Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 21.03.2018, Az.: 6 A 5487/16

Bagdad; Friedensbrigaden; Gemischte Ehe; Interner Schutz nicht möglich; Irak; Jaish al-Mahdi; JAM; Jaysh al-Mahdi; Konfession; Konfessionell gemischte Ehe; Miliz; Name; PMF; Popular Mobilization Front; Religiöse Verfolgung; Schiit; Sunnit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
21.03.2018
Aktenzeichen
6 A 5487/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 73975
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30. August 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger, arabischer Volks- und schiitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste am 13. Mai 2015 auf dem Landweg mit seiner Tochter D., der Klägerin im Verfahren 6 A 5070/16, über ihm unbekannte Länder in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 3. Juni 2015 bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 16. Dezember 2015 gab der Kläger an, er habe den Irak verlassen, da ihn Schiiten wegen seiner Ehe mit einer Suniitin, der Klägerin zu 1. im Verfahren 6 A 5074/16, bedroht hätten.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen führte der Kläger aus, er habe seine Ehefrau im Jahre 1995 geheiratet. Damals habe es keine Probleme zwischen Schiiten und Sunniten gegeben; diese seien erst nach dem Krieg entstanden. Er selbst habe seine Kinder, d.h. seine Tochter D. sowie die Kläger zu 2. bis 4. im Verfahren 6 A 5074/16, schlichtweg als Muslime erzogen, also ohne Ansehung konfessioneller Besonderheiten.

Im Irak habe er bis zuletzt als selbständiger Taxifahrer gearbeitet. Gewohnt habe er in Bagdad, in der Zeit von 1990 bis Juni/Juli 2014 im Ort Al-Mashtel, der zum Stadtteil Al-Risafa gehöre. Hierbei habe es sich um einen gemischten Stadtteil gehandelt. Später seien alle Sunniten vertrieben worden; die Familie habe danach nur noch unter schiitischen Nachbarn gelebt. Die Probleme zwischen Sunniten und Schiiten hätten in den Jahren 2005 und 2006 angefangen. Er habe gemerkt, dass sunnitische Familien das Viertel verlassen würden, habe seine Frau jedoch beruhigt, da er selbst im Viertel bekannt gewesen sei und als unpolitischer Mensch nie persönliche Probleme gehabt habe. Mittlerweile sei es jedoch schwierig zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden, da es viele verschiedene Gruppierungen von sunnitischer und schiitischer Seite gebe. Die Personen, die es auf ihn abgesehen hätten, hätten gewusst, dass seine Frau Sunnitin sei und hätten ihn aufgefordert, sie zu verlassen. Als er dies nicht getan habe, hätten sie sein Haus angezündet.

Drei Tage vor dem Hausbrand habe er einen Drohbrief mit einer Kugel erhalten mit der Aufforderung, seine Frau zu verlassen. Diesen Brief habe er weggeworfen. Am nächsten Tag, d.h. zwei Tage vor dem Hausbrand, seien dann zwei Anhänger der schiitischen Mahdi-Miliz zu ihm gekommen. Diese Leute hätten ihn gefragt, ob er seine Frau verlassen wolle. Als er dies verneint habe, hätten sie schlicht „Okay“ gesagt und seien gegangen. Er habe noch zwei Tage gearbeitet, dann aber einen Anruf von seiner Frau erhalten, dass er kommen solle und sie retten müsse, weil das Haus brenne. Als er zuhause angekommen sei, sei das Haus bereits schwarz gewesen. Seine Kinder hätten geweint. Er habe sich gedacht, dass er die Warnungen vorher hätte ernst nehmen müssen. Sie hätten den Ort dann verlassen und das Haus durch einen Makler verkauft, weil sie dachten, dass es nur noch schlimmer werden könne.

Darüber hinaus habe jemand versucht, seinen Sohn aus der Schule zu entführen. Dieses sei passiert, noch bevor sein Haus niedergebrannt worden sei. Sein Sohn sei infolgedessen völlig verängstigt gewesen.

Nachdem sein Haus niedergebrannt worden sei, habe er seine Familie zu Verwandten seiner Frau in den rein sunnitischen Stadtteil Al-Azamiya gebracht. Seine Frau sei dort mit seinen Kindern fast einen Monat geblieben. Die Verwandten hätten sie zunächst unterstützt, ihm jedoch später mitgeteilt, dass sie es nicht mehr schaffen würden und dass er seine Frau verlassen solle. Er selbst habe bei seinem Cousin in Al-Jadida gelebt. Als Taxifahrer sei er in diesen beiden Gebieten gefahren und habe seine Frau ab und zu besucht. Dabei habe sie ihm mitgeteilt, dass die sunnitischen Einwohner sie dort ebenfalls schikanierten, weil ihr Mann Schiit sei. Im Falle einer Rückkehr in den Irak wüsste er nicht, wo er leben solle, da er weder bei den Schiiten noch bei den Sunniten bleiben könne.

Mit Bescheid vom 30. August 2016 erkannte das Bundesamt weder die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) noch den subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) zu; den Antrag auf Asylanerkennung lehnte es ab (Nr. 2). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6).

Zur Begründung führte es u.a. aus, der Kläger habe die vorgetragenen Ereignisse nicht substantiell dargelegt. Zudem habe er bei seiner Rückkehr nach Bagdad die Möglichkeit, sich in einem Viertel niederzulassen, in dem sowohl Sunniten als auch Schiiten leben.

Der Kläger hat am 19. September 2016 Klage erhoben.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er seinen Vortrag vor dem Bundesamt. Er schildert zum einen ausführlich den Vorfall des Brandes. Ergänzend trägt er vor, ihm sei es nicht möglich gewesen, an einem anderen Ort in Bagdad Zuflucht zu suchen. Beim Neueinzug würden Nachbarn die Neuankömmlinge ganz genau unter die Lupe nehmen und versuchen herauszufinden, woher sie kämen. Allein die Stammesnamen des Klägers und seiner Ehefrau verrieten bereits ihre Herkunft bzw. die religiöse Zuordnung. Die Ehefrau gehöre dem sunnitischen Stamm Al-Abadi an, der Kläger dem schiitischen Stamm A.. Die Stammeszugehörigkeit spiele im Irak eine große Rolle und lasse sich nicht verbergen. Sofern man hierzu keine Auskunft geben möchte, sei dies bereits verdächtig.

Das Gericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 29. Januar 2018 auf den Einzelrichter übertragen. Dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom 15. März 2018 Prozesskostenhilfe bewilligt.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 30. August 2016 zu verpflichten,

1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihm subsidiären Schutz zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG vorliegen,

2. das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf null zu befristen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Hinsichtlich der Anhörung des Klägers und seiner Ehefrau wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 21. März 2018.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 AsylG anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 21. März 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

1.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 30. August 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29). Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose überdies ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, d.h. unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung von Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie), nicht hingegen (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22, Rnr. 21 f.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 31).

Hinsichtlich der Anforderungen an den Klägervortrag muss unterschieden werden zwischen den in die eigene Sphäre des um Flüchtlingsschutz Nachsuchenden fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, und den allgemeinen Verhältnissen seines Herkunftslandes, welche die Furcht vor Verfolgung rechtfertigen sollen. Lediglich in Bezug auf erstere muss er eine Schilderung geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen, wobei dem persönlichen Vorbringen des materiell beweisbelasteten Klägers und dessen Würdigung nach § 108 VwGO im Hinblick auf die regelmäßig bestehende Not an anderen Beweismitteln gesteigerte Bedeutung zukommt. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Tatsachenschilderung unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ ist, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann (Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 33). Hinsichtlich der allgemeinen politischen Verhältnisse im Herkunftsland reicht es hingegen wegen seiner zumeist auf einen engeren Lebenskreis beschränkten Erfahrungen und Kenntnisse aus, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt, aus denen sich - ihre Wahrheit unterstellt - hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Möglichkeit der Verfolgung für den Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland ergeben (BVerwG, Urteil vom 04.11.1981 – 9 C 251/81 -, juris; Urteil vom 22.03.1983 - 9 C 68.81 -, juris). Hier ist es Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine in besonderem Maße von Rationalität und Plausibilität getragene Prognose zu treffen (Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 34 f.).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs haben im vorliegenden Fall die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegen sprechenden Umstände. Das Gericht kommt aufgrund des aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks zu der Überzeugung, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht.

Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Der Kläger war nach Überzeugung des Gerichts vor seiner Ausreise aus dem Irak aufgrund seiner Religion von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion dabei insbesondere theistische Glaubensüberzeugungen sowie Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner, die sich auf eine entsprechende Überzeugung stützen. Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, a.a.O.).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen einer religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 AsylG vor. Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften und substantiierten Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie auf Basis der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass sich der schiitische Kläger wegen seiner Ehe zu einer Sunnitin von staatlicher bzw. privater Seite Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sah.

Ausweislich der dem Gericht zum Irak vorliegenden Erkenntnismittel existiert für Personen, die – wie der Kläger – in einer sunnitisch-schiitischen Ehe leben – zwar kein generelles Verfolgungsrisiko (Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), Entscheidung vom 16. Mai 2011 – EA (Sunni/Shi’a mixed marriages) Iraq CG [2011] UKUT 00342 (IAC) –, LS 1). Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von Partnern einer entsprechend konfessionell-gemischten Ehe, welche – abgesehen von dem hier ebenfalls nicht einschlägigen Fall eines staatlichen Verfolgungsprogramms – eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraussetzen würde (ebenso: VGH Hessen, Urteil vom 11.05.2010 – 10 A 2658/06.A -, juris Rn. 40 ff.). Nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls kann für die Ehepartner einer entsprechenden Verbindung jedoch die Gefahr bestehen, Opfer eines gewaltsamen Übergriffs religiöser Fundamentalisten zu werden (Lattimer, in: European Asylum Support Office (EASO), EASO COI Meeting Report, Iraq. Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Juli 2017, S. 19, 24; Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), a.a.O., LS 1 f., Rn. 37 f.).

Als Ausgangspunkt ist dabei festzuhalten, dass sunnitisch-schiitische Ehen im Irak seit jeher verbreitet sind, auch in Bagdad (Lattimer, in: EASO, a.a.O.; Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), Iraq: Inter-sect marriage between Sunni and Shia Muslims, including prevalence; treatment of inter-sect spouses and their children by society and authorities, including in Baghdad; state protection available (2016-January 2018), 29. Januar 2018, S. 1 der Druckversion).

Das irakische Recht verbietet das Eingehen einer konfessionell-gemischten Ehe nicht. Artikel 14 der irakischen Verfassung sieht vielmehr vor: Iraker sind vor dem Gesetz gleich, ohne Ansehung ihres Geschlechts, ihrer Rasse, ihrer Volkszugehörigkeit, ihrer Nationalität, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Religionsgemeinschaft, ihrer Weltanschauung oder Überzeugung, oder ihres wirtschaftlichen oder sozialen Status. Gemäß Artikel 41 der irakischen Verfassung sind Iraker überdies frei in der Entscheidung, ihren Personenstatus in Einklang mit ihrer Religion, ihrer Religionsgemeinschaft, ihrer Weltanschauung oder ihrer Wahl festzulegen, wobei dieses durch Gesetze geregelt werden soll (IRB, a.a.O., S. 3 der Druckversion). Das Immigration and Refugee Board of Canada (IRB) verweist in seiner Stellungnahme aus Januar 2018 in diesem Zusammenhang zudem auf einen Artikel von Human Rights Watch aus dem Jahr 2017, wonach das vom Gerichtswesen umgesetzte irakische Personenstandsgesetz auf jedermann Anwendung findet, d.h. ohne Ansehung der jeweiligen religiösen Zugehörigkeit. Ebenfalls zitiert wird ein im Juni 2017 erschienener Artikel von openDemocracy, dem zufolge das irakische Personenstandsrecht sunnitisch-schiitische Ehen auch deshalb ermöglicht, weil es sowohl sunnitische als auch schiitische Jurisprudenz aufgreift (IRB, a.a.O., S. 3).

Offizielle Statistiken bezüglich der Anzahl dieser Ehen existieren im Irak nicht (Australian Government, Refugee Review Tribunal, Country Advice. Iraq, Baghdad – Sunnis – Shia – Mixed marriages u.a. – IRQ38175, 21. Februar 2011, S. 1). In seinem Bericht aus Januar 2018 verweist das Immigration and Refugee Board of Canada u.a. auf eine Stellungnahme eines Programmdirektors der International Crisis Group mit mehrjähriger Erfahrung im Nahen Osten und Nordafrika. Seiner persönlichen Erfahrung zufolge seien die meisten Bewohner in Bagdad und anderen Städten bis zum Jahr 2003 säkular eingestellt, sunnitisch-schiitische Ehen also die Norm gewesen. Ebenfalls zitiert wird in diesem Zusammenhang ein Artikel von Al Jazeera aus dem Jahr 2014, dem zufolge vor dem Jahr 2003 nahezu ein Drittel der Ehen im Irak zwischen Mitgliedern verschiedener Religionsgemeinschaften waren (IRB, a.a.O., S. 2). Das Immigration and Refugee Board nimmt jedoch auch Bezug auf die Aussage eines hochrangigen Forschungsbeauftragten der National University of Singapore mit einem Forschungsschwerpunkt auf konfessionellen Beziehungen im Irak, dem zufolge die Schätzungen bezüglich der Prävalenz sunnitisch-schiitischer Ehen reine Mutmaßungen seien, da irakische Heiratsurkunden nicht die konfessionelle Identität der Braut und des Bräutigams auswiesen, sondern lediglich die religiöse Schule, in Einklang mit deren Bestimmungen die Hochzeitszeremonie durchgeführt worden sei (IRB, a.a.O., S. 2).

Nach einem im diesem Zusammenhang ebenfalls zitierten Artikel der Zeitschrift Foreign Policy aus dem Jahr 2016 hat der sunnitisch-schiitische Konfessionalismus seit dem Irakkrieg im Jahr 2003 erhebliche Konflikte angefacht. Laut Aussage des vorgenannten Programmdirektors der International Crisis Group haben politische Akteure innerhalb und außerhalb des Landes seit diesem Zeitpunkt religiösen Differenzen Bedeutung beigemessen, was zu gewaltsamen Konflikten führte. Unter dieser Entwicklung hätten auch Ehen gelitten. Menschen hätten die jeweilige Religion als einen Vorwand verwendet, um Personen anzugreifen, mit denen sie ohnehin bereits ein Problem gehabt hätten, insbesondere angeheiratete Verwandte. Ein hochrangiger Irak-Forscher bei Human Rights Watch wird des Weiteren mit den Worten zitiert, sunnitisch-schiitische Ehen hätten seit dem Jahr 2003 abgenommen, insbesondere während des Bürgerkrieges im Jahr 2007 (IRB, a.a.O., S. 2).

Das Refugee Review Tribunal der australischen Regierung weist in einem Bericht aus Februar 2011 darüber hinaus darauf hin, die Hochphase der konfessionellen Gewalt zwischen schiitischen und sunnitischen Milizen, welche im Jahr 2005 begonnen habe und mit der Bombardierung schiitischer Heiligtümer im Jahr 2006 sprunghaft angestiegen sei, sei mit einem Absturz der Anzahl sunnitisch-schiitischer Ehen und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz einhergegangen. Zur damaligen Zeit hätten sich viele Partner gemischter Ehen getrennt, weil Milizen ihnen und ihren Familien mit Ermordung und Entführung gedroht hätten. Tausende der betroffenen Paare seien gezwungen gewesen, aus ihren örtlichen Gemeinschaften zu fliehen und in Gegenden umzuziehen, die der Kontrolle von Milizen ihrer jeweiligen religiösen Zugehörigkeit unterlagen. Im Jahr 2009 habe der irakische Vizepräsident ein Programm zur Förderung religiös-gemischter Ehen etabliert, welches neu verheirateten Paaren unterschiedlicher Konfession eine Prämie von jeweils 1.800,00 US-Dollar bot. Statistiken betreffend die Anzahl der Paare, die das Programm in Anspruch nahmen, habe die irakische Regierung nicht veröffentlicht, jedoch habe sie drei Millionen US-Dollar in das Programm investiert. Die konfessionelle Gewalt habe dann abgenommen, nachdem in den Jahren 2007 bis 2008 mehrere sunnitische Milizen Allianzen mit multinationalen Streitkräften eingegangen seien und im Jahr 2010 nationale Wahlen stattgefunden hätten. Für den Zeitraum von 2008 bis 2011 gebe es keine Hinweise darauf, dass dasselbe Bedrohungsniveau für gemischt-religiöse Ehen bestanden habe wie zuvor in den Jahren 2006 bis 2007; insbesondere gebe es keine veröffentlichten Fälle entsprechender Gewalthandlungen (Australian Government, Refugee Review Tribunal, Country Advice. Iraq, Baghdad – Sunnis – Shia – Mixed marriages u.a. – IRQ38175, 21. Februar 2011, S. 2).

Das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) nimmt in einer Stellungnahme aus Juni 2017 zudem Bezug auf einen Artikel der islamischen Partnervermittlungsseite „zawaj.com“ aus August 2009. Hiernach habe ein auf seine Anonymität bestehender Richter eines Personenstandsgerichts im Raum Al-Karkh dem Reporter mitgeteilt, von 17 täglich vor ihm geschlossenen Ehen seien acht bis zehn gemischte Ehen. Die Familien und die Angehörigen der Jungverheirateten seien meist gebildete Leute, welche die konfessionellen Differenzen nicht als ein Hindernis für das Glück ihrer Kinder ansähen (ACCORD, Iraq: Treatment of mixed families (Shia-Sunni or Christian-Muslim), regulation of family disputes in mixed families (in particular when the wife is Christian and the husband is Muslim) [a-10166], 9. Juni 2017, S. 2 der Druckversion).

Nach einer sunnitisch-schiitische Ehen betreffenden Auskunft der britischen Botschaft aus Mai 2011, wiedergegeben in einer Entscheidung des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland vom 16. Mai 2011, ergab eine Befragung örtlicher Vertrauenspersonen, dass zum Zeitpunkt der Auskunftserteilung in Zentral-Bagdad und anderen großen Städten mehrere Gebiete existierten, in denen sunnitisch-schiitische Familien miteinander lebten. Seltener sei dies der Fall in ländlichen oder durch Stammeszugehörigkeiten geprägten Gegenden, wo derartige Verbindungen unüblich seien und den Eheleuten zudem Gefahren durch Gruppen wie Al-Qaida oder den Islamischen Staat drohten. Im Übrigen sei es in einigen Gegenden möglich, dass ein Sunnit eine schiitische Frau heirate, wohingegen die entgegengesetzte Konstellation Probleme bereiten könne. Das Upper Tribunal hob in seiner Entscheidung zudem hervor, die im Irak verwendeten Ausweisdokumente würden die religiöse Identität des Einzelnen nicht offenbaren. Im Alltag gäben allerdings der Stammesname des Einzelnen sowie sein Geburtsort einen klaren Hinweis auf seine religiöse Identität (Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), Entscheidung vom 16.05.2011 – 2011 (EA (Sunni/Shi’a mixed marriages) Iraq CG [2011] UKUT 00342(IAC) –, Rn. 37 f.). Auch die New York Times berichtete bereits in einem Artikel aus September 2006, typisch sunnitische oder schiitische Vornamen, beispielsweise der schiitische Name , würden üblicherweise bedeutenden religiösen Führern aus dem siebten Jahrhundert n.C. Tribut zollen, welche eine wichtige Rolle bei der Aufspaltung des Islam in die beiden großen Konfessionen gespielt hätten. In Zeiten sektiererischer Gewalt fürchteten viele Iraker, an Kontrollpunkten religiöser Milizen aufgrund der in ihren Ausweispapieren aufgeführten charakteristischen Vor- oder Stammesnamen misshandelt oder sogar getötet zu werden. In den ersten sieben Monaten des Jahres 2006 hätten mehr als 1.000 Iraker ihren Namen offiziell geändert, und das Geschäft mit gefälschten Identitätsdokumenten sei sprunghaft angestiegen (The New York Times, Artikel vom 6. September 2006, „To Stay Alive, Iraqis Change Their Name“).

In Bezug auf die gegenwärtige Situation sunnitisch-religiöser Ehegemeinschaften zitiert das Immigration and Refugee Board of Canada in seinem Bericht aus Januar 2018 den vorgenannten hochrangigen Forschungsbeauftragten von Human Rights Watch mit den Worten, sunnitisch-schiitische Ehen seien im Irak, von außergewöhnlichen Fällen abgesehen, nicht per se kontrovers. Die Hochphase konfessioneller Gewalt scheine keinen permanenten Effekt auf das Vorhandensein interreligiöser Ehen gehabt zu haben (IRB, Iraq: Inter-sect marriage between Sunni and Shia Muslims, including prevalence; treatment of inter-sect spouses and their children by society and authorities, including in Baghdad; state protection available (2016-January 2018), 29. Januar 2018, Quelle: refworld, Dokumentennummer IRQ106049.E, S. 2 der Druckversion).

Das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) ergänzte des Weiteren in seiner vorgenannten Entscheidung, islamische Theologie und sektiererische Erwägungen böten selten hinreichende Erklärungsansätze für Terrorismus und politische Gewalt in der muslimischen Welt der Gegenwart. Oftmals würden politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren determinieren, ob ein bestimmter Konflikt sich an konfessionellen Grenzen ausrichte oder diese überschreite. Sunnitische und schiitische Organisationen oder Regierungen würden oftmals miteinander kooperieren, wenn sich ihre Interessen überlappten, wohingegen in anderen Fällen theologische Unterschiede sektiererische(n) Hass und Gewalt direkt anfachen könnten. Im Irak werde die Lage verkompliziert durch die drastische Verschiebung der Machtverhältnisse, einhergegangen mit der Absetzung des sunnitisch-dominierten Regimes Saddam Husseins und dem Ende der politischen Dominanz der Sunniten. Fortbestehende schiitische Ressentiments und die mit der Machtverschiebung korrespondierenden sunnitischen Ängste hätten in einigen Fällen dabei geholfen, örtliche und individuelle politische oder wirtschaftliche Dispute in weiter gefasste konfessionelle Konflikte zu verwandeln (Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), a.a.O., Rn. 23).

Hiermit korrespondierend erörterte Mark Lattimer, Ceasefire Centre for Civilian Rights, im Rahmen einer Veranstaltung des European Asylum Support Office im April 2017, in der gegenwärtigen politischen Situation des Irak lebe der Konfessionalismus wieder auf, obgleich er noch nicht dasselbe Ausmaß wie in den Jahren 2006 bis 2007 erreicht habe. Zahlreiche der momentan im Irak agierenden Milizen verträten eindeutig sektiererische Ideologien. Aus vielen Vierteln berichte man von offen propagierten rassistischen und sektiererischen Ansichten, ferner von der festen Absicht der Milizen, die eigene Macht zur Veränderung der demographischen Zusammensetzung in den von ihnen kontrollierten Vierteln einzusetzen. Der Konfessionalismus und die Konfliktdynamik zwischen den verschiedenen Ethnien würden zudem maßgeblich von ausländischen Staaten und internationalen Akteuren unterstützt mit der Folge, dass die Situation im Irak oftmals nicht der vollen Kontrolle der nationalen Regierung unterläge (Lattimer, in: European Asylum Support Office (EASO), EASO COI Meeting Report, Iraq. Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Juli 2017, S. 19).

Das Immigration and Refugee Board of Canada erwähnt in seinem Bericht aus Januar 2018 zudem die Aussage eines Vertreters des Ceasefire Centre for Civilian Rights, Middle East and North Africa Programme, demzufolge sunnitisch-schiitische Ehen in einigen Vierteln infolge der Politisierung der konfessionellen Unterschiede seit 2006 als weniger sozial akzeptabel angesehen werden, wobei das Ausmaß von Familie zu Familie und Ort zu Ort variiere. Nach Angaben derselben Quelle verfüge das Zentrum über ein Netzwerk örtlicher Rechercheure, welches in der Zeit zwischen Februar 2014 und Mai 2015 in sechs Provinzen (Bagdad, Basra, Kirkuk, Dohuk, Erbil, Suleymania) insgesamt 1.249 Fälle familienbasierter Gewalt dokumentiert habe, darunter elf Fälle, in denen das Bestehen einer sunnitisch-schiitischen Ehegemeinschaft als ein Auslöser für Gewalt oder Misshandlung angegeben worden sei. Zehn dieser Fälle hätten sich in Bagdad zugetragen, einer in Basra. Zudem habe die Organisation eine geringe Anzahl von Fällen dokumentiert, in denen sunnitisch-schiitische Paare wegen sektiererischer Spannungen zur Scheidung gezwungen worden seien, d.h. weil ihre Familie oder die örtliche Gemeinschaft Druck auf sie ausgeübt habe. Die weiblichen Partner gemischter Ehen seien zudem Opfer häuslicher Gewaltausübung durch (angeheiratete) Verwandte geworden, insbesondere dann, wenn sie bei der Familie ihres Ehemannes gelebt hätten. In einem Fall habe ein Mann versucht, seine Schwester zu ermorden, weil sie gegen den Wunsch ihrer Familie einen Mann der anderen islamischen Konfession geheiratet habe (IRB, Iraq: Inter-sect marriage between Sunni and Shia Muslims, including prevalence; treatment of inter-sect spouses and their children by society and authorities, including in Baghdad; state protection available (2016-January 2018), 29. Januar 2018, S. 4 der Druckversion).

Eine besondere Schwierigkeit, eine Verfolgung konfessionell-gemischter Paare durch private Dritte von einer solchen durch staatliche Organe abzugrenzen, besteht dabei in denjenigen Fällen, in welchen Verfolgungshandlungen durch Mitglieder schiitischer Milizen in Rede stehen. Geschuldet ist dieses ihrer engen Einbindung in die offizielle Sicherheitsstruktur des Irak.

Sämtliche schiitischen Milizen des Landes sind mittlerweile unter dem Dachverband der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten zusammengefasst. In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten irakischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah Ali al-Husseini al-Sistani, der ebenfalls alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (AI, Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35). Offizielle Statistiken betreffend die Anzahl der Milizen innerhalb der PMF existieren nicht. Medienberichte, die sich auf Schätzungen nicht näher spezifizierter Offizieller berufen, sprechen von 40 bis 50 Milizen. Das irakische Budget des Bundeshaushalts für das Jahr 2016 lässt nach Erkenntnissen von Amnesty International den Rückschluss darauf zu, dass sich zum damaligen Zeitpunkt 110.000 Personen in den PMF befanden; ein Sprecher der PMF nannte im Dezember 2016 eine Zahl von 141.000 affiliierten Kämpfern (AA, a.a.O., S. 9). Im Länderbericht Irak für das Jahr 2017 des Bundesamts für Migration und Fremdenwesen heißt es zur Größe der PMF (BFA, a.a.O., S. 73):

„Der Name „Volksmobilisierungseinheiten“ bzw. Al-Hashd al-Shaabi, englisch: Popular Mobilization Units (PMU) oder Popular Mobilization Forces bzw. Front (PMF)) bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig fast ausschließlich schiitische Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Schätzungen zufolge haben die Volksmobilisierungseinheiten zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen.“

Die schiitischen Milizen innerhalb der PMF sind dabei nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, a.a.O., S. 97). Als die wichtigsten schiitischen Milizen innerhalb des Dachverbandes der Volksmobilisierungseinheiten gelten dabei die Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization), ‘Asa’ib Ahl al-Haq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute), Kata’ib Hizbullah (Hizbullah Brigades) sowie schließlich die im vorliegenden Fall in Rede stehende Organisation Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone, ehemals Mahdi-Army bzw. Mahdi-Armee).

Letztere formierte sich in Opposition zu der US-Invasion im Jahr 2003 und der anschließenden Besetzung des Irak (AI, a.a.O., S. 9 f.). Gründervater der Mahdi-Armee ist der einflussreiche schiitische Geistliche Muqtada al-Sadr, Sohn des im Jahr 1999 ermordeten Großayatollah Mohamnmed Sadiq al-Sadr, welcher ihr das Ziel gab, die von den USA angeführte Militärkoalition aus dem Irak zu vertreiben und eine schiitische Regierung im Irak zu etablieren. Von 2004 an griff die Mahdi-Armee regelmäßig Koalitionstruppen an; in den folgenden Jahren galt sie in zahlreichen Landstrichen des Irak als gefährlicher als die Terrororganisation Al Qaida und in ihrer militärischen Stärke lediglich den US-Truppen nachstehend. In der Zeitperiode von etwa 2004 bis 2007 häuften sich zudem Berichte darüber, dass die Mahdi-Armee mit Todesschwadronen sunnitische Iraker verfolgte und die im Land vorherrschenden sektiererische Gewalt anfachte (Stanford University, Mapping Militant Organizations: Mahdi Army, 26. November 2017, S. 1 f. der Druckversion). Nach Auskunft des Center for Strategic and International Studies (CSIS), wiedergegeben in einer Anfragebeantwortung des Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), führte die Gruppe zahllose Angriffe auf US-amerikanische und irakische Streitkräfte sowie auf sunnitische Zivilisten durch und war hierbei für einige der grausamsten konfessionell motivierten Gewalttaten im Irak verantwortlich (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten; Rolle der Mahdi-Milizen [a-7959-2 (7960)], 17. April 2012 S. 4 der Druckversion).

Im Anschluss an ein durch den Iran vermitteltes Waffenstillstandsabkommen mit der irakischen Regierung im Jahr 2008 verlegte sich die Mahdi-Armee zunächst von Militäroperationen auf die Gewährleistung sozialer Dienste in schiitischen Vierteln und benannte sich in Mumahidoon um. Parallel gründete Sadr eine paramilitärische Spezialeinheit mit dem Namen Liwa al-Youm al-Mawud (Promised Day Brigades bzw. Kompanien des verheißenen Tages), welche die US-Truppen im Irak bis in das Jahr 2011 hinein weiterhin angriff. Im Jahr 2010 verlagerte Sadr den Schwerpunkt der Tätigkeit der Mahdi-Armee unter Vernachlässigung der vorherigen schwerpunktmäßig karitativen Ausrichtung sodann auf das Feld der Politik und unterstützte mit seiner Sadr-Bewegung (al-Tayyār al-Sadri bzw. Sadrist Movement) die vorwiegend aus schiitischen Parteien bestehende irakische Nationalallianz (Iraqi National Alliance). In der Parlamentswahl 2010 errang die Sadr-Bewegung 40 von 325 Plätzen im irakischen Parlament (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion). Bei den Provinzwahlen im Jahr 2013 errang die Partei Sitze in Bagdad und den südlichen Provinzen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz, 28. Juli 2017, S. 2 der Druckversion). Im Jahr 2013 verkündete Sadr darauf hin überraschend seinen Rückzug aus der irakischen Politik sowie die Auflösung der Mahdi-Armee, blieb jedoch weiterhin bei seiner großen Anhängerschaft populär sowie ein prominenter Einflussfaktor in der irakischen Politik (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion).

Nachdem der IS Mossul im Juni 2014 eingenommen hatte, rief Sadr die Mahdi-Armee abermals unter dem neuen Namen der Friedenskompanien ins Leben mit dem Ziel, den IS zu besiegen und den pro-iranisch eingestellten damaligen irakischen Premierminister Nouri al-Maliki zu stürzen. Dem darauffolgenden Premierminister Haider al-Abadi sicherte Badr seine Unterstützung zu und beteiligte die Friedenskompanien in enger Zusammenarbeit mit den irakischen Sicherheitskräften am Kampf gegen den IS. Im Jahr 2016 kehrte Sadr sodann in die irakische Politik zurück (Stanford University, a.a.O., S. 4 f. der Druckversion). Er gilt seitdem als einer der zahlreichen Herausforderer der schwachen irakischen Zentralregierung unter Premierminister al-Abadi und stilisiert sich als irakischer Nationalist, der einerseits gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik, den politischen Einfluss des Iran sowie eine Rückkehr Malikis an die Regierungsspitze ankämpft, andererseits jedoch durch die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durchführen lässt, welche – trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren – oftmals außer Kontrolle geraten und u.a. im Februar 2017 zur Erstürmung der sogenannten Green Zone führten, des schwer befestigten Regierungs- und Botschaftsviertels in Bagdad (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 34-36, S. 86).

Die Organisation „Friedenskompanien“ gilt de facto als Fortführung der Mahdi-Armee, weil deren Kader und Netzwerke auch nach der offiziellen Auflösung aktiv blieben und im Jahr 2014 von Sadr leicht wieder mobilisiert werden konnten. Obgleich die Miliz Sadrs im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte im Einklang mit ihrer sich (ab-)wechselnden Ausrichtung jeweils unterschiedliche Namen erhielt, ist sie zudem im Irak seit jeher im Alltag unter ihrer Ursprungsbezeichnung Jaysh al-Mahdi (JAM) bzw. Mahdi-Armee bekannt (Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 6 der Druckversion). Auch ACCORD verweist in einer jüngeren Anfragebeantwortung betreffend die Mahdi-Armee auf eine Auskunft eines Stammesführers aus der Provinz Anbare, der zufolge der Begriff Mahdi-Armee in der alltäglichen Sprache immer noch zur Bezeichnung der Friedensbrigaden verwendet wird (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz, 28. Juli 2017, S. 2 der Druckversion). In Bezug auf den jüngsten Namenswechsel der Organisation zitiert ACCORD in einer Anfragebeantwortung aus Juli 2017 das Carnegie Endowment for International Peace (CEIP) mit den Worten, während der damalige Name auf die schiitische Theologie angespielt habe, weise der jetzige Name „Friedenskompanien“ keinen religiösen Bezug auf und stehe stellvertretend für den Wandel, den die Sadr-Bewegung durchlaufe. So würde die Organisation nunmehr Seite an Seite mit sunnitischen Stämmen und Christen gegen den IS kämpfen und versuchen, ihre neue nationalistische Ausrichtung durch die Verbreitung von Bildern von Kämpfern zu dokumentieren, welche die konfessionellen Flaggen gegen die irakischen Flaggen ausgetauscht hätten (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz [a-10267-2 (10268)], 28. Juli 2017, S. 5 der Druckversion).

Bezüglich der Größe der Organisation finden sich unterschiedliche Angaben in den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln. Nach Auskunft des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl sprechen irakische Quellen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, sehen die militärische Schlagkraft der Organisation jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung als begrenzt an. Letzteres liege darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren wolle, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiere (BFA, a.a.O., S. 75). Die Stanford University gibt in einer Stellungnahme aus November 2017 bezüglich der Frage der Anzahl der Anhänger der Mahdi-Armee im Juni 2014 verschiedene, sich widersprechende Quellen wieder (AlJazeera: 10.000 Mann, The Telegraph: 50.000 Mann, Alalam: 20.000 Mann; s. Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 7 der Druckversion). ACCORD verweist in einer Anfragebeantwortung betreffend die Aktivitäten der Mahdi-Miliz zudem auf einen Bericht der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) aus August 2016, dem zufolge die bis zu einer Stärke von 50.000 Mann reichende Schätzung der Größe der Mahdi-Armee durchaus möglich sei, weil diese bereits im Jahr 2004 mehrere zehntausend Mann gezählt habe. Nach Einschätzung der Stiftung muss sich diese Zahl dann aber realistischerweise auf das gesamte Personal der Miliz inklusive ihrer sämtlichen Teilgruppierungen beziehen, von denen nur ein kleiner Teil tatsächlich gegen den IS kämpft (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz, 28. Juli 2017, S. 1 der Druckversion). ACCORD bezieht sich zudem auf einen Bericht der finnischen Einwanderungsbehörde (Finnish Immigration Service) aus April 2015, dem zufolge die Friedensbrigaden zum damaligen Zeitpunkt über 60.000 Angehörige verfügten. Im Jahr 2014 habe die Miliz in Bagdad zur Machtdemonstration Paraden im schiitischen Viertel Sadr City abgehalten, an denen Schätzungen zufolge 30.000 bis 50.000 Mitglieder teilgenommen hätten; die meisten seien in Uniform aufgetreten und hätten Waffen getragen. Nach Auskunft einer diplomatischen Quelle seien die Friedensbrigaden die stärkste Miliz, die unabhängig vom Iran agiere (ACCORD, a.a.O., S. 2 f. der Druckversion).

Als das Haupteinsatzgebiet der Miliz wird allgemein das südliche Zentrum des Irak angesehen; die Gruppe war indessen auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (BFA, a.a.O., S. 75). Besonders populär ist die Mahdi-Armee seit jeher in Sadr City, einem nach dem Vater von Muqtada al-Sadr benannten Stadtteil von Bagdad (Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 13 der Druckversion). Hier stellt sie illegale Checkpoints auf und kann selbst Regierungstruppen den Zugang verweigern (ACCORD, a.a.O., S. 2 der Druckversion).

Die Mahdi-Armee ist wie die übrigen PMF-Milizen mittlerweile eng mit dem irakischen Staat verknüpft. Amnesty International weist darauf hin, dass Angehörige der PMF-Milizen Militäruniformen tragen, zum Teil unabhängig von, zum Teil auch gemeinsam mit den regulären Regierungstruppen im Gefecht und an Checkpoints agieren und zudem die Stützpunkte und Haftzentren der regulären Truppen nutzen (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.). Auch das Auswärtige Amt erklärt in seinem Lagebericht zum Irak aus Februar 2017, durch die staatliche Akzeptanz, teilweise Führung und Bezahlung der Milizen der PMF verschwimme die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 15).

Sämtliche der PMF zugeordneten Milizen genossen seit der Gründung des Dachverbandes starke Unterstützung durch die irakische Regierung. Am 19. Juni 2014 erließ der damalige irakische Premierminister Nouri al-Maliki eine Anweisung, PMF-Freiwilligen ein staatliches Gehalt zu zahlen und sie im Falle ihrer Verwundung oder ihres Todes den Angehörigen des Innen- und Verteidigungsministeriums gleichzustellen. Am 30. September 2014 verfügte darüber hinaus der irakische Ministerrat, die PMF-Milizen mit Waffen und anderem militärischen Equipment auszustatten. Im November 2014 wies der Generalsekretär des Kabinetts dem Verteidigungsministerium Haushaltsmittel für die Gehälter der PMF-Kämpfer zu. Das Budget des zentralirakischen Haushalts stellte den PMF im Jahr 2016 nahezu 1,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung und räumte dem Finanzministerium die Berechtigung ein, weitere 2 Milliarden US-Dollar zum Zwecke der Waffenbeschaffung und des Anlagenbaus an das Ministerium der Verteidigung, des Inneren und die PMF zu überweisen. Zudem gründete der Ministerrat im Jahr 2014 die Volksmobilisierungskommission (Popular Mobilization Commission (PMC)), die für die Verwaltung der PMF zuständig ist (AI, Iraq: Turning a blind eye. The arming of the Popular Mobilization Units, S. 9). Im Februar 2016 erließ der irakische Premierminister des Weiteren eine Verfügung, welche den PMF den Status einer „unabhängigen militärischen Formation, Teil der irakischen Streitkräfte und angekoppelt an den obersten Befehlshaber der Streitkräfte“, verlieh. Zudem spezifizierte die Verfügung, dass die PMF der Militärgesetzgebung unterliegen und verlieh ihnen eine ähnliche Organisationsstruktur wie die Iraqi Counter Terrorism Force, welche sowohl vom Verteidigungs- als auch vom Innenministerium unabhängig ist. Diese Verfügung setzte das irakische Parlament am 26. November 2016 vollumfänglich in ein Gesetz betreffend die Volksmobilisierungseinheiten um, welches am 26. Dezember 2016 in Kraft trat. Zusätzlich sah das Gesetz vor, dass der Einsatz der PMF-Milizen an spezifischen Orten der Autorität des Oberbefehlshabers der Streitkräfte unterliegt und das Parlament der Ernennung von Führungsoffizieren der PMF oberhalb eines bestimmten Ranges zustimmen muss (AI, a.a.O., S. 14).

Die tatsächliche Möglichkeit des irakischen Staates, über Befehle und Weisungen auf die PMF Einfluss zu nehmen, beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 78):

„Obwohl das Milizenbündnis unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die Volksmobilisierung dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Ministerpräsidenten als Oberkommandierendem unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. […] Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert […].“

An anderer Stelle heißt es zu den Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf die PMF in noch deutlicheren Worten (BFA, a.a.O., S. 35, 108):

„Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen […] konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016; vgl. ÖB 5.2015). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der [stark schiitisch dominierte] Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder „hinauskomplementiert“. Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z.B. jenes [vom November 2016 - s. Harrer 28.11.2016], das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch: Al-Hashd al-Shaabi, oder auch nur „Hashd“) der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt.“

„Den staatlichen Stellen ist es nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen, insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dies geht einher mit Repressionen, mitunter auch Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession. Minderheiten geraten oft zwischen die Fronten (AA 7.2.2017).“

Auch Amnesty International hebt hervor, dass Angehörige der PMF-Milizen nicht der Befehlsgewalt der regulären Truppen unterstellt sind. Die Milizen schienen vielmehr über größere Autorität und Schlagkraft vor Ort zu verfügen als die mitgenommenen Regierungstruppen, die als schwach und ineffektiv gälten (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.).

Hinsichtlich des Vorgehens schiitischer Milizen gegen sunnitische Araber führt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zudem aus (BFA, a.a.O., S. 84 f.):

„Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017).“

In Bezug auf die Finanzierung der PMF-Milizen und ihr Wirken im zivilen Sektor hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die folgenden Erkenntnisse fest (BFA, a.a.O. S. 79, S. 83 f.):

„Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat.“

„Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. […] Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).

Offiziell ist nach wie vor das sogenannte „Baghdad Operations Command“ (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017). Problematisch werden diese Entwicklungen v.a. auch auf Grund der Tatsache gesehen, dass die PMF-Milizen konfessionell sehr einseitig (schiitisch) aufgestellt sind, und einige von ihnen direkt mit dem iranischen Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei affiliiert sind [sowie auf Grund der von ihnen im Irak begangenen Menschenrechtsverletzungen – s. Abschnitt Menschenrechtslage] (Al-Monitor 9.6.2017).“

Auch die Stanford University verweist in einem Bericht aus November 2017 darauf, Teile des Gemeinwesens seien seit langem von der Mahdi-Armee infolge deren Korruption und Gangster-Methoden desillusioniert. Die Gruppe habe sich in Bagdad mit Raubüberfällen, Morden, Vergewaltigungen und Schutzgelderpressungen gegenüber der örtlichen Bevölkerung ebenso einen Namen gemacht wie mit der Entführung von Sunniten wie Schiiten zur Erpressung von Lösegeld. Nach Auskunft örtlicher Kontaktpersonen bekämpfe die Mahdi-Armee nicht lediglich mutmaßliche feindliche Invasoren, sondern jeden, der sich ihren mafiösen Aktivitäten in den Weg stelle, wobei sich bei vielen Irakern die Frage stelle, inwiefern al-Sadr wirklich in der Lage sei, seine Organisation effektiv zu kontrollieren (Stanford University, Mapping Militant Organizations. Mahdi Army, 26. November 2017, S. 13 f. der Druckversion; FDD’s Long War Journal, Iraqis begin to ‘despise’ the Mahdi Army in Baghdad’s Rusafa district, 3. Mai 2008; ähnlich: BAA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 13 f.). Nach Einschätzung des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl geht zudem ein Großteil der Terroranschläge im Irak auf das Konto heimischer Terrororganisationen. Dieser Befund betreffe neben dem (sunnitischen) IS insbesondere die schiitischen Friedenskompanien Sadrs sowie die ebenfalls schiitischen Gruppen Asa’ib Ahl al-Haq (AAH) und Kata’ib Hizballah (BFA, a.a.O., S. 58).

Die vorgenannten Erkenntnisquellen zu der nach Lage des Einzelfalls bestehenden Gefährdung sunnitisch-schiitischer Paare im Irak sowie dem kriminellen Wirken der Mahdi-Armee im Zivilbereich finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung.

Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften und substantiierten Ausführungen des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass er als Schiit aufgrund der Ehe zu einer sunnitischen Frau in Bagdad den von ihm in der Anhörung beim Bundesamt geschilderten Verfolgungsmaßnahmen von Mitgliedern der Mahdi-Armee ausgesetzt war.

Die diesbezügliche Erörterung des Klägers wies hinreichende Realitätskennzeichen auf, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Wiedergabe von Komplikationen im Handlungsverlauf und zunächst unverstandener, erst nachträglich aufgeklärter Handlungselemente, unter Beschreibung deliktsspezifischer Merkmale sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung im entscheidungsrelevanten Kernbereich als konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt.

Es steht zunächst zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger schiitischen Glaubens ist, seine Ehefrau hingegen, die Klägerin zu 1. im Verfahren 6 A 5074/16, Sunnitin. Zwar ist der Nachname des Klägers, anders als in der Klagebegründung vorgetragen, kein sicherer Hinweis auf seinen schiitischen Glauben, weil der Stamm der Shammar als einer der größten Stämme des Irak sowohl sunnitische als auch schiitische Gruppen umfasst (Hassan, in: CRS Report for Congress, Iraq: Tribal Structure, Social, and Political Activities, 15. März 2007, S. 4 f.). Allerdings weist der Vorname den Kläger nach den oben genannten Erkenntnismitteln eindeutig als Schiiten aus. Darüber hinaus hat auch die Ehefrau des Klägers in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, Sunnitin zu sein, zumal sie mit sichtlicher Abneigung die Frage des Gerichts verneinte, ob der schiitische Ministerpräsident Haider al-Abadi ebenfalls Mitglied ihres Stammes „al-Abadi“ sei.

Des Weiteren ist der Einzelrichter zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger zunächst für lange Zeit, d.h. beginnend ab dem Jahr 1995, mit seiner Ehefrau in einem kleinen Viertel innerhalb des größeren Bagdader Stadtteils Al-Mashtal unbehelligt leben konnte. Diesbezüglich hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ausgeführt, seine Freunde und unmittelbaren Nachbarn hätten stets vom sunnitischen Glauben seiner Ehefrau gewusst; schließlich seien sie auch alle bei seiner Hochzeit eingeladen gewesen und hätten mit ihnen gefeiert. Problem seien jedoch entstanden, als Mitglieder der den Stadtteil Al-Mashtal beherrschenden Mahdi-Miliz erfahren hätten, dass er mit einer Sunnitin verheiratet sei. Diese Menschen hätten keinen Respekt vor ihm gehabt und hätten auch nicht gewusst, dass er in seiner unmittelbaren Nachbarschaft großes Ansehen genieße. Sie habe nur die Religion seiner Ehefrau interessiert.

In diesem Zusammenhang hat der Kläger glaubhaft und überaus anschaulich darlegen können, wie sich der Stadtteil Al-Mashtal beginnend ab den Jahren 2010 bzw. 2011 einem schleichenden Wandel unterzog, d.h. wie konfessionalistische Ansichten im Alltag mehr und mehr zu Tage traten und sich sektiererische Gewaltverbrechen häuften. So seien sehr viele schiitische Milizen und sunnitische Parteien in das Viertel gekommen, darunter die schiitische Mahdi-Armee als stärkste Partei. Zudem seien viele Sunniten aus dem Viertel vertrieben worden und Partner von gemischten sunnitisch-schiitischen Ehen seien genötigt worden, sich von ihren Frauen räumlich zu trennen oder sich sogar scheiden zu lassen. So sei beispielsweise der Ehemann seiner Schwägerin getötet worden. Die Schwägerin, die wie seine Ehefrau ebenfalls Sunnitin sei, habe dann mit ihrem Kind alleine zuhause gelebt, sei aber sogar von Angehörigen ihrer eigenen Familie vergewaltigt worden und im Anschluss nach Großbritannien geflohen, wo sie heute lebe.

Mitte 2013 sei dann sein sunnitischer Freund E. A. im Beisein des Klägers und weiterer Freunde von maskierten Milizen in einen Kofferraum gesperrt und entführt worden. Später sei E. dann zu ihnen zurückgehumpelt und habe ihnen erzählt, dass die Männer ihm ins Bein geschossen und ihn an einem bekannten Kreisel in dem Stadtteil wieder abgesetzt hätten. Die Täter hätten ihm zudem gesagt, dass dies eine Warnung sei und er den Stadtteil verlassen müsse. Sein Freund sei dann tatsächlich in die von Bagdad ca. 300 km entfernte Stadt Samara umgezogen, weil sein Stamm dort die Mehrheit gebildet habe. Ferner ergänzt der Kläger, sein ebenfalls sunnitischer Freund F. G. sei Ende 2013 plötzlich verschwunden. Er habe dann den Vater seines Freundes mehrfach auf Neuigkeiten nach ihm angesprochen. Etwa nach einem halben Jahr habe er dann erfahren, dass F. s Familie seinen Leichnam bei der Gerichtsmedizin identifiziert habe. Auch bei diesem Fall gehe er davon aus, dass Schiiten diese Tat begangen hätten, um sich dafür zu rächen, dass in anderen Vierteln, wo Sunniten die Macht hätten, die schiitischen Bewohner unterdrückt worden seien.

Insbesondere die schiitische Jugend in seinem eigenen Viertel sei radikalisiert worden, was man sowohl an ihrem äußerlichen Auftreten als auch an den bevorzugten Gesprächsinhalten sehe, die sich oftmals um extreme schiitische Rituale wie z.B. Selbstgeißelungen drehen würden, welche der Kläger ablehne. In Bezug auf den Vorfall mit seinem Freund F. wisse er nicht mit letzter Sicherheit, ob die Mahdi-Armee verantwortlich sei. Es sei jedoch seiner Auffassung nach die einzige logische Schlussfolgerung, weil diese Gruppe in ihrem Stadtteil die Macht übernommen habe und andere Gruppen sich nicht getrauen würden, in diesem Herrschaftsgebiet derart zu agieren.

Des Weiteren ist der Einzelrichter aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Drohungen und Aktivitäten von Anhängern der Mahdi-Armee im Stadtteil Al-Mashtal dann im Juni bzw. Juli 2014 auch gegen den Kläger und seine Familie richteten, weil er als Schiit mit einer Sunnitin verheiratet ist.

So hat die Frau des Klägers in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ausgeführt, bereits die Cousins ihres Mannes hätten diesen darauf hingewiesen, dass er Bedrohungen wegen seiner Ehe erhalte und sich doch von seiner Frau scheiden lassen solle. Ihr Mann sei jedoch stur geblieben. Sie selbst habe große Angst bekommen, dass die Konflikte im Stadtteil sich verbreiten würden und auch sie selbst erreichen würden. Ihr Mann habe sie jedoch immer beruhigt und gesagt: „Wir bleiben hier.“ Er habe immer gesagt: „Ich bin selbst Schiit.“ Wenn jemand komme und sich beschwere, solle sie das demjenigen mitteilen und ausrichten lassen, dass er sie zur Frau genommen habe und dass dies niemanden etwas angehe.

Ebenso hat der Kläger glaubhaft und substantiiert ausgeführt, dass Unbekannte im Jahr 2014 versucht hätten, seinen Sohn H., den Kläger zu 2. im Verfahren 6 A 5074/16, auf dem Nachhauseweg von der Schule zu entführen, wobei er davon ausgehe, dass für diesen Vorfall ebenfalls die Mahdi-Armee verantwortlich gewesen sei. Sein Sohn sei nach Hause gekommen und habe geweint. Er, der Kläger, sei daraufhin zu dem Ort gefahren, wo sich der Vorfall zugetragen habe; dort seien noch Personen zugegen gewesen. Diese Personen hätten ihm gesagt, dass die Entführer einen Opel Omega gefahren hätten. Dieses sei ein beliebtes Fahrzeug, was die Mahdi-Gruppierung verwende, da es sich gut für Schnellstraßen eigne wegen seiner hohen PS-Zahl. Auch die von ihm beobachteten Entführer seines Freundes E. hätten ein derartiges Modell gefahren. Als sein Sohn weggelaufen sei, habe er seine Schultasche fortgeworfen. Die Mitschüler, zugleich Nachbarn des Klägers, hätten dann die Tasche mitgenommen und nach Hause gebracht und seiner Frau erzählt, was vorgefallen sei.

Ebenso hat die Frau des Klägers glaubhaft und detailreich geschildert, ihr Sohn habe an dem betreffenden Tag eine Prüfung in seiner Schule abgelegt, sei rennend nach Hause gekommen und habe seine Tasche nicht dabeigehabt. Bekannte, d. h. Kinder der Nachbarn, seien dann zu ihr gekommen und hätten gesagt: „Tante, Männer wollten H. entführen.“ Aus Angst sei ihr Sohn dann eine Woche zuhause geblieben.

Für die klägerische Darstellung spricht schließlich auch, dass die Mahdi-Armee in Bagdad ausweislich allgemein zugänglicher Informationen tatsächlich den genannten Fahrzeugtyp bei Entführungen einsetzt (z.B.: „Kidnapping Threat Report by CIV IVO (Zone 24) vom 16. September 2006, https://wikileaks.org/irq/report/2006/09/IRQ20060916-n4926.html, Abruf: 26.04.2018).

Des Weiteren vermochte der Kläger glaubhaft auszuführen, dass er drei Tage vor dem Brand seines Hauses einen Drohbrief mit einer Pistolenkugel erhielt, der die Aufforderung enthielt, seine Frau zu verlassen. Seine Frau habe daraufhin Angst bekommen, er habe sie jedoch beruhigt und gesagt, dass er sie beschützen werde. Den Brief habe er weggeworfen. Am Folgetag hätten ihn zwei Personen am Ende seiner Straße angehalten, als er gerade mit dem Taxi unterwegs gewesen sei. Diese Personen seien mit einem Auto unterwegs gewesen und hätten die Straße abgesperrt. Fahrer und Beifahrer seien ausgestiegen, der Fahrer habe ihn gefragt: „, hast du dich entschieden? Willst du dich von deiner Frau scheiden lassen? Dies ist die letzte Warnung.“ Er habe dies jedoch verneint und seinem Gegenüber gesagt: „Tut was ihr wollt.“ Angst habe er keine gehabt, da er selbst Schiit sei und Angehörige seiner (weiteren) Familie ebenfalls bei der Mahdi-Armee aktiv seien. Die Mahdi-Armee sei jedoch zweistufig aufgeteilt. Es gebe einerseits die älteren Offiziere, die vernünftig seien, anderseits darunter jedoch auch die jüngeren Mitglieder, die sehr motiviert und radikal seien und nicht mit sich reden ließen.

Schließlich steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass Angehörige der Mahdi-Armee zwei Tage nach dieser mündlichen Warnung das Haus des Klägers in Brand steckten. Zum einen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vier Fotos zur Gerichtsakte überreicht, die jeweils ein komplett ausgebranntes Haus im orientalischen Stil zeigen. Auf einem dieser Fotos ist der Kläger persönlich zu sehen, wie er gerade Gegenstände aus dem ausgebrannten Haus trägt. Zum anderen hat der Kläger den Brandvorfall glaubhaft geschildert, wobei er insbesondere die vom Bundesamt aufgezeigten vermeintlichen Widersprüche zu den Aussagen seiner Frau ausräumen konnte. An diesem Tag, so der Kläger, sei er ca. gegen fünf Uhr morgens zur Arbeit gefahren und habe sich wieder an die Taxihaltestelle in der Nähe begeben, an der er üblicherweise auf Kunden warte. Er habe dann einen Anruf erhalten, dass sein Haus in Flammen stehe. Hierbei habe es sich um eine aufgeregte Frauenstimme gehandelt. Er sei ursprünglich davon ausgegangen, dass es sich um die Stimme seiner Frau gehandelt habe. Erst viel später, d.h. wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung, habe er erfahren, dass ihn eine Nachbarin angerufen habe, die er damals in der Hektik schlichtweg mit seiner Frau verwechselt habe. Seine Frau habe ihm nämlich im Nachhinein gesagt, dass sie nicht diejenige gewesen sei, welche angerufen habe, weil sie damit beschäftigt gewesen sei, die Kinder aus dem brennenden Haus zu bringen.

Nach dem Anruf habe er nur ca. drei bis vier Minuten gebraucht, um nach Hause zu kommen; zu diesem Zeitpunkt sei das Haus jedoch schon komplett verbrannt gewesen. An diesem Tag sei er außer sich gewesen, da er alles verloren habe. Für diesen Vorfall sei in seinen Augen definitiv die Mahdi-Armee verantwortlich, da er schlichtweg die logische Weiterführung der vorangegangenen Ereignisse gewesen sei, d.h. zunächst die versuchte Entführung seines Sohnes, dann der Drohbrief und schließlich das Anhalten durch die Milizionäre.

Diesen substantiierten und detailreichen Vortrag wertet der Einzelrichter vor allem deshalb als glaubhaft, weil die Schilderung des Klägers bezüglich des vermeintlichen Anrufs seiner Frau das anerkannte Realitätsmerkmal der Wiedergabe von Komplikationen im Handlungsverlauf bzw. unverstandenen Handlungselementen enthielt, welche der Kläger erst nachträglich zuordnen konnte. Sie erweist sich zudem als logisch konsistent mit der vorherigen Schilderung des Klägers zu Beginn der mündlichen Verhandlung, wie ein durchschnittlicher Arbeitstag bei ihm ausgesehen habe. Hier gab er an, seinen Arbeitstag üblicherweise nach dem Sonnenaufgangsgebet begonnen zu haben, in der Sommerzeit also etwa gegen halb fünf Uhr morgens, woraufhin er mit seinem Taxi zu einer Taxihaltestelle gefahren sei, welche sei ca. vier Minuten Fahrtzeit von seinem (ehemaligen) Zuhause entfernt liege. Nicht zuletzt hat die Frau des Klägers in der mündlichen Verhandlung glaubhaft erläutert, der Brand sei ca. zwischen fünf und sechs Uhr morgens ausgebrochen, als ihre Kinder noch im Bett gewesen seien. Als sie damals beim Bundesamt gesagt habe, dass ihr Mann bei ihr gewesen sei, so habe sie damit gemeint, dass er unmittelbar nach dem Brand eingetroffen sei, nachdem ihn eine Nachbarin informiert habe.

Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen wurde der Kläger von den Angehörigen der Mahdi-Miliz im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Abs. 3 AsylG verfolgt, d.h. mit Gewalt bedroht und schließlich gewaltsam aus dem eigenen Heim vertrieben. Maßgeblichen Anknüpfungspunkt der Verfolgung bildete dabei die Religion des Klägers, d.h. der Umstand, dass er als Schiit seinen Glauben auch in ehelicher Gemeinschaft mit einer Sunnitin lebt (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Die dem Kläger widerfahrene Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Bei der Mahdi-Miliz handelt es sich um eine staatliche Organisation im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG. Zum Staat im Sinne dieser Vorschrift rechnen alle seine Organe im weiteren Sinne (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3c AsylG, Rn. 4). Für die Zurechnung zur staatlichen Sphäre ist es dabei ausreichend, dass sich der Staat der betreffenden Personen oder Gruppierung zur Herrschaftsausübung bedient (Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: November 2017, § 3c AsylG, Rn. 2). Eine asylrechtlich relevante Verantwortlichkeit des Staates für Verfolgungsmaßnahmen (privater) Dritter ist dabei nicht nur in dem Fall anzunehmen, in dem diese Verfolgungsmaßnahmen auf Anregung des Staates zurückgehen oder doch dessen Unterstützung oder einvernehmliche Duldung genießen, wie z. B. bei faktischer Einheit von Staat, Staatspartei oder Staatsreligion. Übergriffe sind vielmehr auch dann einem Staat zurechenbar, wenn der an sich schutzwillige Staat zur Verhinderung von Verfolgungsmaßnahmen prinzipiell und auf gewisse Dauer außerstande ist, weil er das Gesetz des Handelns an andere Kräfte verloren hat und seine staatlichen Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen nicht mehr durchzusetzen vermag (Bergmann, a.a.O., Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 22. 04.1986 – 9 C 318/85 -, NVwZ 1986, S. 928 f. [BVerwG 22.04.1986 - BVerwG 9 C 318.85 u.a.], LS 3). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall in Ansehung der Mahdi-Armee erfüllt.

Wie aus den vorgenannten Erkenntnismitteln ersichtlich, bedient sich der irakische Staat der Mahdi-Armee zur Herrschaftsausübung, weil er die unter dem Dachverband der PMF vereinigten Milizen in die offizielle Struktur der irakischen Sicherheitskräfte eingegliedert hat (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70). Hiermit korrespondierend hat der irakische Staat den PMF den Status einer „unabhängigen militärischen Formation, Teil der irakischen Streitkräfte und angekoppelt an den obersten Befehlshaber der Streitkräfte“ verliehen. Zudem zahlt der irakische Staat den Angehörigen der PMF-Milizen Sold, gewährt Invaliden- und Hinterbliebenenleistungen, liefert ihnen Waffen und Ausrüstungsmaterialien und lässt die Milizen auf staatliche Logistik zurückgreifen.

Darüber hinaus nimmt der irakische Staat das kriminelle Handeln von Mitgliedern der Mahdi-Armee im zivilen Sektor tatenlos zur Kenntnis. Wie in den aufgeführten Erkenntnismitteln dargestellt, ist der irakische Staat in erheblicher Weise geschwächt und hat, ungeachtet der formalen Befehlsgewalt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, keine effektive Möglichkeit, Einfluss auf die PMF-Milizen zu nehmen. Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist zudem insbesondere die irakische Polizei nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen seien hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 9; BFA, a.a.O., S. 70). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23). Mutmaßliche Rechtsverletzungen schiitischer Milizen vermag die Polizei nicht zu ahnden. Führungskräfte der Polizei sind in Bagdad überdies gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befinden sich überhaupt unter Polizeikontrolle.

Ausgehend von ihrer zahlenmäßigen Größe, die realistischen Schätzungen zufolge bis zu 50.000 Mann umfasst, und ihrem Wirkungsgrad im Großraum Bagdad handelt es sich bei der Mahdi-Armee im Übrigen selbst bei einer abweichenden Betrachtungsweise zu § 3c Nr. 1 AsylG jedenfalls um eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht (§ 3c Nr. 2 Var. 2 AsylG).

Der Kläger könnte sich schließlich auch dann nicht auf wirksamen staatlichen Schutz berufen, sofern man die Verfolgung durch die Mahdi-Armee als eine Verfolgung von sonstigen nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG einstufen würde. Der irakische Staat sowie die in § 3c Nr. 2 AsylG genannten Akteue sind nämlich, wie dargestellt, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung durch Angehörige der Mahdi-Armee zu bieten.

Es sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht wird.

Bei der Beurteilung der Frage, ob stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung sprechen, sind insbesondere die Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen und das Ausmaß der drohenden Gefahr zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 19; Nds. OVG, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 30). Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A - juris Rn. 38). Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei, begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden und entlastet sie schließlich von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in das Heimatland erneut realisieren.

In Anwendung dieses rechtlichen Maßstabs liegen derzeit keine stichhaltigen Gründe vor, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak nicht mehr Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein würde, die an seinen Glauben bzw. seine Ehe zu einer Sunnitin anknüpfen. Die Mahdi-Armee hat seit der Ausreise des Klägers ihre Machtposition im Irak im Gegenteil sogar weiter ausgebaut.

Dem Kläger und seiner Familie steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr überdies kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dazu heißt es im Urteil vom 26. Oktober 2017 (6 A 9126/17):

„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn Personen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu diesen Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Karbala. Die Sicherheitsüberprüfungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden.

Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.

Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“

Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass im Fall des Klägers besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, seine Lage könne von der vorgenannten Situation abweichen. Insbesondere bietet sich für den Kläger in Anbetracht der weiterhin von der Mahdi-Armee ausgehenden Bedrohung keine für die Gesamtfamilie zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad. Die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von Schiiten verfolgten sunnitischen Taxifahrers aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sahen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen). Bedenken bestünden im konkreten Fall auch gegenüber der Möglichkeit, die eigene Grundversorgung sicherzustellen: Bei einer mehrheitlich und homogen schiitisch bewohnten Stadt bestehe für einen von Schiiten verfolgten sunnitischen Taxifahrer nur eine eingeschränkte berufliche Verfügbarkeit (Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.). Diese Ausführungen beanspruchen für den von der schiitischen Mahdi-Armee verfolgten (schiitischen) Kläger entsprechende Geltung. Die Möglichkeit, in ein sunnitisch dominiertes Stadtviertel auszuweichen, ist dabei nach Auffassung des Gerichts auch deshalb nicht gegeben, weil hier nach den Vorerfahrungen der Kläger keine realistische Möglichkeit für die klägerische Familie bestünde, zusammenzuwohnen. So haben der Kläger und seine Ehefrau in der mündlichen Verhandlung beide glaubhaft vorgetragen haben, dass selbst die nahen (sunnitischen) Verwandten seiner Ehefrau, welche diese nach dem Hausbrand aufnahmen, Druck auf sie ausgeübt hätten, sich vom Kläger zu trennen. Jedenfalls erweist es sich für den Kläger und seine Familie in Anbetracht der Vorverfolgung nicht als zumutbar, im unmittelbaren Zugriffsbereich der Mahdi-Armee zu leben und zu arbeiten.

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.