigenen Heim vertrieben. Den Anknüpfungspunkt der Verfolgung bildete dabei ihr sunnitischer Glaube (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
Die den Klägern drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Partei-en oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Bei KH handelt es sich um eine staatliche Organisation im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG. Zum Staat im Sinne dieser Vorschrift rechnen alle seine Organe im weiteren Sinne (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3c AsylG, Rn. 4). Für die Zurechnung zur staatlichen Sphäre ist es dabei ausreichend, dass sich der Staat der betreffenden Personen oder Gruppierung zur Herrschaftsausübung bedient (Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: November 2017, § 3c AsylG, Rn. 2). Eine asylrechtlich relevante Verantwortlichkeit des Staates für Verfolgungsmaßnahmen (privater) Dritter ist ferner nicht nur in dem Fall anzunehmen, in dem diese Verfolgungsmaßnahmen auf Anregung des Staates zurückgehen oder doch dessen Unterstützung oder einvernehmliche Duldung genießen, wie z. B. bei faktischer Einheit von Staat, Staatspartei oder Staatsreligion. Übergriffe sind vielmehr auch dann einem Staat zurechenbar, wenn der an sich schutzwillige Staat zur Verhinderung von Verfolgungsmaßnahmen prinzipiell und auf gewisse Dauer außerstande ist, weil er das Gesetz des Handelns an andere Kräfte verloren hat und seine staatlichen Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen nicht mehr durchzusetzen vermag (Bergmann, a.a.O., Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 22. 04.1986 – 9 C 318/85 -, NVwZ 1986, S. 928 f. [BVerwG 22.04.1986 - BVerwG 9 C 318.85 u.a.], LS 3). So liegt es hier. Der irakische Staat bedient sich KH zur Herrschaftsausübung, weil er sie unter dem Dachverband der PMF in die offizielle Struktur der irakischen Sicherheitskräfte eingegliedert hat und sie überdies finanziell sowie mit Waffen unterstützt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70).
KH ist wie die übrigen PMF-Milizen mittlerweile eng mit dem irakischen Staat verknüpft. Amnesty International weist darauf hin, dass Angehörige der PMF-Milizen Militäruniformen tragen, zum Teil unabhängig von, zum Teil auch gemeinsam mit den regulären Regierungstruppen im Gefecht und an Checkpoints agieren und zudem die Stützpunkte und Haftzentren der regulären Truppen nutzen (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.). Auch das Auswärtige Amt erklärt in seinem Lagebericht zum Irak aus Februar 2017, durch die staatliche Akzeptanz, teilweise Führung und Bezahlung der Milizen der PMF verschwimme die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 15).
Sämtliche der PMF zugeordneten Milizen genossen seit der Gründung des Dachverbandes starke Unterstützung durch die irakische Regierung. Am 19. Juni 2014 erließ der damalige irakische Premierminister Nouri al-Maliki eine Anweisung, PMF-Freiwilligen ein staatliches Gehalt zu zahlen und sie im Falle ihrer Verwundung oder ihres Todes den Angehörigen des Innen- und Verteidigungsministeriums gleichzustellen. Am 30. September 2014 verfügte darüber hinaus der irakische Ministerrat, die PMF-Milizen mit Waffen und anderem militärischen Equipment auszustatten. Im November 2014 wies der Generalsekretär des Kabinetts dem Verteidigungsministerium Haushaltsmittel für die Gehälter der PMF-Kämpfer zu. Das Budget des zentralirakischen Haushalts stellte den PMF im Jahr 2016 nahezu 1,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung und räumte dem Finanzministerium die Berechtigung ein, weitere 2 Milliarden US-Dollar zum Zwecke der Waffenbeschaffung und des Anlagenbaus an das Ministerium der Verteidigung, des Inneren und die PMF zu überweisen. Zudem gründete der Ministerrat im Jahr 2014 die Volksmobilisierungskommission (Popular Mobilization Commission (PMC)), die für die Verwaltung der PMF zuständig ist (AI, Iraq: Turning a blind eye. The arming of the Popular Mobilization Units, S. 9). Im Februar 2016 erließ der irakische Premierminister des Weiteren eine Verfügung, welche den PMF den Status einer „unabhängigen militärischen Formation, Teil der irakischen Streitkräfte und angekoppelt an den obersten Befehlshaber der Streitkräfte“, verlieh. Zudem spezifizierte die Verfügung, dass die PMF der Militärgesetzgebung unterliegen und verlieh ihnen eine ähnliche Organisationsstruktur wie die Iraqi Counter Terrorism Force, welche sowohl vom Verteidigungs- als auch vom Innenministerium unabhängig ist. Diese Verfügung setzte das irakische Parlament am 26. November 2016 vollumfänglich in ein Gesetz betreffend die Volksmobilisierungseinheiten um, welches am 26. Dezember 2016 in Kraft trat. Zusätzlich sah das Gesetz vor, dass der Einsatz der PMF-Milizen an spezifischen Orten der Autorität des Oberbefehlshabers der Streitkräfte unterliegt und das Parlament der Ernennung von Führungsoffizieren der PMF oberhalb eines bestimmten Ranges zustimmen muss (AI, a.a.O., S. 14).
Darüber hinaus nimmt der irakische Staat das (kriminelle) Handeln von Mitgliedern der KH tatenlos zur Kenntnis. Die tatsächliche Möglichkeit des irakischen Staates, über Befehle und Weisungen auf die PMF Einfluss zu nehmen, beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 78):
„Obwohl das Milizenbündnis unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die Volksmobilisierung dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Ministerpräsidenten als Oberkommandierendem unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. […] Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert […].“
An anderer Stelle heißt es zu den Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf die PMF in noch deutlicheren Worten (BFA, a.a.O., S. 35, 108):
„Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt.“
„Den staatlichen Stellen ist es nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen, insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dies geht einher mit Repressionen, mitunter auch Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession. Minderheiten geraten oft zwischen die Fronten (AA 7.2.2017).“
Auch Amnesty International hebt hervor, dass Angehörige der PMF-Milizen nicht der Befehlsgewalt der regulären Truppen unterstellt sind. Die Milizen schienen vielmehr über größere Autorität und Schlagkraft vor Ort zu verfügen als die mitgenommenen Regierungstruppen, die als schwach und ineffektiv gälten (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.). Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist zudem die irakische Polizei nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen seien hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 9; BFA, a.a.O., S. 70). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23). Mutmaßliche Rechtsverletzungen schiitischer Milizen vermag die Polizei nicht zu ahnden. Führungskräfte der Polizei sind in Bagdad überdies gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befinden sich überhaupt unter Polizeikontrolle.
Ausgehend von ihrer zahlenmäßigen Größe und ihrem Wirkungsgrad im Südirak handelt es sich bei KH selbst bei einer abweichenden Betrachtungsweise zu § 3c Nr. 1 AsylG jedenfalls um eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht (§ 3c Nr. 2 Var. 2 AsylG). Die Kläger könnten sich schließlich auch dann nicht auf wirksamen staatlichen Schutz berufen, sofern man die ihnen drohende Verfolgung durch KH als eine Verfolgung von sonstigen nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG einstufen würde. Der irakische Staat sowie die in § 3c Nr. 2 AsylG genannten Akteure sind nämlich, wie dargestellt, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung durch Angehörige der PMF zu bieten.
Es sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht wird. Dieses gilt zum einen in Anbetracht der Schwere der den Klägern drohenden Rechtsgutverletzungen und dem Ausmaß der drohenden Gefahr (vgl. hierzu generell: BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19; Nds. OVG, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 30), zum anderen in Anbetracht des Umstandes, dass es noch nach der Ausreise der Kläger zu Drohungen gegen ihre erweiterte Familie kam. So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung Einsicht in seine Nachrichtenbox in einem sozialen Netzwerk gegeben. Hieraus war ersichtlich, dass ihn ein (ehemaliger) schiitischer Bewohner der Al-Salam Wohngemeinschaft, der mit PMF-Milizen sympathisiert, im Februar 2017 anschrieb und ihn sinngemäß forderte, die (betagten) Eltern des Klägers zu 1. müssten den Ort ebenfalls verlassen, da er ihnen nicht gehöre, andernfalls müssten sie 100 Millionen irakische Dinar zahlen, um das (bereits in ihrem Eigentum stehende) Haus „zu erwerben“.
Den Klägern steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr überdies kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dazu heißt es im Urteil vom 26. Oktober 2017 (6 A 9126/17):
„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn Personen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu diesen Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Karbala. Die Sicherheitsüberprüfungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden.
Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.
Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“
Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2).
Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass im Falle der Kläger besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, ihre Lage könne von der vorgenannten Situation abweichen. Insbesondere bietet sich für sie in Anbetracht der weiterhin von KH ausgehenden Bedrohung keine für die Gesamtfamilie zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).
Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.
2.
Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).
Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.