Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.11.2023, Az.: 13 A 108/22
Abschiebungsandrohung; Abschiebungsverbot (verneint); Familiäre Bindungen im Bundesgebiet; humanitäre Lage; Libanon; Minderjähriger; Rückführungsrichtlinie; Rückkehrentscheidung; Wohl des Kindes; Kein Abschiebungsverbot für libanesisches Kind mit gesunden, arbeitsfähigen Eltern und familiärem Netzwerk Zur allgemeinen humanitären und sozioökonomischen Lage im Libanon Rechtswidrige Abschiebungsandrohung gegen minderjährigen Kläger, dessen Eltern über eine Aufenthaltserlaubnis verfügen
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 10.11.2023
- Aktenzeichen
- 13 A 108/22
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2023, 42180
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2023:1110.13A108.22.00
Rechtsgrundlagen
- AsylG § 34 Abs. 1 S. 1
- AufenthG § 59
- AufenthG § 60 Abs. 5
- EMRK Art. 3
- RL2008/115/EG Art. 5 Buchst. a) und b)
Amtlicher Leitsatz
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK liegt vor, wenn zu schlechten humanitären Verhältnissen im Herkunftsstaat im Einzelfall außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten, die diese als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren. Das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen sind entgegen der Konzeption des deutschen Asylgesetzes als inlandsbezogene Abschiebungsverbote bereits vor Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfen.
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2021, Geschäftszeichen , wird hinsichtlich der Ziffern 5 und 6 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu 3/4 und die Beklagte zu 1/4.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Er wurde im Jahr 2021 in der Bundesrepublik Deutschland geboren und besitzt wie auch seine Eltern und seine älteren Schwestern die libanesische Staatsangehörigkeit.
Seine Mutter und seine drei im Libanon in den Jahren 2006, 2009 und 2013 geborenen Schwestern reisten im Jahr 2014 in die Bundesrepublik ein und stellten einen Asylantrag. Sein Vater reiste im Jahr 2015 ein und stellte für sich sowie für die im Jahr 2016 in der Bundesrepublik geborene vierte Schwester einen Asylantrag. Im Rahmen ihres asylrechtlichen Verfahrens trugen die Eltern des Klägers unter anderem vor, dass die Mutter des Klägers einen Bruder und zwei Schwestern im Libanon habe. Sie selbst habe keinen Beruf erlernt, sondern sei Hausfrau gewesen. Die Eltern, zwei Brüder und eine Schwester des Vaters des Klägers würden im Libanon leben. Drei weitere Brüder des Vaters seien in der Bundesrepublik. Bis zum Jahr 2013 habe der Vater des Klägers als LKW-Fahrer gearbeitet. Er habe einen LKW-Führerschein. Von 2013 bis zu seiner Ausreise habe er nicht mehr gearbeitet. In dieser Zeit hätten seine Familie und er von dem Erlös gelebt, den er durch den Verkauf seines LKWs erzielt habe.
Der Asylantrag der Mutter und der drei Schwestern wurde mit Bescheid vom 5. August 2016 abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Klage beim Verwaltungsgericht Hannover, Aktenzeichen 13 A 4814/16, hatte keinen Erfolg. Der Asylantrag des Vaters und der Schwester wurde mit Bescheid vom 24. August 2017 abgelehnt. Die gegen den Bescheid gerichtete Klage beim Verwaltungsgericht Hannover, Aktenzeichen 13 A 7964/17, blieb ebenfalls ohne Erfolg.
Am 29. November 2021 wurde ein Asylantrag des Klägers mit Eingang des Schreibens der Ausländerbehörde vom 25. November 2021 aufgrund der Antragsfiktion des § 14a Abs. 2 AsylG als gestellt erachtet. Zur Begründung wurden für den Kläger keine eigenen individuellen Gründe geltend gemacht. Von einer persönlichen Anhörung im Asylverfahren wurde gemäß § 24 Abs. 1 S. 5 AsylG abgesehen, die Verfahrensakten der Eltern, Geschäftszeichen: 5855266 und Geschäftszeichen: 6402802, wurden beigezogen. Trotz Aufforderung zur Stellungnahme mit Schreiben vom 2. Dezember 2021 äußerten sich die Eltern nicht zu eigenen Asylgründen des Klägers.
Mit Bescheid vom 28. Dezember 2021, Geschäftszeichen , dem Kläger am 31. Dezember 2021 zugestellt, lehnte die Beklagte den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab, verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG (Ziffer 4), forderte den Kläger unter Fristsetzung und Abschiebungsandrohung in den Libanon zur Ausreise auf (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Die Beklagte begründete dies insbesondere damit, dass die derzeitigen humanitären Bedingungen im Libanon nicht zu der Annahme führen würden, dass der Kläger im Falle der Abschiebung in Art. 3 EMRK verletzt werde. Aufgrund der rechtskräftigen Ablehnung der Asylanträge der Eltern des Klägers sei von einer Rückkehr im Familienverbund auszugehen. Es sei mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass den Eltern des Klägers die Sicherstellung des Lebensunterhalts gelingen werde. Der Vater des Klägers sei jung, gesund und erwerbsfähig. Er habe vor der Ausreise als LKW-Fahrer im Libanon gearbeitet und den Lebensunterhalt für seine Familie sichergestellt. Die Mutter des Klägers sei ebenfalls gesund und erwerbsfähig. Zudem könne der Kläger von seinen weiteren Familienangehörigen im Libanon und in Deutschland finanziell unterstützt werden. Er habe sowohl Familie mütterlicherseits als auch väterlicherseits im Libanon sowie drei in Deutschland eingebürgerte Onkel. Die Beklagte wies ferner darauf hin, dass minderjährige Kinder nicht getrennt von ihren Eltern abgeschoben werden würden. Die Ausländerbehörde entscheide gemäß § 43 Abs. 3 S. 1 AsylG über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Ermöglichung einer gemeinsamen Ausreise zusammen mit den Eltern oder Personensorgeberechtigten. Wegen der weiteren Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.
Am 11. Januar 2022 hat der Kläger Klage erhoben.
Zur Begründung der Klage trägt er im Wesentlichen vor: Seine Eltern hätten in ihren Asylverfahren glaubhaft dargelegt, dass sie im Libanon einer konkreten Lebensgefahr und landesweiten Gefahr ausgesetzt seien. Ferner drohe ihm bei einer Rückkehr in den Libanon aufgrund der schlechten humanitären Verhältnisse eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Zur Darstellung der aktuellen Situation im Libanon verweist er unter anderem auf die Entscheidung des VG Hamburg, Urteil vom 9. September 2021 - 14 A 6163/21 -, und die Entscheidung des VG Göttingen, Urteil vom 27. September 2021 - 1 A 35/19 -. Seine Existenzgrundlage könne im Libanon nicht gesichert werden. Er drohe dort zu verhungern. Zudem habe seine Familie im Libanon keine Möglichkeit, eine Wohnung zu finden. Auch könne er sich dort kein Leben aufbauen, da er im Libanon keine Bezugspunkte habe. Seine Eltern sowie Geschwister würden auch in Deutschland leben. Sie seien mittlerweile im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG. Auch habe er selbst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 2 AufenthG erhalten. Weiter würden drei Onkel väterlicherseits ebenfalls in Deutschland leben, die alle deutsche Staatsangehörige sowie als Selbständige berufstätig seien. Zudem würden drei Tanten mütterlicherseits in Deutschland leben. Eine Tante habe die deutsche Staatsangehörigkeit, die beiden anderen Tanten seien libanesische Staatsbürgerinnen und im Besitz eines Aufenthaltstitels. Ferner habe er elf Cousins und Cousinen, die alle deutsche Staatsangehörige seien und in Deutschland leben würden. Einige davon seien berufstätig.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Dezember 2021 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
Der Rechtsstreit ist gemäß § 76 Abs. 1 AsylG durch Beschluss der Kammer vom 28. Juli 2023 zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 AsylG durch die Einzelrichterin und im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, ihm die Flüchtlingsanerkennung zuzuerkennen, ihn als subsidiär Schutzberechtigten anzuerkennen oder für ihn Abschiebungsverbote in Bezug auf den Libanon festzustellen. Insoweit ist der Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2021 hinsichtlich seiner Ziffern 1, 3 und 4 rechtmäßig, § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO (I.). Jedoch erweist sich der Bescheid der Beklagten im maßgeblichen Zeitpunkt des Ergehens des vorliegenden Urteils nach § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG hinsichtlich seiner Ziffern 5 und 6 als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO (II.).
I.
Die Beklagte hat den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes zu Recht abgelehnt und auch zutreffend festgestellt, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht diesbezüglich gemäß § 77 Abs. 3 AsylG auf die ausführliche und zutreffende Begründung in dem angefochtenen Bescheid (dort S. 2 unten bis S. 10) Bezug und folgt dieser.
Lediglich ergänzend wird hierzu ausgeführt:
Das Gericht teilt die Auffassung der Beklagten, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Insbesondere hat der Kläger kein eigenes Verfolgungsschicksal vorgetragen, das die Zuerkennung des begehrten Schutzrechtes nach § 3 AsylG rechtfertigen würde. Soweit zur Begründung auf die Angaben der Eltern des Klägers in deren Asylverfahren hingewiesen worden ist, ergeben sich auch insoweit keine Anhaltspunkte, die vorliegend eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten.
Ferner liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz nach § 4 AsylG nicht vor. Insbesondere sind keine stichhaltigen Gründe vorgetragen worden oder sonst ersichtlich, die die Annahme rechtfertigen, dass dem Kläger im Libanon ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG drohen würde.
Darüber hinaus liegen aus Sicht des Gerichts die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vor.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Der Verweis auf die EMRK erfasst lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen.
Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 8). Der EGMR entnimmt Art. 3 EMRK die Verpflichtung, den Betroffenen nicht in ein bestimmtes Land abzuschieben, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass er im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. nur EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 - 41738/10 [Q. v. Belgium] - HUDOC Rn. 173; vom 23. August 2016 - 59166/12 [J. K. and others v. Sweden] - HUDOC Rn. 79). Insoweit sind die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Abschiebungszielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (EGMR, Urteil vom 23. August 2016, a.a.O., Rn. 83). In außergewöhnlichen Einzelfällen können schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12 -, juris Rn. 23 und 25; Beschluss vom 8. August 2018, a.a.O., Rn. 9; OVG Lüneburg, Urteil vom 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 45; VGH Mannheim, Urteil vom 17. Dezember 2020 - A 11 S 2042/20 - juris Rn. 26). In diesen Ausnahmefällen müssen zu schlechten humanitären Verhältnissen ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten, um diese als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren zu können (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12 -, juris Rn. 25; VG Saarlouis, Urteil vom 27. Januar 2023 - 3 K 1208/22 -, juris Rn. 37).
Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist jedoch keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 13). Allerdings müssen die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" erreichen. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018, a.a.O., Rn. 11; VG Göttingen, Urteil vom 22. Dezember 2021 - 1 A 74/21 -, juris Rn. 25). Bei "nichtstaatlichen" Gefahren für Leib und Leben ist allerdings ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem etwa die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK "zwingend" sind. Dabei sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen sowie die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 38; OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Juli 2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 26; zur Lage im Libanon vgl. auch die Beschreibung in VG Hamburg, Urteil vom 9. September 2021 - 14 A 6163/21 - juris Rn. 37 ff.; VG Stuttgart, Urteil vom 14. Dezember 2022 - A 7 K 3714/20 - juris Rn. 48 ff.; VG Saarlouis, Urteil vom 27. Januar 2023 - 3 K 1208/22 -, juris Rn. 29 ff.).
Der Libanon ist aus eigener Kraft weder in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren noch substanziell den eigenen Staatshaushalt nachhaltig zu finanzieren (BAMF, Länderreport 32 - Libanon, Stand 12/2020, S. 6). Das Land ist auf die Einfuhr von Gütern wie auf Zufluss von Devisen angewiesen, die in erster Linie durch Remittenten aus dem Ausland erbracht werden. Die Staatsbank (Banque Du Liban) hielt den seit 1997 bestehenden festen Wechselkurs der libanesischen Lira zum Dollar nach dem im Oktober 2019 einsetzenden Währungsverfall künstlich aufrecht und verhinderte den Abfluss von Devisen (BAMF, ebd.); wichtige Güter wie Nahrungsmittel - 85 % werden importiert -, Treibstoff oder Medikamente wurden subventioniert, indem die Staatsbank Devisen zum offiziellen Wechselkurs bereitstellte. Dieses System ist zusammengebrochen. Die Dollar-Reserven der Banken sind aufgebraucht, die Lira hat auf dem Schwarzmarkt mehr als 90 % ihres Wertes verloren (Congressional Research Service, Focus Lebanon, Stand 21. April 2021, S. 29). Die durch einen Kollaps des Banken- und Finanzsystems ausgelöste und durch die Zerstörung des Beiruter Hafens am 4. August 2020 sowie die COVID-19-Pandemie weiter stark verschärfte Wirtschaftskrise, in deren Zuge die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung ihre Ersparnisse verloren hat, hat unter anderem zu einer Hyperinflation geführt, die nicht durch einen Anstieg von Löhnen kompensiert wird.
Insbesondere sind die Preise für Lebensmittel so stark gestiegen, dass viele Geschäfte vorübergehend gar keine Lebensmittel mehr anbieten können und sich die Preise unter anderem für Grundnahrungsmittel vervielfacht haben. Die Verteuerung der Lebensmittel lag im Juni 2020 bei circa 200 % (Zeit online: Hälfte der Lebensmittelbestände im Libanon bald aufgebraucht, 1. Februar 2021, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/corona-wirtschaftskrise-libanon-lebensmittel-nahrungsversorgung-armut-lockdown). Die Verteuerung einiger Grundnahrungsmittel hat bis August 2021 sogar 350 % erreicht (Euro-Med Human Rights Monitor, Lebanon: Falling Into The Abyss, August 2021, S. 7), im Juni 2022 lag sie bei 332 % (Länderinformation Libanon, Staatendokumentation des BFA, 1. März 2023, S. 60). Die Preise für Strom, Wasser und Gas sind zwischen Juni 2021 und Juni 2022 um 595 % angestiegen (Länderinformation Libanon, Staatendokumentation des BFA, S. 60). Die Inflation wird durch den beabsichtigten und zum Teil bezüglich Benzin und Weizen bereits durchgeführten Wegfall der staatlichen Subventionierung insbesondere von Lebensmitteln voraussichtlich noch weiter ansteigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, 4. Januar 2021, S. 20; Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 8; zur Einstellung der Subventionen für Treibstoffimporte: BAMF Briefing Notes. 16. August 2021, S. 9; Länderinformation Libanon, Staatendokumentation des BFA, S. 61). Hinzu kommen nunmehr noch weitere erhebliche Probleme durch die im Zuge des Krieges in der Ukraine verursachten großen Folgen bei der Lieferung von Weizen. Vor dem Krieg bezog der Libanon 80 % der gesamten Weizenzufuhr aus der Ukraine und etwa 15 % aus Russland (Länderinformation Libanon, Staatendokumentation des BFA, S. 61; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 15. September 2023 - VG 3 K 1207/19.A -, juris). Russland ist seit 2018 der weltgrößte Exporteur von Weizen, die Ukraine ist auf dem Weg zu Platz Nummer drei gewesen. Weil die ukrainischen Häfen zunächst länger geschlossen waren, konnte kein Getreide das Land verlassen. Die Preise für Weizen sind in kurzer Zeit sehr stark gestiegen (vgl. FAZ-Online: Ukraine-Krieg sorgt für Chaos an den Rohstoffmärkten, 28. Februar 2022, https://www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzmarkt/ukraine-konflikt-sorgt-fuer-chaos-an-den-rohstoffmaerkten-17839798.html). Trotz der zwischenzeitlich erfolgten Auslieferung von Weizen aus der Ukraine ist die Versorgung der Bevölkerung mit Brot im Libanon jedoch weiterhin kritisch. Der anhaltende Krieg in der Ukraine treibt die Preise für Grundnahrungsmittel und Energie weiter in die Höhe und führt zu Versorgungsengpässen, was insbesondere durch das Auslaufen des Getreideabkommens im Sommer 2023 verschärft wird (vgl. Tagesschau.de: Hohe Weizenpreise - im Libanon wird das Brot knapp, 7. Juni 2022 - https://www.tagesschau.de/ausland/asien/libanon-brotmangel-101.html; Tagesschau.de: Getreideabkommen ausgelaufen, 18. Juli 2023 - https://www.tagesschau.de/ausland/europa/getreideabkommen-reaktionen-verlaengerung-104.html; Länderinformation Libanon, Staatendokumentation des BFA, S. 61).
Die Verknappung von Treibstoff hatte auch negative Auswirkungen auf die Stromversorgung, die erheblich eingeschränkt ist (vgl. Spiegel Online: Stromkrise im Libanon, der perfekte Kurzschluss, 15. Mai 2021, https://www.spiegel.de/ausland/libanon-strom-krise-der-perfekte-kurzschluss-a-a8482a17-1bdd-4022-995d-c322205aeb06). Durch den Ukraine-Krieg sind nunmehr auch die Treibstoffpreise weiter enorm gestiegen. Private Betreiber von Stromgeneratoren haben immer größere Probleme, den für den Betrieb der Generatoren erforderlichen Treibstoff zu erhalten, zumal die Banken vielfach die für den Einkauf erforderlichen Kredite nicht auszahlen. Hinzu kommt schließlich, dass dem öffentlichen Wasserversorgungssystem akut der Kollaps droht. Es gibt weder ausreichend Elektrizität noch Treibstoff, um Wasserpumpen umfassend funktionstüchtig zu erhalten, noch hinreichend Ersatzteile oder beispielsweise Chlor, um die Trinkwassersicherheit zu gewährleisten. Nach einem Bericht von UNICEF droht die Wasserversorgung von etwa vier Millionen Menschen im Libanon zusammenzubrechen (vgl. Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 34 ff m.w.N.)
Das im regionalen Vergleich bislang gut ausgestattete Gesundheitssystem ist ebenfalls unter Druck geraten, da die meisten Medikamente eingeführt werden müssen. Seit Oktober 2019 stellte die Banque du Liban für 85 % des Warenwertes Devisen bereit und subventionierte so die Einfuhr zum günstigen offiziellen Wechselkurs (BAMF, Länderreport, a.a.O., S. 10). Der regional günstige Preis von Medikamenten führte zu Schmuggel ins Ausland in erheblichem Umfang, zu Vorratskäufen und Zurückhalten von Medikamenten durch die Importunternehmen, so dass bereits Ende 2020 zahlreiche Apotheken mangels Ware schließen mussten (BAMF, Länderreport, ebd.). Die Subventionierung des Imports wurde im Sommer 2021 eingestellt (Euro-Med Human Rights Monitor, Lebanon: Falling Into The Abyss, August 2021, S. 8). Mittlerweile können Medikamente wegen des Devisenmangels nur noch sehr begrenzt importiert werden (BAMF, Briefing Notes, 16. August 2021, S. 9).
Die Armut in der libanesischen Bevölkerung ist im Verlauf der anhaltenden schweren Wirtschaftskrise rasant angestiegen. Bereits 2019 konnten 28 % der libanesischen Bevölkerung nicht das Existenzminimum selbständig durch Einkommen erwirtschaften, wobei bereits vor der Explosion des Beiruter Hafens geschätzt wurde, dass dieser Wert im Laufe des Jahres 2020 auf 55 % steigen würde (BAMF, Länderreport, a.a.O., S. 6). In absoluter Armut lebten 2020 geschätzte 23 % der Bevölkerung (ebd.). Geschätzte 77 % der Familien verfügen nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um genügend Lebensmittel zu kaufen (Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 43, a.a.O. m.w.N.). Dreiviertel der Bevölkerung leben an oder unter der Armutsgrenze von ca. vier US-Dollar pro Tag (Länderinformation Libanon, Staatendokumentation des BFA, S. 61). Die Arbeitslosigkeit in der libanesischen Bevölkerung liegt derzeit nach Schätzungen bei über 30 % (vgl. Auswärtiges Amt, 4. Januar 2021, S. 20; Euro-Med Human Rights Monitor, a.a.O., S. 61, wonach die Arbeitslosigkeit bei knapp 37 % liegen soll). Etwa 37 % der Beschäftigten verdienen weniger als 1 Mio. libanesische Lira, was zwischenzeitlich bei einem Schwarzmarkt-Wechselkurs von 8500 Lira je Dollar umgerechnet 117 Dollar entsprach (Euro-Med Human Rights Monitor, ebd.).
Insoweit sind die wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage im Libanon zwar sehr schlecht (vgl. zum Ganzen: VG Göttingen, Urteil vom 27. September 2021 - 1 A 35/19 - juris Rn. 24 ff.; VG Hamburg, Urteil vom 9. September 2021 - 14 A 6163/21 -, juris Rn. 37 ff.). Allerdings lässt sich vor diesem Hintergrund für libanesische Staatsangehörige nicht pauschal feststellen, dass grundsätzlich eine ernsthafte Gefahr einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren fehlenden Existenzsicherung bei der Rückkehr in den Libanon besteht. Zwar haben sich die Lebensbedingungen für die meisten Bewohner des Libanons in den letzten Jahren erheblich verschlechtert und viele müssen in prekären Verhältnissen leben. Hinreichende Anhaltspunkte, dass es der libanesischen Bevölkerung allgemein nicht mehr möglich ist, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und deswegen allgemein die konkrete Gefahr von Hunger und Entbehrungen besteht, liegen jedoch nicht vor (vgl. VG Saarlouis, Urteil vom 17. April 2023 - 3 K 84/23 -, juris Rn. 16; OVG Bremen, Beschluss vom 19. Juli 2022 -1 LA 130/21-, juris Rn. 19). Eine hiervon abweichende Bewertung ergibt sich fallbezogen und hängt von den individuellen Umständen und Faktoren des Einzelfalls ab wie etwa Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Volkszugehörigkeit, Ausbildung, Vermögen und den familiären oder freundschaftlichen Verbindungen (VG Saarlouis, Urteil vom 17. April 2023 - 3 K 84/23 -, juris Rn. 17). Wie bereits ausgeführt müssen zu schlechten humanitären Verhältnissen ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten, um diese als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren zu können.
Ein solch außergewöhnlicher Fall ist zur Überzeugung des Gerichts vorliegend nicht gegeben. Den dargestellten Maßstab zugrunde gelegt, sind keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Libanon Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
Dabei geht das Gericht zunächst davon aus, dass der Kläger gemeinsam mit seinen Eltern (und seinen Geschwistern) in den Libanon zurückkehren wird.
Bei der im Rahmen der Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu leistenden Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine zwar notwendig hypothetische, aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist für die Bildung der Prognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 15 ff.; VGH Mannheim, Beschluss vom 6. Dezember 2022 - 12 S 2546/22 -, juris Rn. 40). Die Regelvermutung der gemeinsamen Rückkehr als Grundlage der Prognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die bereits im Bundesgebiet tatsächlich besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 18). Eine familiäre Lebensgemeinschaft meint dabei eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, bei der ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 26). Dies gilt insbesondere für die familiäre Lebensgemeinschaft mit besonders schutzbedürftigen minderjährigen Kindern, denn Eltern sind zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Sie haben für einen angemessenen Unterhalt des Kindes zu sorgen, zumindest aber die Existenz des Kindes auch finanziell sicherzustellen, soweit und solange sie hierzu in der Lage sind (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 26).
Vor diesem Hintergrund entspricht es einer zwar hypothetischen, aber realitätsnahen Rückkehrsituation, von einer Rückkehr des Klägers zusammen mit seinen Eltern (und seinen Geschwistern) auszugehen. Denn der Kläger und seine Geschwister sind minderjährig und leben in Deutschland mit ihren Eltern zusammen. Danach existiert zwischen dem Kläger und seinen Eltern (sowie Geschwistern) eine bereits im Bundesgebiet tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft, die die Prognose rechtfertigt, dass sie auch bei Rückkehr in den Libanon fortgesetzt werden wird. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Eltern (und Geschwister) jeweils eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG erhalten haben, wie der Kläger vorgetragen hat. Nach der Rechtsprechung des Eufach0000000005s gilt die Regelvermutung der gemeinsamen Rückkehr auch dann, wenn einzelne Mitglieder der Kernfamilie bereits über bestandskräftige Bleiberechte verfügen (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 19, 21). Denn im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG (sogenanntes zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot; vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 2023 - 1 VR 1/23 -, juris Rn. 22) wird bei der zu treffenden Prognoseentscheidung, ob den einzelnen Familienmitgliedern im Herkunftsland Gefahren drohen, das sich im Regelfall aus Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK ergebende Trennungsverbot berücksichtigt (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 15). Den sich aus dem Wohl des Kindes oder den familiären Bindungen ergebenden Belangen, die einer tatsächlichen Abschiebung entgegenstehen könnten, sind hingegen erst im Rahmen der Überprüfung der eigentlichen Rückkehrentscheidung, hier der Abschiebungsandrohung, Rechnung zu tragen (siehe unter II.).
Vorliegend ist das Gericht nicht zu der Einschätzung gelangt, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Libanon in eine existenzgefährdende Situation geraten wird. Vielmehr sind die Eltern des Klägers - gestützt auf ein familiäres Netzwerk - aus Sicht des Gerichts in der Lage, für sich und ihre minderjährigen Kinder den Lebensunterhalt zu bestreiten, wenn auch auf einem gegebenenfalls niedrigen Niveau, so dass der Kläger ein Leben (jedenfalls) am Rande des Existenzminimums wird führen können.
Denn zum einen war der Vater des Klägers schon vor seiner Ausreise im Libanon erwerbstätig. Er hat als LKW-Fahrer seinen Lebensunterhalt bestritten. Zwar hat er ein paar Jahre vor der Ausreise seinen LKW verkauft, von dem Erlös gelebt und nicht mehr gearbeitet. Jedoch liegen keine durchgreifenden Anhaltspunkte vor, weshalb der gesunde, junge und arbeitsfähige Vater des Klägers nach der Rückkehr in den Libanon nicht wieder als LKW-Fahrer arbeiten oder einer sonstigen Beschäftigung (gegebenenfalls Aushilfstätigkeiten oder Gelegenheitsjobs) nachgehen könnte. Ferner ist auch die Mutter des Klägers jung, gesund und arbeitsfähig. Auch wenn sie vor der Ausreise nicht gearbeitet hat und Hausfrau gewesen ist, ist nicht ersichtlich, weshalb sie nicht auch zum Familieneinkommen wird beitragen können. Bei der Betreuung des Klägers und seiner (jungen) Geschwister dürften insbesondere die älteren Geschwister, die 2006 und 2009 geboren wurden, zumindest zeitweise unterstützen können. Ferner erscheint auch durchaus möglich, dass die älteste Schwester des Klägers, die kommendes Jahr volljährig wird, in absehbarer Zeit zum Familienunterhalt wird beitragen können. Hinzu kommt, dass der Kläger auf ein großes Netz an Familienangehörigen in Deutschland zurückgreifen kann, die ihn im Libanon zumindest in finanzieller Hinsicht unterstützen können. So leben drei Onkel und eine Tante des Klägers in Deutschland, die alle berufstätig sind. Zudem leben einige Cousins und Cousinen in Deutschland, von denen mindestens zwei berufstätig sind. Ferner leiden weder die Eltern, noch die Geschwister des Klägers oder er selbst an schweren Erkrankungen.
II.
Die von der Beklagten in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Abschiebungsandrohung sowie das in Ziffer 6 angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot sind jedoch rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
Rechtsgrundlage für den Erlass der in Ziffer 5 ausgesprochenen Abschiebungsandrohung ist § 34 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG. Nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG ist eine Abschiebungsandrohung nur zu erlassen, wenn der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt. Dabei steht nur der Besitz eines förmlichen Aufenthaltstitels im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 AufenthG dem Erlass der Abschiebungsandrohung entgegen (vgl. Pietzsch in BeckOK AuslR, 38. Ed. 1. Januar 2023, AsylG, § 34 Rn. 25). Vorliegend verfügt der Kläger im nach § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 2 AufenthG. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG stellt einen Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AufenthG dar. Damit liegen die Voraussetzungen für den Erlass der Abschiebungsandrohung nicht vor.
Unabhängig hiervon ist die Abschiebungsandrohung bereits deshalb rechtswidrig, weil die Kindeswohlbelange des Klägers und dessen familiäre Bindungen im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nach § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen.
Die im deutschen Asyl- und Ausländerrecht auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG zu erlassende Abschiebungsandrohung stellt eine "Rückkehrentscheidung" im Sinne des Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (sogenannte Rückführungsrichtlinie) dar (BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - juris, Rn. 41, 45 und 56; BVerwG, Beschluss vom 8. Juni 2022 - 1 C 24.21 - juris Rn. 18). Daher muss die Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung unionsrechtlichen Anforderungen genügen. Nach Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie in gebührender Weise das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen. Dabei ist Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dahingehend auszulegen, dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines Verfahrens, das zum Erlass einer gegen den Minderjährigen ergehenden Rückkehrentscheidung führt, zu schützen sind (EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 -, Rn. 28). Es genügt nicht, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens, das den Vollzug der Rückkehrentscheidung betrifft, geltend machen kann (EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 -, Rn. 28). Vielmehr hat ein Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vorzunehmen und dabei das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen zu berücksichtigen (EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 -, Rn. 26 f.).
Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass die in Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie genannten Belange nicht ausschließlich einer späteren Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten bleiben können. Vielmehr sind das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen entgegen der Konzeption des deutschen Asylgesetzes als inlandsbezogene Abschiebungsverbote bereits vor Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG durch das C. zu prüfen (VG Minden, Beschluss vom 4. Mai 2023 - 2 L 84.A -, juris Rn. 59 m.w.N.; VG München, Urteil vom 3. April 2023 - M 27 K 22.30441 -, juris Rn. 27 ff.; VG Hannover, Beschluss vom 17. Oktober 2023 - 1 B 2537/23 -, juris Rn. 6).
Daran gemessen genügt die in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheids erlassene Abschiebungsandrohung unter Würdigung der konkreten familiären Verhältnisse des Klägers nicht den unionsrechtlichen Anforderungen. Denn der Abschiebung des minderjährigen Klägers stehen im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt das Kindeswohl und die familiären Bindungen im Sinne des Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie entgegen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, dazu, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebenden Personen angemessen berücksichtigen. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen Mitgliedern der Kernfamilie nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, weil etwa einzelne Mitglieder der Kernfamilie über gesicherte Aufenthaltsrechte in Deutschland verfügen und ihnen das Verlassen des Bundesgebietes nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, juris Rn. 45 ff.; VG Hannover, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 12 B 8/22 -, juris Rn. 28).
So liegt der Fall hier. Die Vollstreckung der Ausreisepflicht des Klägers nach dem zu erwartenden fruchtlosen Ablauf der gesetzten Ausreisefrist von 30 Tagen ab Rechtskraft des Urteils berücksichtigt das Kindeswohl und die familiären Bindungen nicht in verhältnismäßiger Weise, sodass gleiches auch für die Androhung der Abschiebung gilt. Denn der Kläger lebt in einer nach Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK grundrechtlich und konventionsrechtlich geschützten Lebens- und Erziehungsgemeinschaft mit seinen Eltern. Eine zur Vermeidung der Abschiebung grundsätzlich erforderliche freiwillige Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens ist derzeit nicht zumutbar. Dabei kommt eine alleinige Ausreise des im Jahre 2021 geborenen Klägers von vorneherein nicht in Frage. Ebenso wenig kommt eine freiwillige Ausreise gemeinsam mit seiner Mutter oder seinem Vater in Betracht. Denn die Eltern des Klägers verfügen jeweils über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG und somit über einen Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AufenthG. Demnach ist von ihnen eine Rückkehr in den Libanon zur Umsetzung einer fristgerechten Ausreise des Klägers nicht zu erwarten.
Durch einen Vollzug der dem Kläger angedrohten Abschiebung käme es aufgrund des Aufenthaltsrechts der Eltern des Klägers zu einer nicht zu rechtfertigenden Trennung von Eltern und Kind. Zum einen kann dem Kläger in Anbetracht seines jungen Alters der Grund für die Trennung nicht verständlich gemacht werden. Zum anderen ist nicht absehbar, dass die zu erwartende Dauer der Trennung, insbesondere vor dem Hintergrund des Alters des Klägers und der Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung, verhältnismäßig kurz und damit hinnehmbar ist (vgl. hierzu auch VG München, Urteil vom 3. April 2023 - M 27 K 22.30441 -, juris Rn. 30 f.). Daher muss das öffentliche Interesse an einer wirksamen Vollstreckung der Ausreisepflicht im Fall des Klägers hinter dem Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindungen zurückstehen.
Den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie wird auch nicht dadurch genügt, dass der Kläger im streitgegenständlichen Bescheid auf ein dem Erlass der Abschiebungsandrohung nachgelagertes Verfahren verwiesen wird, in dem die Ausländerbehörde über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gemäß § 43 Abs. 3 S. 1 AsylG entscheidet, um eine gemeinsame Ausreise mit den Eltern zu ermöglichen. Denn nach der erwähnten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen bereits bei Erlass der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen (EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 -, Rn. 28).
Damit ist auch der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids rechtswidrig und aufzuheben. Denn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG kann gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG nach Aufhebung der Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S.1 Alt. 2 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1 und 2 ZPO.