Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.10.2019, Az.: 6 A 4392/17

Al-Dulaimi; Ba`ath; Baath; Bagdad; bestimmte soziale Gruppe; Dulaim; Dulaimi; Dulaym; Entführung; Erpressung; Falludscha; Folter; Irak; Lösegeld; politische Verfolgung; Stamm

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
10.10.2019
Aktenzeichen
6 A 4392/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69805
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Lage von Angehörigen des irakischen Stammes Al-Dulaimi (Synonyme: al-Dulaym, al-Dulaim)

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der im Jahr 1994 geborene Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge Anfang Februar 2015 aus dem Irak aus und Ende August 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt gab er an, in Bagdad geboren zu sein. Seine beim Bundesamt ursprünglich aufgenommenen Personendaten sei teilweise fehlerhaft. Sein Nachname setze sich nicht aus dem Namen seines Vaters zusammen; vielmehr laute er allein Al-Dulaimi, wie auch in seinem Personalausweis vermerkt sei. Als er noch klein gewesen sei, habe seine Familie Bagdad verlassen müssen, da schiitische Milizen seinen Vater bedroht hätten. Sie seien in die Stadt Falludscha in der irakischen Provinz al-Anbar gegangen, weil dort überwiegend Sunniten leben würden und sie dort auch Verwandtschaft hätten. Von 2007 bis 2014 habe er in Falludscha gelebt und sei dort zur Schule gegangen. Nachdem der „Islamische Staat“ (IS) im Jahr 2014 die Stadt Falludscha eingenommen habe, sei seine Familie wieder nach Bagdad geflohen. Dort habe er bis zu seiner Ausreise gelebt. Zu seinem persönlichen Werdegang erklärte der Kläger, er sei im Irak Schüler gewesen und habe geplant, sein Abitur abzulegen. Im Nebenjob habe er seinem Vater geholfen, der als Krankenpfleger nebenberuflich Pflegehilfsmittel verkauft habe. Seine Eltern würden sich gegenwärtig noch in Bagdad aufhalten. Im Irak würden weiterhin vier seiner Brüder und eine Schwester leben. Eine andere Schwester lebe gegenwärtig in Rumänien; seine Cousins hielten sich in der Türkei auf.

Zu den Gründen seiner Ausreise erklärte der Kläger, er sei ca. zehn Tage vor seiner Ausreise von ihm unbekannten Personen, augenscheinlich Polizeibeamten, zur Erpressung von Lösegeld entführt und während der Dauer seiner ca. 1 ½ tägigen Gefangennahme gefoltert worden. An dem Tag seiner Entführung sei er abends gegen 19:00 Uhr zu Fuß in Bagdad unterwegs gewesen, um Freunde zu besuchen. Auf einmal habe ein weißes Auto neben ihm angehalten, ein Zivilfahrzeug bzw. Geländewagen vom Typ Kia. Er vermute, dass es sich bei den drei Insassen des Wagens allerdings um Polizisten gehandelt habe, da sie uniformiert sowie bewaffnet gewesen seien und Funkgeräte mit sich geführt hätten. Sie hätten ihn zu seiner Person befragt; hierbei habe er seine vollen Personalien angeben müssen. Daraufhin habe ihm einer der Männer gesagt, dass er einer Straftat verdächtig und zu vernehmen sei. Der Mann habe ihn mit seiner Waffe bedroht und auf die Rückbank des Autos gezogen. Die Fahrzeuginsassen hätten ihm einerseits gesagt, dass es ein Verhör geben werde, dieses aber nicht lange dauern und er danach sofort freigelassen würde. Andererseits hätten die Männer ihm sofort die Augen verbunden, Handschellen angelegt und Stillschweigen geboten. Die ganze Fahrt über hätte ihm jemand eine Waffe direkt an den Kopf gehalten. Er schätze, dass sie länger als eine Stunde gefahren seien. Nach der Ankunft am Zielort hätten ihn die Männer in ein Gebäude geführt – den Geräuschen nach in ein Wohnhaus, weil er meine, in der Ferne spielende Kinder gehört zu haben. Dort hätten sie ihn zu Boden gestoßen, geschlagen und an mehreren Stellen seines Körpers mit einem heißen Messer oder Metallstück verbrannt. In diesem Zusammenhang legte der Kläger dem anhörenden Entscheider ausweislich der Feststellungen im Anhörungsprotokoll des Bundesamts fünf Fotos vor, von denen drei zweifelsfrei den Kläger abbildeten. Diese zeigten eine stark geschwollene und gerötete Nase, Abriebstellen und Wunden an seinen Handgelenken sowie eine Brandblase an seinem Hals. Ein weiteres Foto zeigt den mit Striemen übersäten Rücken eines jungen Mannes sowie eine kleine und eine größere, jeweils stark gerötete Brandwunde an der Taille.

Der Kläger ergänzte, einer der Männer hätte ihm sein Mobiltelefon weggenommen und ihn nach seiner PIN gefragt. Dann sei er mit seinem Handy verschwunden. Er, der Kläger, habe für die gesamte Dauer der Entführung keine Toilette benutzen dürfen, sondern sei gezwungen gewesen, auf den umliegenden Boden zu urinieren. Er habe mehrere Stimmen gehört, meistens aber habe nur eine Person mit ihm gesprochen, vermutlich der Anführer. In der Nacht des darauffolgenden Tages, d.h. ca. 1 ½ Tage nach Beginn seiner Entführung, hätten ihn die Männer wieder in ein Auto gesetzt und seien ca. 15 bis 30 Minuten mit ihm durch die Nacht gefahren. Dann hätten sie ihn mit verbundenen Augen sowie gefesselten Händen und Füßen ausgesetzt. Er habe damals große Angst gehabt, von Hunden angefallen zu werden, weil er in der Nähe Hundegebell gehört habe. Irgendwie habe er es geschafft, die Augenbinde zu entfernen, sei zu einer 15 bis 20m entfernten Straße gelaufen und habe versucht, vorbeifahrende Autos anzuhalten. Die Fahrer hätten ihre Wagen aber nicht gestoppt, vermutlich aus Angst. Irgendwann seien dann Polizisten erschienen und hätten ihn zunächst mit ihren Waffen in Schach gehalten. Nachdem er sie davon habe überzeugen können, Opfer einer Entführung geworden zu sein, hätten sie ihn zur Polizeistation gebracht und vernommen. Überdies hätten sie ihm mitgeteilt, dass einer der Autofahrer, der zuvor nicht angehalten habe, sie verständigt habe. Sein Vater, sein Bruder und sein Cousin seien zur Polizeistation gekommen, um ihn abzuholen.

Später habe sein Vater ihm dann erzählt, dass die Entführer telefonisch 100.000,00 US-Dollar für seine Freilassung gefordert und angedroht hätten, ihr Opfer andernfalls zu töten. Sein Vater hätte entgegnet, dass sie Vertriebene aus Falludscha seien und eine derartige Summe nicht aufbringen könnten. In einem weiteren Telefonat habe der Entführer dann „als letztes Angebot“ 20.000,00 US-Dollar verlangt und mitgeteilt, ihn bei Nichtzahlung dieser Summe definitiv zu töten. Sein Vater habe sich dieses Geld bei Freunden und Bekannten zusammengeliehen; er zahle es zum Zeitpunkt der Anhörung immer noch ab. Ein Neffe seines Vaters sei zum vereinbarten Übergabeort gelotst worden. Später habe jener ihm erzählt, dass die Personen, welche das Geld entgegengenommen hätten, ein weißes Auto fuhren. Für seine Familie, so der Kläger im weiteren Verlauf der Anhörung, sei seine Entführung besonders schlimm gewesen, weil die Entführer ihn nicht gleich nach der Lösegeldübergabe freigelassen hätten. Seine Angehörigen seien lange im Unklaren geblieben, ob er wirklich freigelassen werde oder bereits getötet worden sei. Die Polizei habe sich nach dem Vorfall nicht mehr bei ihnen gemeldet. Sein Vater habe ihm unmittelbar nach der Entführung gesagt, dass er, der Kläger, zu seiner eigenen Sicherheit das Land verlassen müsse.

Abschließend erklärte der Kläger, im Falle seiner Rückkehr in den Irak habe er große Angst davor, abermals entführt zu werden. In regelmäßigen Abständen habe er Panikattacken, wenn er an die Entführung zurückdenke, insbesondere an die Zeit im Auto, als ihm jemand permanent eine Waffe an den Kopf gehalten habe. Er wolle deshalb jedoch nicht in ärztliche Behandlung gehen, sondern versuche, selbst mit dem Erlebten umzugehen.

Mit Bescheid vom 11. Mai 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) ab und erkannte dem Kläger den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 5). Zur Begründung führte es aus, die vom Kläger vorgetragene Entführung sei augenscheinlich aus einem rein kriminellen Hintergrund erfolgt, womit es an einem flüchtlingsrechtlich relevanten Anknüpfungsmerkmal fehle. Dem Kläger drohe auch kein ernsthafter Schaden. Aufgrund der geschilderten, zufällig zustande gekommenen Gefangenschaft sei auch nicht erkennbar, dass die Entführer noch ein gezieltes Interesse an ihm hätten oder ihm die Gefahr einer erneuten Inhaftierung drohe.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 23. Mai 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft sein Prozessbevollmächtigter das bisherige Vorbringen. Er gehe insbesondere davon aus, dass es sich bei den Entführern um Polizisten schiitischer Konfession gehandelt habe, die nach Vorzeigen seines Personalausweises zweifellos hätten erkennen können, dass er Sunnit sei. Der Kläger befürchte auch einen neuen Angriff, wenn er in den Irak zurückkehren müsse, denn die Personen, die ihn überfallen hätten, hätten von ihm alle persönlichen Daten erhalten, also Vor- und Nachnamen sowie die Anschrift.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 18. September 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

Der Kläger hat sich mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2019 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Beklagte hat bereits mit Generalerklärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 11. Mai 2017 zu verpflichten,

1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die im Hauptantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 2 VwGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

1.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 11. Mai 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23.12, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 –9 C 14.89, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der substantiierten Angaben des Klägers gegenüber dem Bundesamt, deren Glaubhaftigkeit nicht bestritten wurde, ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, d.h. wegen der ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung (§ 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG) sowie der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Die hierfür sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12), kommt dem Kläger die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (lit. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (lit. b). Mögliche Beispiele einer solchen sozialen Gruppe, welche weder eine bestimmte Größe noch einen spezifischen inneren Zusammenhalt aufweisen muss, sind beispielsweise sexuelle Minderheiten, aber auch bestimmte Berufsgruppen, denen die Gesellschaft unabänderlich eine Sonderrolle oder gar ein Stigma zuschreibt (VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019 – 6 A 4916/17, juris LS 1, Rn. 29; Urteil vom 07.08.2019 – 6 A 1240/17, juris LS 1, Rn. 37; Urteil vom 21.03.2018 – 6 A 6714/16, juris LS, Rn. 58 ff.; Hecht/Koch, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2. Auflage 2017, § 5 AsylG, Rn. 166; a.A.: VG Weimar, Urteil vom 27.02.2019 – 7 K 20954/16 We, www.asyl.net, S. 9 f.), ferner ethnische Volksgruppen, Stämme oder Familien (OVG Hamburg, Urteil vom 22.04.2010 – 4 Bf 220/03.A, EZAR NF 60 Nr. 13, LS 1; Österreichischer Verwaltungsgerichtshof, Entscheidung vom 14.01.2003 – VwGH 2001/01/0508, www.rdb.manz.at; VG Dresden, Urteil vom 24.07.2019 – 13 K 1563/18.A, juris S. 5; VG Düsseldorf, Urteil vom 12.03.2015 – 6 K 8197/14.A, juris Rn. 26; VG Hannover, Urteil vom 31.05.2019 – 6 A 7641/16, juris LS 2; Urteil vom 10.07.2019 – 6 A 2610/17, juris LS 3, Rn. 31; Hecht/Koch, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2. Auflage 2017, § 5 AsylG, Rn. 166). Die Anerkennung einer Familie oder eines Stammes als bestimmte soziale Gruppe setzt dabei voraus, dass diese(r) in der Gesellschaft des Heimatlandes des Ausländers auch als deutlich abgrenzbare Gruppe mit eigener "Gruppenidentität" wahrgenommen wird. Dies kommt insbesondere in Ländern und Regionen der Welt in Betracht, wo ein Familienverband, ein Clan oder ein Stamm aufgrund äußerlicher Merkmale oder sonstiger Kennzeichen eine Gruppenidentität aufweist, insbesondere, weil die Zugehörigkeit zur Familie, dem Clan oder dem Stamm im Lebensumfeld einen besonderen Stellenwert aufweist und identifikationsstiftend wirkt (VG Düsseldorf, Urteil vom 12.03.2015 – 6 K 8197/14.A, juris Rn. 26).

Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist darüber hinaus gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten schließlich gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 – 10 C 52.07, BVerwGE 133, 55, Rn. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rn. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7).

Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs ist der Kläger vorverfolgt aus dem Irak ausgereist. Seine diesbezügliche Aussage gegenüber dem Bundesamt enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details und Komplikationen im Handlungsverlauf, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten, sinnlicher Wahrnehmungen und unverstandener Handlungselemente. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf das ausführliche Anhörungsprotokoll des Bundesamts Bezug genommen.

Die dem Kläger gegenüber verübten Verletzungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG knüpften sich nach der Überzeugung des Einzelrichters überdies an die Zugehörigkeit zum Stamm Al-Dulaimi als bestimmte soziale Gruppe, ferner an die ihm von seinen Verfolgern als Mitglied dieses Stammes zugeschriebene politische Überzeugung. Der Kläger wurde nicht lediglich Opfer isolierten kriminellen Unrechts, sondern von Angehörigen der irakischen Polizei zur Erpressung von Lösegeld entführt und auch gefoltert, weil er dem Stamm Al-Dulaimi angehört, welcher der schiitischen irakischen Zentralregierung in weiten Teilen offen feindselig gegenübersteht.

Nach Einschätzung des Gerichts bilden die Angehörigen des Stammes Al-Dulaimi (Synonyme: al-Dulaym, al-Dulaim), zu dem auch der Kläger gehört, im Irak eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylGG, weil dieser Personenverbund mit einer deutlich abgrenzbaren, eigenen Gruppenidentität wahrgenommen wird, welche für die Stammesangehörigen einen besonderen Stellenwert genießt und identifikationsstiftend wirkt.

Die irakischen Stämme der Gegenwart haben dabei wenig mit den früheren, traditionellen Stämmen des Irak gemein, die ein klar abgegrenztes Territorium besaßen und auf landwirtschaftlichen Strukturen basierten. Die neuen Stammesgebilde sind vielmehr eine vorwiegend städtische Erscheinung. Ihre Führer, deren Wohnungen als Zentren des Stammeslebens dienen, setzen sich größtenteils aus Gebildeten der Mittelschicht zusammen, insbesondere Staatsbeamten. Die modernen Stämme sorgen für Recht und Ordnung und regeln Streitigkeiten unter ihren Mitgliedern sowie zwischen Stammesmitgliedern und anderen Clans, von wirtschaftlichen bis hin zu kriminellen Vergehen. Angesichts der verbreiteten Korruption innerhalb der Polizei und der Justiz regeln sie zudem sonstige Streitigkeiten gegen Entgelt oder bieten (bezahlten) Schutz (Jabar, Der Stamm im Staat, 18. Juli 2003, S. 11; VG Hannover, Urteil vom 11.06.2018 – 6 A 7435/16, juris Rn. 43). Dieses Begriffsverständnis vorangeschickt, galt der Stamm Al-Dulaimi nach einer Auskunft des Refugee Review Tribunal Australia aus dem Jahr 2005 zur damaligen Zeit als einer der einflussreichsten sunnitisch-arabischen Stämme des Irak, strenggenommen sogar als eine Stammesföderation (‘ashira), welche eine Zahl weiterer, kleinerer Stämme unter sich vereinte. Zum Berichtszeitpunkt stellten die Al-Dulaimi insbesondere den einflussreichsten Stamm in der Provinz Al-Anbar dar, welche mit den Städten Falludscha und Ramadi die Zentren des sunnitisch-arabischen Aufstandes gegen die (schiitische) irakische Zentralregierung beinhaltete (Refugee Review Tribunal Australia, RRT Research Response – IRQ17230, 23. März 2005, S. 1; siehe auch: VG Saarland, Urteil vom 14.12.2017 – 6 K 1538/16, www.asyl.net, S. 8). Die Mitglieder des Stammes Al-Dulaimi lassen sich üblicherweise anhand des Namens ihres eigenen Clans bzw. Unterstammes identifizieren, alternativ anhand des Nachnamens Al-Dulaimi (Wikipedia, Artikel: „Dulaim“, Stand: 9. Oktober 2019).

Während im Jahr 1995 die Albu Nimr, ein Unterstamm der Al-Dulaimi, in Ramadi eine kurzzeitige Revolte gegen das Baath-Regime anführten, gelten die Al-Dulaimi traditionell gemeinhin als ein Stamm, dessen Mitglieder im Sicherheitsapparat des ehemaligen irakischen Regimes (Militär und Geheimdienste) hochrangige Positionen bekleideten (vgl. The Independent, Artikel vom 20. August 1995, „Saddam's circles of hatred“), dessen Loyalität auch nach dem Sturz Saddam Husseins weiterhin beim früheren Ba‘ath-Regime liegt und der insbesondere der (ehemaligen) US-Besatzungsmacht sowie der neuen schiitischen Regierung des Irak feindselig gegenübersteht. Dies zeigt sich auch daran, dass Khalil Al-Dulaimi den ehemaligen Präsidenten Saddam Hussein nach dessen Sturz als Verteidiger im Gerichtsverfahren vertrat und ihn bis zuletzt als legitimes Staatsoberhaupt des Irak anerkannte. Der im Februar 2005 in der Provinz Al-Anbar verhaftete Taleb Mikhlef Al-Dulaimi galt zudem als der „Top Lieutenant“ von Musab al-Zarqawi, einem der bekanntesten Terroristen des Irak und hochrangigen Mitglied von Al-Qaida. Im Januar 2005 gab der Stamm Al-Dulaimi überdies offiziell bekannt, die am 30. Januar 2005 stattfindenden irakischen Parlamentswahlen zu boykottieren, weil diese illegitim seien, da durch „wohlbekannte regionale Kräfte“ beeinflusst und in einem seiner nationalen Souveränität beraubten Irak stattfindend (Refugee Review Tribunal Australia, RRT Research Response – IRQ17230, 23 March 2005, S. 2 f.).

Im gegenwärtigen Irak haben Teile des Stammes Al-Dulaimi, etwa die Albu Nimr, den IS unter Hinnahme massiver Verluste entschieden militärisch bekämpft (The Guardian, Artikel vom 30. Oktober 2014, „Isis kills hundreds of Iraqi Sunnis from Albu Nimr tribe in Anbar province“; Time, Artikel vom 4. November 2014, „Iraq Confirms ISIS Massacre of Sunni Tribe“; The Independent, Artikel vom 4. Juli 2018, „For this Iraqi tribe massacred by Isis, fear of the group's return is a constant reality“). Umgekehrt haben sich auch zahlreiche Mitglieder des Stammes Al-Dulaimi mit dem Kampf des IS gegen die irakische Zentralregierung solidarisiert, Berichten zufolge weniger aus Gründen religiöser Überzeugung, sondern mehr vor dem Hintergrund der langjährigen politischen Marginalisierung der sunnitischen Bevölkerungsminderheit (The Arab Weekly, Artikel vom 9. Oktober 2015, „Sunni tribes in Iraq and Syria split over ISIS“; The Wall Street Journal, Artikel vom 16. Juni 2014, „Unlikely Allies Aid Militants in Iraq“). So distanzierte sich beispielsweise im Juni 2014 der zur damaligen Zeit von der irakischen Zentralregierung gesuchte, in Erbil im Exil lebende Anführer des Stammes, Sheikh Ali Hatem al-Suleiman al-Dulaimi, in einem Zeitungsinterview von den sektiererischen Massenmorden des IS, wies jedoch zugleich Forderungen zurück, die militärische Unterstützung der Terrororganisation durch seinen Stamm zu unterbinden. Zugleich drohte er damit, mit „hunderttausenden Männern“ gen Bagdad zu marschieren, sollte der (schiitische) irakische Premierminister Nouri al-Maliki nicht zurücktreten (The Telegraph, Artikel vom 29. Juni 2014, „We will stand by Isis until Maliki steps down, says leader of Iraq's biggest tribe“).

Diese Erkenntnismittellage zur Wahrnehmung des Stammes Al-Dulaimi in der irakischen Gesellschaft findet ihre sachliche Entsprechung in der Verfolgung, welche dem Kläger in Bagdad im Frühjahr 2015 durch Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte widerfuhr.

In diesem Zusammenhang berücksichtigt das Gericht den durch Erkenntnisquellen gestützten Befund, dass sich im Irak die vom Bundesamt vertretene „trennscharfe“ Differenzierung zwischen in reiner Bereicherungsabsicht vorgenommenen Straftaten einerseits und konfessionell oder politisch motivierten Verfolgungshandlungen andererseits nur schwer vornehmen lässt. Zwischen Vereinigungen, die Menschen bestimmter Konfessionen oder Ethnien oder Angehörige bestimmter Berufsgruppen (z.B. Journalisten, Richter, Wissenschaftler und Ärzte) aus ideologischen oder „staatspolitischen“ Gründen entführen oder bedrohen, und solchen, die rein kriminelle Zwecke verfolgen, besteht lediglich ein schmaler Grat. Gerade in Bagdad gehen viele Entführungen auf das Konto krimineller Gruppen bzw. im Sinne von „Warlords“ agierender Milizen zurück, die oft über Stammesverbindungen eng mit der Politik verwoben sind und wichtige offizielle Positionen im irakischen Sicherheitsapparat (z.B. der Polizei) bekleiden, also in der Lage sind, kriminelles und ideologisches Handeln zu kombinieren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9.4.2019, S. 26, 31, 43; Bundesasylamt (BAA), Analyse der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 14; VG Hannover, Urteil vom 04.12.2018 – 6 A 7446/16, n.v., S. 12). Wie eingangs dargestellt, liegt eine erkennbare objektive Zielrichtung der Verfolgungsmaßnahme – und damit ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG – dabei bereits dann vor, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt, mögen auch sonstige (monetäre) Ziele in die Entscheidung der Verfolger eingeflossen sein. So liegt es im vorliegenden Fall.

Für den Fall des Klägers ist nämlich entscheidend in Ansatz zu bringen, dass er Anfang des Jahres 2015 nicht völlig anlasslos von Personen in Polizeiuniformen aus dem öffentlichen Straßenraum zur Erpressung von Lösegeld entführt wurde. Vielmehr hielten ihn die Täter zunächst lediglich an und überprüften seinen Personalien, wobei sie ihn durch den im vorgelegten Personalausweis vermerkten Nachnamen zweifelsfrei als Angehörigen des Stammes Al-Dulaimi identifizieren konnten; dies zu einer Zeit, als sich prominente Mitglieder des Stammes öffentlich mit dem IS gegen die schiitisch dominierte irakische Zentralregierung solidarisiert und dessen Feldzug militärisch-logistisch gefördert hatten. Erst nach Überprüfung seines Personalausweises zog einer der in Polizeiuniform auftretenden Täter unter vorgehaltener Waffe den Kläger in das Auto mit der Bemerkung, er sei „verdächtig“ und müsse vernommen werden. Der Kläger passte auch in das „gesellschaftliche Fahndungsraster“, da er aus Falludscha stammt, einer vom Stamm Al-Dulaimi dominierten traditionellen Hochburg des sunnitisch-arabischen Aufstandes gegen die irakische Zentralregierung. Ferner indizieren die im Protokoll des Bundesamts dokumentierten Folterverletzungen des Klägers, dass die Entführer nicht ausschließlich finanzielle Interessen verfolgten. Für die bloße Lösegelderpressung hätte es keiner massiver Gewaltanwendung bedurft, zumal das Lösegeld nahezu innerhalb eines Tages gezahlt wurde. Im Übrigen hielten die Entführer den Kläger seinen glaubhaften Angaben zufolge auch noch nach der Lösegeldzahlung weiterhin fest und folterten ihn. Schließlich sind auch andere Personen aus der Familie des Klägers in der Vergangenheit ohne objektive Anlässe jenseits ihrer Stammeszugehörigkeit bedroht worden, hatte der Kläger doch bereits zu Beginn der Anhörung beim Bundesamt angegeben, sein Vater, ein Krankenpfleger, habe Bagdad im Jahr 2007 mit seiner Familie wegen der Bedrohung durch schiitische Milizen gen Falludscha verlassen müssen.

Die dem hiernach Kläger widerfahrene (Vor-)Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG, weil sie von Angehörigen staatlicher Organisationen ausging. Dies gilt auch dann, sofern man unterstellt, dass es sich bei den Verfolgern nicht um reguläre Polizisten handelte, sondern um Mitglieder schiitischer PMF-Milizen, die in Bagdad eng mit den lokalen Polizeikräften kooperieren (VG Hannover, Urteil vom 01.08.2019 – 6 A 3218/17, juris Rn. 54-57 m.w.N.) oder sogar, so im Falle der besonders einflussreichen Badr-Organisation, das irakische Innenministerium und damit auch die Polizeikräfte kontrollieren (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9.4.2019, S. 41), was sich in der Praxis nicht zuletzt daran zeigt, dass Anhänger dieser PMF-Miliz(en) bei Einsätzen oftmals in den blauen Uniformen der irakischen Bundespolizei auftreten (VG Hannover, Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/16, juris Rn. 36 m.w.N.). Bei PMF-Milizen handelt es sich nämlich in Anbetracht ihrer Unterstützung und Finanzierung durch den irakischen Staat ebenfalls um staatliche Organisationen nach § 3c Nr. 1 AsylG (VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923716, juris Rn. 40 ff.). Dieses gilt umso mehr, als der schiitische irakische Ministerpräsident Adil Abdul-Mahdi zu Beginn des Juli 2019 verkündete, dass alle PMF-Milizen nunmehr als untrennbarer Teil der regulären irakischen Streitkräfte operieren sollen, womit die Gruppierungen nochmals gesteigerten staatlichen Schutz genießen, ohne dass hiermit effektive Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf deren Wirken einhergehen (VG Hannover, Urteil vom 09.09.2019 – 6 A 7414/16, juris; Urteil vom 25.07.2019 – 6 A 2971/17, juris Rn. 39, 48 m.w.N.).

Es sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht wird. Hierbei berücksichtigt das Gericht zu Gunsten des Klägers, der bereits Opfer von Folterungshandlungen war, zum einen die Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 – 10 C 11.08, juris Rn. 19; Nds. OVG, Urteil vom 28.07.2014 – 9 LB 2/13, juris Rn. 30). Zum anderen stellt es in seine Prognose die aus anderen Verfahren gewonnene Erkenntnis ein, dass (aus konfessionellen Gründen) entführte sunnitische Araber selbst nach Lösegeldzahlung und Freilassung Opfer weiterer Nachstellungen und Bedrohungen werden können (VG Hannover, Urteil vom 04.12.2018 – 6 A 7446/16, n.v., S. 18 f.).

Gegenüber der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr stehen dem Kläger auch keine zumutbaren inländischen Fluchtalternativen im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung an (siehe etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris Rn. 52 ff.), dass sich Flüchtlinge, insbesondere sunnitische Araber, im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16, S. 2). Insbesondere bietet sich für den Kläger keine zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die nach wie vor sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft vom 22. November 2017 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16, S. 5 f.; ebenso: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9.4.2019, S. 31 f.).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG liegen nicht vor.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.