Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 01.03.2024, Az.: 1 A 59/22

Abschiebungsverbot; Libanon; Palästinenser; subsidiärer Schutz; UNRWA; Asylrecht keine pauschale Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG für palästinensische Familie aus dem Libanon

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
01.03.2024
Aktenzeichen
1 A 59/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 11646
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2024:0301.1A59.22.00

[Tatbestand]

Die Klägerin begehrt die Flüchtlingsanerkennung.

Die dreijährige Klägerin ist staatenlos und palästinensische Volkszugehörige. Sie wurde in Deutschland geboren. Ihre Eltern sind palästinensische Volkszugehörige aus dem Libanon, die vor ihrer Ausreise im Jahr 2014 in dem bei F. gelegenen und von der UNRWA unterstützten Flüchtlingslager G. gelebt hatten und bei der UNRWA registriert sind. Ihre Mutter arbeitete nach Erlangung des Abiturs und eines Studienabschlusses in englischer Literatur als Lehrerin, ihr Vater arbeitete nach Erlangung des Abiturs und eines Studienabschlusses in Betriebswirtschaftslehre als Lehrer und Sozialarbeiter. Sie führten in Deutschland erfolglos Asylverfahren durch; die ablehnenden Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) sind seit Eintritt der Rechtskraft der Urteile vom 31.08.2018 (Verwaltungsgericht Göttingen, 1 A 1/18 und 1 A 4/18) bestandskräftig.

Am 27.10.2021 wurde für die Klägerin ein Asylantrag gestellt. Dieser wurde mit der prekären Lage von Palästinensern im Libanon begründet, die sich durch die seit 2019 andauernde schwere Wirtschafts- und Finanzkrise im Libanon verschärft habe. Eine Anhörung der Klägerin erfolgte wegen ihres Alters nicht.

Mit Bescheid vom 01.03.2022 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), die Asylanerkennung (Ziff. 2) und des subsidiären Schutzstatus (Ziff. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 4) und forderte die Klägerin zur freiwilligen Ausreise auf. Es drohte die Abschiebung in den Libanon an (Ziff. 5) und ordnete ein auf 30 Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an (Ziff. 6). Zur Begründung verwies es im Wesentlichen darauf, dass trotz der wirtschaftlichen Lage im Libanon davon auszugehen sei, dass die Klägerin im Familienverbund mit ihren Eltern ihr Existenzminimum werde sichern können.

Die Klägerin hat am 08.03.2022 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, sie habe wenigstens einen Anspruch auf Festsetzung eines Abschiebungsverbots. Ihre Eltern verfügten zwar über Studienabschlüsse und Berufserfahrung. Ihre Eltern würden aber im Fall der Rückkehr in den Libanon nicht das Existenzminimum sichern können. Ihre Mutter sei mit der Kindererziehung beschäftigt; sie sei das fünfte Kind nach den im Dezember 2014, Dezember 2015, November 2017 und Mai 2019 geborenen Kindern der Familie. Ihr Vater könne voraussichtlich nicht das Einkommen für die siebenköpfige Familie sichern. Vermögen sei nicht vorhanden; es sei für die Flucht der Eltern im Jahr 2014 aufgebraucht worden. Die im Libanon lebenden Familienangehörigen fänden wegen der akuten Wirtschaftskrise keine Erwerbsmöglichkeiten mehr und könnten sie nicht unterstützen. Rückkehrern stelle die UNRWA keinen Wohnraum zur Verfügung. Schließlich habe sich die Sicherheitslage im Lager G. weiter verschlechtert.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihr den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

äußerst hilfsweise, das Bestehen von Abschiebungsverboten zu Gunsten der Klägerin festzustellen,

und den Bescheid der Beklagten (-998) vom 01.03.2022 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus, dass trotz der sehr prekären Lage im Libanon die Grundversorgung auch für die palästinensische Bevölkerung im Umfang eines absoluten Existenzminimums gesichert sei. Die UNRWA leiste weiterhin trotz der Budgetkürzungen der vergangenen Jahre die Grundversorgung vor allem in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Auch sei nicht ersichtlich, dass die Eltern der Klägerin nicht zur Versorgung der Familie beitragen könnten. Ihre Mutter könne jedenfalls stundenweise arbeiten und die Kinder von Angehörigen betreuen lassen. Ältere Kinder könnten die Schule besuchen. Der Vater der Klägerin habe neben in G. lebenden Eltern noch 11 Geschwister; eine der Schwestern lebe in Deutschland und sei eingebürgert. Die anderen lebten noch im Libanon. Die Mutter und die fünf Geschwister der Mutter der Klägerin lebten in den Vereinigten Emiraten. Die Familie könne die Klägerin und deren Familie bei der Rückkehr in den Libanon unterstützen.

Mit Beschluss vom 05.09.2023 hat die Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz des Ausbleibens eines Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung den vorliegenden Rechtsstreit verhandeln und entscheiden, nachdem die Beklagte ordnungsgemäß gegen Empfangsbekenntnis geladen und auf die Folgen des Ausbleibens in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden war.

Die zulässige Klage hat hinsichtlich der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Asylanerkennung und der Zuerkennung subsidiären Schutzes und der Feststellung von Abschiebungsverboten keinen Erfolg (dazu I.). Jedoch erweist sich der Bescheid vom 01.03.2022 im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nach § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 und des in Ziffer 6 angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO (dazu II.).

I.

1. Zur Begründung verweist die Einzelrichterin zunächst auf die Ziffern 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids, dessen Begründung sie folgt (§ 77 Abs. 3 AsylG).

Ergänzend wird darauf verwiesen, dass die aktuelle Sicherheitslage im Libanon nach wie vor keine Zuerkennung des subsidiären Schutzes rechtfertigt. Subsidiären Schutz erhält ein Ausländer, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG).

Die Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die allgemeine Sicherheitslage ist durch die Proteste und den wirtschaftlichen Niedergang des Landes seit 2019 zwar unübersichtlicher geworden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon vom 05.12.2022, S. 7). Der Zusammenbruch des libanesischen Staates wird als möglich ("real possibility") angesehen (Congressional Research Service, Lebanon: Background and U.S. Relations, 19.05.2023, S. 19). Diese Gefahr ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung allerdings (noch) nicht eingetreten. Auch ergibt sich aus den Angriffen Israels auf libanesisches Territorium nichts. Seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 kommt es entlang der libanesisch-israelischen Grenze fast täglich zu wechselseitigen Gefechten und Bombardements unterschiedlicher Intensität insbesondere zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, Libanon, Südlibanon: Sicherheitslage, vom 08.01.2024). Derzeit schrecken beide Seiten aber vor weitergehenden Auseinandersetzungen zurück (ebd., mit Hinweis auf Berichte in der israelischen Tageszeitung Haaretz; BAMF Briefing Notes (KW 2/2024), 08.01.2024, S. 7). Mit Stand Ende Januar 2024 hatten fast 90.000 Menschen ihre Wohnorte im Südlibanon verlassen, 151 Personen waren getötet, 535 verwundet worden (OCHA, Lebanon: Flash Update #10 - Escalation of hostilities in south Lebanon, 24.01.2024). Zuletzt wurde allerdings auch ein Ziel etwa 60km landeinwärts in einem Industriegebiet bei H. von der israelischen Armee angegriffen, bei dem es sich um ein Waffendepot der Hisbollah gehandelt haben soll (NZZ ePaper, Israelische Luftangriffe im Innern von Libanon, 20.02.2024). Die Auseinandersetzungen beschränken sich mit Ausnahme dieses konkret gegen eine Hisbollah-Einrichtung gerichteten Angriffs der israelischen Armee aber weiterhin auf die Grenzregion. Damit bestehen weiterhin inländische Fluchtalternativen.

2. Auch ein Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 AufenthG besteht nicht.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Der Verweis auf die EMRK erfasst lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 8). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entnimmt Art. 3 EMRK die Verpflichtung, den Betroffenen nicht in ein bestimmtes Land abzuschieben, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass er im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. nur EGMR, Urt. v. 13.12.2016 - 41738/10 [Paposhvili v. Belgium] - HUDOC Rn. 173; v. 23.08.2016 - 59166/12 [J. K. and others v. Sweden] - HUDOC Rn. 79). Insoweit sind die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Abschiebungszielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (EGMR, Urt. v. 23.08.2016, a.a.O., Rn. 83). Auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat können in ganz besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2019 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 23 und 25; Beschl. v. 08.08.2018, a.a.O., Rn. 9; Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 45; VGH BW, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 26, jeweils m.w.N.).

Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, Beschl. v. 23.08.2018 - 1 B 42.18 -, juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen allerdings ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" erreichen. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.08.2018, a.a.O., Rn. 11). Es ist allerdings bei "nichtstaatlichen" Gefahren für Leib und Leben ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem etwa die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK "zwingend" sind.

Ein derartiger außergewöhnlicher Fall ist zur Überzeugung des Gerichts hier auch unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Libanon einerseits (vgl. zum Maßstab BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 38, zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, und Nds. OVG, Urt. v. 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 26, zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK) und der besonderen Umstände der Klägerin andererseits nicht gegeben.

Der Libanon ist aus eigener Kraft weder in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren noch substanziell den eigenen Staatshaushalt nachhaltig zu finanzieren (BAMF, Länderreport 32 - Libanon, Stand 12/2020, S. 6). Das Land ist deshalb auf die Einfuhr von Gütern wie auf Zufluss von Devisen angewiesen, die in erster Linie durch Remittenten aus dem Ausland erbracht werden. Letztere tragen zu 50 % zum Bruttoinlandsprodukt bei (DFAT, Country Information Report Lebanon, 23.06.2023, S. 9). Die Zentralbank konnte trotz dieser Ausgangslage über Jahrzehnte den Zufluss von Devisen aufrechterhalten und damit zur auskömmlichen Versorgung der Bevölkerung bei gleichzeitiger Preisstabilität beitragen, indem sie die libanesische Lira an den Dollar koppelte und Schulden in Dollar aufnahm. Nachdem die Bindung der libanesischen Lira an den Dollar nicht mehr zu finanzieren war, brach das bis 2019 bestehende Finanz- und Wirtschaftssystem zusammen. Das Bruttoinlandsprodukt ging innerhalb von zwei Jahren von 54,9 Mrd. US-Dollar (2019) auf 23,1 Mrd. US-Dollar (2021) zurück (DFAT, Country Information Report Lebanon, 23.06.2023, S. 9). Die durch die Zerstörung des Beiruter Hafens am 04.08.2020 sowie die COVID-19-Pandemie weiter verschärfte Wirtschaftskrise, in deren Zuge die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung ihre Ersparnisse verloren hat, hat unter anderem zu einer Hyperinflation geführt, die nicht durch einen Anstieg von Löhnen kompensiert wird. Die Lira hat auf dem Schwarzmarkt mehr als 98 % ihres Wertes verloren (Congressional Research Service, Focus Lebanon, 21.04.2021, S. 29). Die jährliche Inflation lag im Jahr 2022 bei 162 % (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon vom 05.12.2022, S. 23), im August 2023 bei 250 % (ACAPS, Lebanon - The effect of the socioeconomic crisis on healthcare, 19.10.2023, S. 1). Nach Schätzungen der UN lebt etwa 80 % der Bevölkerung in Armut, während die Weltbank von 50 % ausgeht (DFAT, a.a.O., S. 9; vgl. auch Congressional Research Service, Lebanon: Background and U.S. Relations, 19.05.2023, S. 12). Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 30 %, bei Jugendlichen bei fast 50 % (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon vom 05.12.2022, S. 23).

Die politischen Institutionen des Landes sind größtenteils handlungsunfähig und aufgrund parteipolitischer Differenzen nahezu komplett blockiert. Das Amt des libanesischen Präsidenten ist seit Oktober 2022 vakant (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, Libanon, Südlibanon: Sicherheitslage, 08.01.2024, S. 1). Der politische Stillstand verhindert internationale Hilfen namentlich im Rahmen eines Programms des Internationalen Währungsfonds, das dieser im April 2022 mit einem Umfang von 3 Mrd. US-Dollar über 46 Monate unter der Bedingungen von Reformen des Finanzsektors zugesagt hatte (Human Rights Watch, World Report 2024 - Lebanon, 01.01.2024). Die Hilfen im Rahmen des IWF-Programms werden als entscheidend für die Stabilisierung der libanesischen Wirtschaft angesehen (Congressional Research Service, Lebanon: Background and U.S. Relations, 19.05.2023, S. 13).

Die Wirtschaftskrise beeinflusst das tägliche Leben im Libanon stark negativ. Staatliche Subventionen für Grundnahrungsmittel und Energieträger wurde beendet. Insbesondere die Preise für Lebensmittel sind so stark gestiegen, dass viele Geschäfte vorübergehend gar keine Lebensmittel mehr anbieten können und sich die Preise unter anderem für Grundnahrungsmittel vervielfacht haben. Die Verteuerung der Lebensmittel lag bei circa 200 % Stand Juni 2020 (Zeit online: Hälfte der Lebensmittelbestände im Libanon bald aufgebraucht, 01.02.2021, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/corona-wirtschaftskrise-libanon-lebensmittel-nahrungsversorgung-armut-lockdown). Die Verteuerung einiger Grundnahrungsmittel hat bis August 2021 sogar 350 % erreicht (Euro-Med Human Rights Monitor, Lebanon: Falling Into The Abyss, August 2021, S. 7). Die Verknappung von Treibstoff hatte auch negative Auswirkungen auf die Stromversorgung, die erheblich eingeschränkt ist (vgl. Spiegel Online: Stromkrise im Libanon, der perfekte Kurzschluss, 15.05.2021, https://www.spiegel.de/ausland/libanon-strom-krise-der-perfekte-kurzschluss-a-a8482a17-1bdd-4022-995d-c322205aeb06). Hilfsprogramme der UN und der Weltbank erreichen etwa 1 Mio. syrische Flüchtlinge und 660.000 Libanesen und damit nur einen geringen Teil der Haushalte (DFAT, Country Information Report Lebanon, 23.06.2023, S. 9; Human Rights Watch, World Report 2024 - Lebanon, 01.01.2024). Das im regionalen Vergleich bislang gut ausgestattete Gesundheitssystem ist ebenfalls unter Druck geraten, da die meisten Medikamente eingeführt werden müssen. Die Subventionierung des Imports wurde im Sommer 2021 eingestellt (Euro-Med Human Rights Monitor, Lebanon: Falling Into The Abyss, August 2021, S. 8). Mittlerweile können Medikamente wegen des Devisenmangels nur noch sehr begrenzt importiert werden (BAMF, Briefing Notes, 16.08.2021, S. 9; vgl. auch ACAPS, Lebanon - The effect of the socioeconomic crisis on healthcare, 19.10.2023, S. 4).

Die ökonomische Lage der Palästinenser im Libanon ist noch schlechter als die der libanesischen Bevölkerung. Die bei der UNRWA registrierten Palästinenser gelten nach libanesischem Recht als Ausländer (USDOS, Lebanon 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 21). Ihnen werden politische und wirtschaftliche Rechte verwehrt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon vom 05.12.2022, S. 12), was den Zugang zum strapazierten Arbeitsmarkt einschränkt. Mehr als 85 % der erwachsenen arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitet in der sog. informellen Wirtschaft im Niedriglohnsektor (DFAT, Country Information Report Lebanon, 23.06.2023, 16). 90 % leben in Armut (ACAPS, Lebanon - The effect of the socioeconomic crisis on healthcare, 19.10.2023, S, 6; DFAT, Country Information Report Lebanon, 23.06.2023, 16: 86 %). Aus dem vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bericht der UNICEF "Amid a funding crisis, UNRWA's work in Lebanon could end by March" vom 06.02.2024 (Anlage zum Protokoll) ergibt sich ergänzend, dass die UNRWA im Libanon 3.500 Mitarbeiter hat, die zum Einkommen von 10 bis 15 % der Palästinenser beitragen. Weiter ergibt sich daraus, dass sie direkte Geldzahlungen an 65 % der Palästinenser ausgibt, was zuletzt die Armutsquote von 93 % auf 80 % gesenkt hat.

Etwa 45 %der palästinensischen Bevölkerung lebt unter zum Teil sehr schwierigen und beengten Verhältnissen in den zwölf über das Land verteilten palästinensischen Flüchtlingslagern (ebd.). Diese sind von Hilfsleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig, die für die Schulbildung und gesundheitliche Versorgung der palästinensischen Bevölkerung zuständig ist (ebd.). Die Leistungen der UNRWA sind zunehmend eingeschränkt; während im Jahr 2020 noch 50 % der Kosten für Medikamente übernommen wurden, waren es 2023 nur noch 25 % (ACAPS, Lebanon - The effect of the socioeconomic crisis on healthcare, 19.10.2023, S. 6).

Die UNRWA ist, wie ausgeführt, chronisch unterfinanziert und musste auch in den letzten Jahren immer wieder kurzfristig mit teils dramatischen Aufrufen um Mittel der internationalen Staatengemeinschaft bitten. Dazu zählt offensichtlich auch der jüngste Aufruf aus dem vom Klägervertreter vorgelegten Beitrag der UNICEF. Die Einzelrichterin geht nicht davon aus, dass die Finanzierung von UNRWA im Libanon beendet werden wird und die Unterstützungsleistungen für die palästinensische Bevölkerung Ende März enden werden. Gegen dieses Szenario spricht, dass die Finanzierung stets kurzfristig fortgesetzt werden konnte und die internationale Staatengemeinschaft kein Interesse daran haben kann, die stark benachteiligten Palästinenser im Libanon nicht weiter zu unterstützen, um das Land nicht weiter zu destabilisieren.

Insoweit sind die wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage für die bei der UNRWA registrierte palästinensische Bevölkerung im Libanon zwar sehr schlecht. Allerdings lässt sich vor diesem Hintergrund nicht pauschal feststellen, dass stets eine ernsthafte Gefahr einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren fehlenden Existenzsicherung bei der Rückkehr in den Libanon besteht.

Eine hiervon abweichende Bewertung ergibt sich hier auch einzelfallbezogen nicht, weil zu den schlechten humanitären Verhältnissen keine ganz außerordentlichen individuellen Umstände hinzutreten, um diese als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren zu können.

Die Einzelrichterin geht zunächst davon aus, dass die Klägerin gemeinsam mit ihren Eltern und den mittlerweile fünf Geschwistern in den Libanon zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 15 ff.). Die Klägerin kann als Tochter eines bei der UNRWA registrierten palästinensischen Volkszugehörigen dort nachregistriert werden (vgl. EUAA, COI Query, Lebanon - Information on readmission requirements and procedures für Palestinians from Lebanon with and without travel documents, vom 16.01.2024, S. 4). Im Rahmen der familiären Einstandsgemeinschaft, wie sie hier vorliegt, ist davon auszugehen, dass die Eltern für einen angemessenen Unterhalt des Kindes sorgen, zumindest aber die Existenz des Kindes auch finanziell sicherstellen, soweit und solange sie hierzu in der Lage sind (BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 26). Dass das hier der Fall sein wird, ergibt sich bei der hypothetischen, aber realitätsnahen Betrachtung zum einen daraus, dass die Eltern der Klägerin überdurchschnittlich gut ausgebildet sind und sich bereits vor der Ausreise aus dem Libanon auf dem damals schon schwierigen Markt behaupten konnten. Die Lage ist für sie nach jahrelanger Abwesenheit und der Geburt von mittlerweile sechs Kindern in Deutschland deutlich schwieriger geworden. Sie ist aber nicht aussichtslos, auch wenn die Klägerin und ihre Familie bei der Rückkehr nicht mit der Zuweisung einer Wohnung rechnen können. Zunächst gibt es weiterhin die Leistungen der UNRWA, die der Familie zur Verfügung stehen werden. Gerade in G. leben weiterhin acht Geschwister väterlicherseits, von denen nach Darstellung des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung niemand obdachlos ist. Sie sind danach überwiegend arbeitslos und haben zum Teil jedenfalls auch Kinder. Es ist realitätsnah zu erwarten, dass sie die Eltern der Klägerin bei der Betreuung der noch nicht schulpflichtigen Geschwister unterstützen werden, so dass beide Eltern werden arbeiten können, auch wenn sicher jedenfalls zunächst keine ausbildungsadäquate Stelle für die Eltern zu erwarten sein wird. Wegen der Vielzahl der Verwandten ist auch zu erwarten, dass die Familie zunächst unterkommen kann und nicht obdachlos werden wird. Schließlich spricht auch nichts dafür, dass die Mutter der Klägerin nicht von ihren in den Emiraten lebenden Geschwistern Unterstützung für die Familie erhalten könnte. Gegen diese Einschätzung sprechen die engen familiären Bande in der Region, die den Ausfall staatlicher Leistungen seit jeher ersetzen und auf die grundsätzlich gebaut werden kann. Dass das hier nicht der Fall sein könnte, ist auf Grundlage des pauschalen Vortrags des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung nicht zu erwarten. Die Geschwister der Mutter der Klägerin sind alle berufstätig und erzielen ein Einkommen, weil sie sonst keine Aufenthaltserlaubnis in den Ländern hätten. Außerdem kann auch die in Deutschland lebende Schwester des Vaters der Klägerin, die eingebürgert ist, die Familie unterstützen.

Vor diesem Hintergrund schließt sich die Einzelrichterin für den vorliegenden Einzelfall nicht der rechtlichen Einschätzung des Verwaltungsgerichts Dresden (Urt. v. 19.12.2023 - 11 K 1955/21.A - zu einem alleinerziehenden palästinensischen Vater mit vier Kindern) und des Verwaltungsgerichts Potsdam (Urt. v. 29.08.2023 - 8 K 2551/20A - zu einer palästinensischen Mutter von Kindern im mittleren Alter mit in Deutschland lebendem libanesischen Ehemann von 50 Jahren), die jeweils ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG angenommen haben und auf deren Entscheidungen der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat.

Anhaltspunkte für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.

II.

Die von der Beklagten in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Abschiebungsandrohung sowie das in Ziffer 6 angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot sind jedoch rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

Die Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig, weil die Kindeswohlbelange der Klägerin und ihre familiären Bindungen im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nach § 77 Abs. 1 AsylG dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen. Rechtsgrundlage für den Erlass der in Ziffer 5 ausgesprochenen Abschiebungsandrohung ist § 34 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (sogenannte Rückführungsrichtlinie) dar (BVerwG, Urt. v. 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 41, 45 und 56; BVerwG, Beschl. v. 08.06.2022- 1 C 24.21 -, juris Rn. 18). Sie muss unionsrechtlichen Anforderungen genügen. Nach Art. 5 Buchst. a) und b) Richtlinie 2008/115/EG berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie in gebührender Weise das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen. Daraus folgt, dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines Verfahrens, das zum Erlass einer gegen den Minderjährigen ergehenden Rückkehrentscheidung führt, zu schützen sind und nicht erst im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens, das den Vollzug der Rückkehrentscheidung betrifft (EuGH, Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, Rn. 28). Daran gemessen genügt die in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheids erlassene Abschiebungsandrohung unter Würdigung der konkreten familiären Verhältnisse der Klägerin nicht den unionsrechtlichen Anforderungen. Denn der Abschiebung der Klägerin steht im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt entgegen, dass den Eltern und jedenfalls den älteren Geschwistern der Klägerin bis zum 11.11.2024 gültige Aufenthaltserlaubnisse nach § 104c AufenthG erteilt worden sind (BA 004, Bl. 279). Eine zur Vermeidung der Abschiebung grundsätzlich erforderliche freiwillige Ausreise der Klägerin im Familienverbund innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens ist vor diesem Hintergrund derzeit nicht zumutbar.

Damit ist auch der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids rechtswidrig und aufzuheben. Denn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG kann gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG nach Aufhebung der Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.