Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 19.04.2017, Az.: 3 A 2091/15

Afghanistan; Gruppenverfolgung; Sikhs

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
19.04.2017
Aktenzeichen
3 A 2091/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 53870
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Derzeit ist nicht von einer Gruppenverfolgung von Sikhs in Afghanistan auszugehen.

Familien mit minderjährigen Kindern, die auf keinerlei familiären Rückhalt in Afghanistan zurückgreifen können, kann im Einzelfall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuerkannt werden.

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, für die Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Afghanistan festzustellen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. April 2015 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand:

Die Kläger sind afghanische Staatsangehörige und Zugehörige der Religionsgemeinschaft der Sikhs. Sie reisten am 12. Juni 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 19. Juni 2013 Asylanträge.

Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 2. Juli 2013 trugen die Kläger zu 1. und 2. im Wesentlichen vor, dass sie in Afghanistan als Angehörige der Sikhs ein beschwerliches Leben hätten führen müssen. Sie seien von Muslimen als Ungläubige beschimpft, beleidigt und bespuckt worden. Die Taliban hätten sie auch bestohlen. Er, der Kläger zu 1., habe zweimal eine Kopfverletzung erlitten, als ihn jemand mit einem Stein beworfen habe. Sie hätten in Afghanistan sehr isoliert gelebt und hätten ihre Kinder nicht aus dem Haus lassen können.

Mit Bescheid vom 30. April 2015 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Anerkennung als Asylberechtigte ab, erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu und verneinte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Die Kläger wurden unter Erlass einer Abschiebungsandrohung zur Ausreise nach Afghanistan aufgefordert. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Eine politische Verfolgung hätten die Kläger nicht vorgetragen. Sie seien auch keine Opfer gezielter staatlicher Verfolgungsmaßnahmen gewesen. Auch die Zugehörigkeit zur Religion der Sikhs führe nicht zu einer landesweiten Verfolgungsgefahr. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sei die Zahl der in Afghanistan lebenden Hindus und Sikhs gering und sie unterlägen einer allgemeinen gesellschaftlichen Diskriminierung durch die muslimische Mehrheitsbevölkerung. Von einer gezielten Verfolgung durch den afghanischen Staat oder durch Dritte könne jedoch nicht ausgegangen werden. Seit dem Sturz der Taliban habe sich die Lage der Hindus und Sikhs in Afghanistan verbessert. Es sei ihnen erlaubt, ihren Glauben auszuüben und öffentliche Gebetsstätten zu unterhalten. Es werde jedoch auch berichtet, dass Hindus und Sikhs bei der Suche nach Arbeitsstellen bei der Regierung Diskriminierungen ausgesetzt seien. Außerdem hätten sie Schwierigkeiten, die Bestattungen entsprechend ihrer Rituale durchführen zu können und ihre Kinder würden von Mitschülern belästigt. Es sei davon auszugehen, dass die meisten Hindus und Sikhs mittlerweile Afghanistan verlassen hätten. Eine gezielte Verfolgung könne den vorliegenden Auskünften jedoch nicht entnommen werden. Es könnten zwar Repressionen gegen einzelne Mitglieder der Minderheiten vorkommen, von einer generellen Verfolgung der Hindus und Sikhs könne aber nicht ausgegangen werden. Auch das Vorbringen der Kläger führe zu keiner anderen Beurteilung des Sachverhaltes, da die Belästigungen durch Muslime nicht über allgemeine Drohungen und Beschimpfungen hinausgegangen seien. Die vom Kläger zu 1. erwähnten Steinwürfe erreichten nicht die erforderliche asylrelevante Intensität, um zu einer anderen Entscheidung gelangen zu können. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Insbesondere sei für die aus K. stammenden Kläger nicht vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor.

Die Kläger haben am 18. Mai 2015 Klage erhoben. Sie tragen vor: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen vor. Zwischenzeitlich sei in Deutschland noch ein weiteres Kind geboren. Es handele sich bei ihnen daher um eine Familie mit drei kleinen Kindern, die in Afghanistan über keinerlei familiären Rückhalt mehr verfüge. Sie hätten auch keine Wohnung, in die sie zurückkehren könnten und keinerlei Vermögenswerte. Sie gehörten darüber hinaus einer benachteiligten religiösen Minderheit an und es erscheine ausgeschlossen, dass sie ihren Lebensunterhalt in Afghanistan sichern könnten. Zudem befinde er, der Kläger zu 1., sich regelmäßig in ärztlicher Behandlung. Er leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen und sei auf eine dauerhafte medikamentöse und ärztliche Behandlung angewiesen.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. April 2015 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihnen subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,

weiter hilfsweise, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Afghanistan festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die nach Übertragungsbeschluss der Kammer durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin entschieden werden konnte, ist hinsichtlich des Hauptantrags und des ersten Hilfsantrags unbegründet, weil das Begehren der Kläger auf Verpflichtung der Beklagten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutz zuzuerkennen, ohne Erfolg bleibt. Hinsichtlich des weiteren Hilfsantrages ist die Klage jedoch begründet, weil die Beklagte verpflichtet ist, für die Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - in Bezug auf Afghanistan festzustellen. Der Bescheid vom 30. April 2015 ist rechtswidrig und aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Kläger haben gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - GFK - (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 gelten nach § 3 a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgungsgründe sind nach § 3 b AsylG zu berücksichtigen die Rasse, die Religion, die Nationalität einschließlich der Zugehörigkeit zu einer kulturellen und ethnischen Gruppe, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, worunter auch die Zugehörigkeit aufgrund des Geschlechts gehört sowie die politische Überzeugung. Eine Verfolgung kann nach § 3 c AsylG ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Der Prüfung der Bedrohung i.S.v. § 3 AsylG ist unabhängig von der Frage, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits vorverfolgt, also auf der Flucht vor eingetretener bzw. unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat, oder ob er unverfolgt ausgereist ist, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 - juris, Rn. 22). Dabei setzt die unmittelbar - d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - drohende Verfolgung eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2009 - 10 C 24.08 - juris, Rn. 14). Soweit eine Vorverfolgung eines Schutzsuchenden im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - festzustellen ist, kommt ihm die Beweiserleichterung gemäß dieser Vorschrift zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2009, a.a.O., Rn. 18). Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Antragsteller "erneut von einem solchen Schaden bedroht wird", setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - juris, Rn. 31). Denn die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung - bei gleichbleibender Ausgangssituation - aus tatsächlichen Gründen naheliegt (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 - Rn. 21 - juris). Es ist deshalb im Einzelfall jeweils zu prüfen und festzustellen, auf welche tatsächlichen Schadensumstände sich die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie erstreckt. Zu beachten ist, dass eine Vorverfolgung nicht mehr wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden kann. Folglich greift im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung die Beweiserleichterung auch dann, wenn im Zeitpunkt der Ausreise keine landesweit ausweglose Lage bestand (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2009, a.a.O., Rn. 18).

Ist der Schutzsuchende dagegen unverfolgt ausgereist, muss er glaubhaft machen, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.

Ob die Voraussetzungen des § 3 AsylG erfüllt sind oder nicht, richtet sich nach den Umständen im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung, siehe § 77 Abs. 1 AsylG.

Nach Maßgabe dessen haben die Kläger nicht glaubhaft gemacht, dass ihnen vor ihrer Ausreise aus Afghanistan eine individuelle Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG gedroht hat.

Als Grund für ihre Ausreise haben die Kläger vorgetragen, sie hätten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sikhs ein sehr schweres Leben in Afghanistan gehabt. Sie seien äußerlich als Sikhs zu erkennen gewesen und seien von Moslems beschimpft und bespuckt worden. Auch seien die Taliban in ihr Geschäft gekommen und hätten Waren mitgenommen, ohne diese zu bezahlen. Zweimal sei er, der Kläger zu 1., mit einem Stein beworfen worden, einmal zehn Jahre vor der Ausreise und nochmals zwei Monate vor der Ausreise. Er habe auch eine Kopfverletzung davongetragen.

Das Gericht glaubt den Vortrag der Kläger und hält es angesichts der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel auch für durchaus lebensnah, dass diese aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Sikhs im Alltag von den muslimischen Mitbürgern beleidigt und eventuell auch bedroht worden sind. Es kann auch als wahr unterstellt werden, dass der Kläger zu 1. zweimal mit einem Stein beworfen worden ist. Die erlittenen Einschränkungen beruhen auch auf einem Verfolgungsgrund nach § 3 b Abs. 1 Nr. 2 AsylG, da die Kläger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer Volks - bzw. Religionszugehörigkeit drangsaliert worden sind. Allerdings genügen die vorgetragenen Beleidigungen, Drohungen und selbst die körperliche Misshandlung in Form der Steinwürfe nicht, um als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 a AsylG gelten zu können. Als Verfolgung im Sinne des § 3 a Abs. 1 AsylG gelten nach Nr. 1 der Vorschrift Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daraus folgt, dass die Verfolgungshandlungen ein gewisses Maß an Schwere aufweisen müssen, um unter § 3 a AsylG fallen zu können. Die Verfolgung nach § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG muss daher die begrifflichen Kriterien einer Foltermaßnahme oder einer unmenschlichen Behandlung oder Bestrafung erfüllen. Weniger schwerwiegende Beeinträchtigungen werden nicht erfasst (Marx, AsylVfG, § 3 Rn. 9). Unter „Folter“ ist eine Behandlung zu verstehen, die einer Person vorsätzlich schwere Schmerzen oder Leiden körperlicher oder geistig-seelischer Art zufügt, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erzwingen, sie oder einen Dritten zu bestrafen, einzuschüchtern oder zu nötigen oder mit diskriminierender Absicht zu verfolgen. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss ein Minimum an Schwere erreichen, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Die Bewertung dieses Minimums ist jedoch relativ. Kriterien hierfür sind abzuleiten aus allen Umständen des Falles, wie z.B. die Art der Behandlung oder Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgte, die Art und Weise ihrer Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen, und in einigen Fällen Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. ausführlich Renner, Ausländerrecht, § 60 Abs. 2 AufenthG, Rn. 35, sowie Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, Seite 655 ff.).

Auch wenn das Gericht nicht verkennt, dass die Kläger in Afghanistan aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich benachteiligt worden sind, ist nicht ersichtlich, dass die Verfolgung einen ähnlichen Schweregrad wie eine Foltermaßnahme oder eine unmenschliche Behandlung aufweist. Es liegt auch keine Verfolgung im Sinne des § 3 b Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, weil die geltend gemachten Beeinträchtigungen auch in ihrer Gesamtwirkung nicht als so gravierend angesehen werden können wie die Verletzung der nach Art. 15 Abs. 2 EMRK geschützten Rechte. Die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 AsylG aufgrund individueller Vorfluchtgründe sind mithin nicht erfüllt.

Auch eine erneute Verfolgung in diesem Ausmaß im Falle einer Rückkehr würde mithin keinen beachtlichen Nachfluchtgrund darstellen.

Die Kläger waren auch weder vor ihrer Ausreise noch wären sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Sikhs von einer Gruppenverfolgung bedroht.

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 21. April 2009 - 10 C 11.08 - juris) setzt die Feststellung einer Gruppenverfolgung Folgendes voraus:

„Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. <204 f.>). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.

Diese ursprünglich für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG (entsprechend Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie ) ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 21 f.).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. Rn. 24).

An den für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben ist auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Qualifikationsrichtlinie in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert. Auch dem - allerdings in anderem Zusammenhang ergangenen - Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Februar 2009 (Rechtssache C 465/07 - Elgafaji - Rn. 37 ff., InfAuslR 2009, 138) dürften im Ansatz vergleichbare Erwägungen zugrunde liegen, wenn dort im Rahmen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie der Grad der Bedrohung für die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe eines Landes zur individuellen Bedrohung der einzelnen Person in Beziehung gesetzt wird.“

Nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ist nicht davon auszugehen, dass derzeit die Gefahr einer Gruppenverfolgung für die Angehörigen der Sikhs in Afghanistan anzunehmen ist.

Nach Informationen von D-A-CH vom 9. Dezember 2013 gebe es widersprüchliche Berichte, ob sich die Situation der kleinen afghanischen Hindu- und Sikh-Gemeinschaft seit dem Fall der Taliban verbessert habe. Es sei den Sikhs und Hindus erlaubt, ihren Glauben auszuleben. Auch hätten sie Orte, an denen sie öffentlich ihren Gottesdienst verrichteten.  Sie seien jedoch auch weiterhin Ziel von Verfolgung und Diskriminierung. Die lokale Sikh- und Hindu-Gemeinschaft habe Probleme hinsichtlich des Erwerbs eines Grundstücks für Kremation gehabt, auch seien sie Belästigungen (wie z.B. verbalen und physischen Angriffen in der Öffentlichkeit) während größerer religiöser Festlichkeiten ausgesetzt gewesen. Unter dem Talibanregime sei die Religionsfreiheit der Sikhs eingeschränkt und die Kremation verboten worden. Obwohl das Verbot nicht mehr in Kraft sei, seien Begräbnisriten ein großes Problem. Auch hätten die Sikhs mit Diskriminierung am Arbeitsmarkt und in öffentlichen Schulen zu kämpfen. Es gebe Schulen für Kinder von Sikhs in Ghazni, Helmand und Kabul. Obwohl mehr als ein Viertel der Sikh-Bevölkerung in Jalalabad lebe, gibt es dort keine Schule für sie. Die Regierung unterstütze Schulen der Sikhs mit eingeschränkter Finanzierung. Einige Kinder von Sikhs besuchten internationale Privatschulen. Vor drei Jahrzehnten noch habe es 64 Glaubensstätten landesweit gegeben, heutzutage existierten nur noch neun.

Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 (Seite 10 f.) geht hervor, dass es keine verlässlichen Angaben über die Anzahl von Hindus und Sikhs in Afghanistan gibt. Die Indische Botschaft Kabul gehe von wenigen Tausend landesweit aus. Es gebe zwei aktive Gurudwaras (Gebetsstätte der Sikhs) in Kabul und vier Hindu-Tempel landesweit, davon zwei in Kabul sowie je einen in Jalalabad und Helmand. Staatliche Diskriminierung gebe es nicht, auch wenn der Weg in öffentliche Ämter für Hindus/Sikhs schon auf Grund fehlender Patronagenetzwerke schwierig sei. Hindus und Sikhs würden aber von großen Teilen der muslimischen Bevölkerung als Außenseiter wahrgenommen. Viele Muslime lehnten insbesondere Feuerbestattungen ab, die im Hinduismus und Sikhismus das zentrale Begräbnisritual darstellten. Die afghanische Regierung habe darauf reagiert, indem sie den Hindus einen dafür gewidmeten Ort zur Verfügung gestellt habe. Auf dem Weg dorthin würden Trauergemeinden allerdings Berichten zufolge belästigt und bedroht. Es gebe auch Berichte, wonach Hindus und Sikhs Opfer illegaler Enteignungen und Beschlagnahmung ihrer Grundstücke geworden seien. Seit 2014 hätten Hindus und Sikhs Anspruch auf einen (gemeinsamen) Sitz im Parlament.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt in ihrem Update zur aktuellen Sicherheitslage vom 30. September 2016 (Seite 23) aus, religiöse Minderheiten, wie Hindus und Sikhs, sähen sich im Alltag mit Diskriminierung, Einschüchterung, Schikanen und gewaltsamen Übergriffen konfrontiert. Hindus und Sikhs hätten Probleme bei der Ausübung ihrer Bestattungsrituale sowie bei der Rückforderung ihres Landbesitzes. Auch wenn seitens des Staates ein gewisser Wille vorhanden sei, sei der Schutz auf lokaler Ebene nicht gewährleistet.

Den aktuellen Richtlinien des UNHCR vom 19. April 2016 zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender ist zu entnehmen, dass nicht-muslimische religiöse Minderheiten, insbesondere Christen, Hindus und Sikhs, weiterhin im geltenden Recht diskriminiert werden. Die geringe Anzahl der laut Berichten in Afghanistan verbliebenen Sikhs und Hindus sei umso gefährdeter, Misshandlungen ausgesetzt zu sein, insbesondere durch die Polizei und extremistische Kräften der muslimischen Gemeinschaft. Die Gemeinschaften der Sikhs und Hindus seien - obwohl ihnen die öffentliche Ausübung ihrer Religion erlaubt ist - Berichten zufolge trotz öffentlicher Erklärungen von Präsident Ghani, Toleranz zu fördern und die politische Vertretung von Sikhs und Hindus zu erweitern, weiterhin Diskriminierungen durch den Staat ausgesetzt, auch beim Streben nach öffentlicher Teilhabe und bei der Suche nach einer Anstellung im öffentlichen Dienst. Sikhs und Hindus seien Berichten zufolge weiterhin gesellschaftlicher Diskriminierung und Einschüchterung ausgesetzt. Beide Religionsgemeinschaften berichten von Schwierigkeiten durch Schikanen und Diskriminierungen bei Beerdigungen gemäß ihren Bräuchen. Berichten zufolge biete die Polizei den Hindus und Sikhs Schutz während ihrer Beerdigungsrituale. Jedoch gäben Mitglieder beider Religionsgemeinschaften an, dass sie sich in anderen Situationen, darunter im Zusammenhang mit Landstreitigkeiten, vom Staat schutzlos gestellt sähen. Berichten zufolge seien Sikhs und Hindus Opfer illegaler Enteignung und Beschlagnahme ihrer Grundstücke geworden und es sei berichtet worden, dass es ihnen nicht möglich gewesen sei, Eigentum zurückzuerhalten, das während der Zeit des Mudschaheddin-Regimes beschlagnahmt worden sei. Mitglieder beider Gemeinschaften sähen Berichten zufolge aus Angst vor Vergeltungsakten davon ab, die Rückgabe ihres Eigentums gerichtlich durchzusetzen. Es seien Berichten zufolge einige wenige Schulen für Kinder der Hindus und der Sikhs eingerichtet. Jedoch seien die Kinder beider Gemeinschaften, die öffentliche Schulen in Kabul besuchen, Belästigungen und Schikanierungen durch andere Schüler ausgesetzt.

Nach den aufgeführten Erkenntnissen liegt es mithin so, dass Angehörige der Sikhs in Afghanistan zwar immer wieder Nachteile und Übergriffe hinzunehmen haben - sowohl von staatlicher als auch von gesellschaftlicher Seite -, und durchaus in der Öffentlichkeit diskriminiert, beleidigt und bedroht werden. Die (strengen) Anforderungen an eine Gruppenverfolgung können letztlich jedoch nicht als erfüllt angesehen werden (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 5. Juli 2016 - W 1 K 16.30615 - juris zur vergleichbaren Situation von Hindus in Afghanistan).

Die Voraussetzungen des § 3 AsylG liegen damit für die Kläger nicht vor.

Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Zuerkennung von subsidiärem Abschiebungsschutz.

Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht.

Abschiebungsverbote nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG sind ebenfalls nicht gegeben.

Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, wenn für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (entsprechend Art. 15 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie).

Zu dem in § 60 Abs. 2 AufenthG normierten Abschiebungsverbot, welches nunmehr auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG Bezug nimmt, hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass sich die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 der EMRK zu orientieren habe. Dieser betone in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 - juris, Rn. 25 mit Verweis auf EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 [BFH 13.03.1990 - IX R 104/85], Rn. 88; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 [EGMR 15.11.1996 - 70/1995/576/662], Rn. 80 ff. und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O., Rn. 127, 137 ff.; zur Definition von Folter und unmenschlicher Behandlung siehe die Erläuterungen auf Seite 9).

Der Prüfung der Bedrohung i.S.v. § 4 AsylG ist unabhängig von der Frage, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits vorgeschädigt, also auf der Flucht vor eingetretener bzw. unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat, oder ob er unverfolgt ausgereist ist, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 - juris, Rn. 22). Soweit eine Vorschädigung eines Schutzsuchenden im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie festzustellen ist, kommt ihm - wie auch hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung - die Beweiserleichterung gemäß dieser Vorschrift zugute.

Die Kläger haben Afghanistan nicht „vorgeschädigt“ im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie verlassen. Die von ihnen erlittenen Beeinträchtigungen stellen, wie bereits ausgeführt wurde, keine Handlungen dar, die dem Begriff der Folter oder unmenschlicher Behandlung entsprechen könnten.

Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Danach gilt als ernsthafter Schaden eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 - juris). Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 - juris; bestätigt durch BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.). Auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07 - juris, Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 - juris, vgl. Art. 2 Buchst. e der Richtlinie). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009, Az: C-465/07 - juris). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Das Bundesverwaltungsgericht folgert aus dieser Prämisse, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Lägen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, sei ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; lägen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genüge auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - juris). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehörten in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu könnten aber nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt sei, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht komme. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände müsse aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichten hierfür nicht aus. Erforderlich sei vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - sowie Beschluss vom 7. August 2008 - 10 B 39.08 - juris).

Die Frage, ob die landesweit oder in der Provinz Kabul, aus welcher die Kläger stammen, zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus ihrem Heimatland und/oder zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt darstellen, kann offen bleiben (zur Zulässigkeit dieser rechtlichen Einschätzung siehe OVG Lüneburg, Beschluss vom 13. Februar 2012 - 7 LA 215/11 - juris). Denn selbst wenn man einen bewaffneten innerstaatlichen Konflikt annehmen wollte, hätten die Auseinandersetzungen landesweit bzw. in Kabul jedenfalls bislang noch nicht eine solche Intensität erreicht, die die Schlussfolgerung erlauben würde, dass für jede Zivilperson, die sich in diesem Gebiet aufhält, die Gefahr besteht, zwangsläufig von den dort stattfindenden bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen zu werden. Die erforderliche Gefahrendichte ist nicht gegeben.

Für die Jahre 2009 bis 2016 lassen sich den Berichten der United Nations Assistance Mission in Afghanistan - UNAMA - folgende Opferzahlen für das gesamte Land entnehmen, vgl. UNAMA Annual Report 2015, Stand Februar 2016, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/poc_annual_report_2015_final_14_feb_2016.pdf, Seite 1 sowie UNAMA Midyear Report 2016, http://unama.unmissions.org/sites/default/files/protection_of_civilians_in_armed_conflict_midyear_report_2016_final_rev.1-9sept.pdf, Seite 1 und UNAMA Annual Report 2016, Stand Februar 2017, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/protection_of_civilians_in_armed_conflict_annual_report_march_2016_final.pdf, Seite 3):

Jahr   

Getötete Zivilisten

Verletzte Zivilisten

2009   

2.412 

3.556 

2010   

2.792 

4.368 

2011   

3.133 

4.709 

2012   

2.769 

4.821 

2013   

2.969 

5.668 

2014   

3.701 

6.833 

2015   

3.545 

7.457 

2016   

3.498 

7920   

Für das Jahr 2016 enthält der UNAMA-Bericht keine Aufschlüsselung der Opferzahlen für die jeweiligen Provinzen, sondern lediglich aufgeteilt nach Regionen. Danach gab es in der Zentralregion mit Kabul 2348 Getötete bzw. Verletzte im Jahr 2016 (UNAMA Annual Report 2016, S.14). Eine genauere Einschätzung der Anzahl der Vorfälle bezogen nur auf die Provinz Kabul ist nicht möglich. Selbst wenn man aber zu Gunsten der Kläger davon ausginge, dass alle diese zivilen Opfer auf die Provinz Kabul entfallen wären, ergäbe sich gemessen an der aktuellen Bevölkerung von Kabul (4,37 Mio., vgl. "Afghanistan Statistical Yearbook 2015-16) eine Anschlagswahrscheinlichkeit von 0,05 %.

Jedoch dürfte zu der von der UNAMA registrierten Anzahl toter und verletzter Zivilpersonen eine erhebliche Dunkelziffer hinzutreten (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 7. September 2015 - 9 LB 98/13 - juris). Denn die UNAMA verzeichnet in den Annual Reports nur dann verletzte und getötete Zivilisten, wenn der betreffende Vorfall mindestens durch drei Quellen bestätigt wurde (vgl. UNAMA Midyear-Report 2015, S. i. „Methodology“). Ein Faktor von 1:3 wird dabei teilweise als realistisch angesehen (vgl. etwa HessVGH, Urteil vom 30. Januar 2014 - 8 A 119/12.A - juris, Rn. 40 sowie OVG NRW, Urteil vom 26. August 2014 - 13 A 2998/11.A - juris, Rn. 151 f. unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Danesch an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 3. September 2013 im Verfahren 8 A 119/12.A). Bei einer Verdreifachung der von der UNAMA verzeichneten Anzahl getöteter und verletzter Zivilpersonen wäre für das Jahr 2016 von einer Wahrscheinlichkeit, in der Provinz Kabul Opfer eines Anschlags zu werden, in Höhe von 0,15 % auszugehen.

Trotz der nicht von der Hand zu weisenden vorliegenden schwierigen Sicherheitslage ist es im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung - auch unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage - nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger als Angehöriger der Zivilbevölkerung bei Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz Kabul infolge willkürlicher Gewalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit ausgesetzt wären. Unter Berücksichtigung vorstehender Maßstäbe ist es zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sich die Sicherheitslage in der Provinz Kabul in absehbarer Zeit derart verschärfen wird, dass bei Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts davon ausgegangen werden kann, der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt werde ein so hohes Niveau erreichen, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit - und damit auch die Kläger - in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt sein wird. Denn das Risiko von 0,15 % ist nicht ausreichend für die zu fordernde Annahme eines besonders hohen Niveaus an willkürlicher Gewalt (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 - juris, Rn. 22 f., das sinngemäß ausführte, die Höhe eines für das gesamte Jahr 2009 geltenden Risikos von ungefähr 1:800 - dies entspricht einem Wert von 0,125 % (Anm. des erkennenden Gerichts) -, in einer Provinz verletzt oder getötet zu werden, sei weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt).

Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Kläger gefahrerhöhende persönliche Umstände für sich in Anspruch nehmen können.

Das Bundesamt ist indes zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Afghanistan festzustellen.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf (hinsichtlich der Definition des Schutzbereichs des Art. 3 EMRK wird auf die obigen Ausführungen zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG verwiesen). Zwar machen die Kläger nicht geltend, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Afghanistan näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern sie berufen sich auf die allgemeine Lage. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend aber eine derart hohe Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist, die den Klägern im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde.

Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR können humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat nur in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. April 2016 - 9 LA 46/16 - V.n.b. mit Verweis u.a. auf EGMR, Urteile vom 28. Juni 2011 - 8319/07 und 1149/07 - Sufi and Elmi). Eine derartige Ausnahmesituation wäre für die Kläger gegeben, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müssten.

Vorab ist festzuhalten, dass die Kläger als Familie mit drei kleinen Kindern nach Afghanistan zurückkehren würden und davon auszugehen ist, dass es wenn überhaupt nur dem Kläger zu 1. möglich sein würde, einer Arbeit nachzugehen, da die Klägerin zu 2. keinerlei berufliche Erfahrung hat. Auf Unterstützung durch Angehörige können die Kläger nicht hoffen, da sich nach ihren Angaben, an denen das Gericht keinen Anlass zu zweifeln hat, keine Verwandten mehr in Afghanistan aufhalten.

Wird mithin die Notwendigkeit, dass der Kläger zu 1. allein für den Unterhalt der gesamten Familie aufkommen muss, zugrunde gelegt, würde diese einer besonderen Ausnahmesituation in Afghanistan ausgesetzt. Die humanitäre Lage dort lässt nach den derzeitigen Erkenntnissen des Gerichts jedenfalls für Familien mit minderjährigen Kindern, die über keine familiären Beziehungen oder sonstigen Rückhalt in Afghanistan verfügen und denen nicht unmittelbar nach der Rückkehr stabile Verdienstmöglichkeiten offenstehen, ein menschenwürdiges Dasein nicht zu. Insoweit knüpft das Gericht an die Ausführungen des Bay.VGH in seinem Urteil vom 21. November 2014 an (- 13a B 14.30284 - juris, insb. Rn. 23 ff.). Dieser hat ausgeführt:

„Mit Ausnahme der medizinischen Versorgung greift der Lagebericht 2014 (S. 19 f.) keine Einzelaspekte auf, sondern stellt nur die generelle Situation für Rückkehrer und die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dar. Es wird darauf verwiesen, dass es an grundlegender Infrastruktur fehle und die Grundversorgung nicht gesichert sei. Da somit keine grundlegende Änderung eingetreten ist, wird zu den Einzelaspekten auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Januar 2012 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 28 – Lagebericht 2012) zurückgegriffen, der die Situation detaillierter beschreibt. Dieser führt hinsichtlich der Unterkunftsmöglichkeiten aus, dass die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in den Städten nach wie vor schwierig sei. Das Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer bemühe sich um eine Ansiedlung der Flüchtlinge in Neubausiedlungen für Rückkehrer. Dort erfolge die Ansiedlung unter schwierigen Rahmenbedingungen; für eine permanente Ansiedlung seien die vorgesehenen „Townships“ kaum geeignet. Der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung sei häufig nur sehr eingeschränkt möglich. Nach der Auskunft von ACCORD vom 1. Juni 2012 leben Zehntausende zurückgekehrter Familien unter schlimmen Bedingungen in Slums mit behelfsmäßigen Unterkünften in und um die afghanischen Städte. Sie müssten mit weniger als zehn Liter Wasser am Tag pro Person auskommen und hätten nicht genügend zu essen. Auch die SFH (S. 19) weist darauf hin, dass die Wohnraumknappheit zu den gravierendsten sozialen Problemen gehöre, vor allem in Kabul. Zugang zu sauberem Trinkwasser hätten nur 39% der Bevölkerung, zu einer adäquaten Abwasserentsorgung nur 7,5%. Damit kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger eine adäquate Unterkunft finden werden, in der auch Kinder angemessen leben können. Erschwerend kommt hinzu, dass der afghanische Staat schon jetzt kaum mehr in der Lage ist, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Durch den enormen Bevölkerungszuwachs – etwa eine Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation – gerät er zusätzlich unter Druck (Lagebericht 2014, S. 19).

Die Grundversorgung ist nach dem Lagebericht 2014 (S. 20) für große Teile der Bevölkerung eine große Herausforderung, für Rückkehrer in besonderem Maße. Die medizinische Versorgung habe sich zwar in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert, falle jedoch im regionalen Vergleich weiterhin drastisch zurück. Nach wie vor seien die Verfügbarkeit von Medikamenten und die Ausstattung von Kliniken landesweit unzureichend. In Kabul gebe es eine gute ärztliche Versorgung in einer deutschen und einer französischen Einrichtung. Im Übrigen sei medizinische Hilfe aber oftmals nicht zu erreichen oder könne nicht bezahlt werden (SFH S. 20). Diese Gesichtspunkte sind vorliegend im Hinblick auf die beiden kleinen Kinder von besonderer Bedeutung. Hinzu kommt, dass nach der SFH (S. 19) die Qualität der Bildungsangebote unzureichend und Gewalt im Umgang mit Kindern weit verbreitet ist. Viele Kinder seien unterernährt; 10% der Kinder würden vor ihrem 5. Geburtstag sterben. Straßenkinder seien jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 9 – UNHCR-Richtlinien) geht davon aus, dass es für eine Neuansiedlung grundsätzlich bedeutender Unterstützung durch die (erweiterte) Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm bedarf. Nach einer ergänzenden Darstellung (Darstellung allgemeiner Aspekte hinsichtlich der Situation in Afghanistan – Erkenntnisse u.a. aus den UNHCR-Richtlinien 2013 des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen – Vertretung in Deutschland – vom August 2014) sind 40% der Rückkehrer nicht in der Lage, sich wieder in ihre Heimatorte zu integrieren, rund 60% hätten Schwierigkeiten, sich ein neues Leben in Afghanistan aufzubauen.

Diese Auskünfte ergeben einen ausreichenden Einblick in die tatsächliche Lage in Afghanistan. Insbesondere ist auch mit den neueren Erkenntnismitteln die derzeitige Situation hinreichend abgebildet, so dass es der Einholung weiterer Auskünfte nicht bedarf. Unter den dargestellten Rahmenbedingungen, vor allem mit häufig nur sehr eingeschränktem Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung, ist die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für eine Familie mit Kindern im Allgemeinen nicht möglich. Im Fall der Kläger wäre zusätzlich zu berücksichtigen, dass sie ohne die Ehefrau bzw. Mutter abgeschoben würden, somit also eine Betreuungsperson nicht zur Verfügung stünde. Bei den geschilderten Verhältnissen liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Für die Kläger besteht die ernsthafte Gefahr, dass sie keine adäquate Unterkunft finden würden und keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen zu hätten. Es steht zu erwarten, dass ihnen die zur Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse erforderlichen finanziellen Mittel fehlen werden. Ohne Hilfe werden sie sich weder ernähren können noch sind die einfachsten hygienischen Voraussetzungen gewährleistet. Da auch keine Aussicht auf Verbesserung der Lage besteht, ist davon auszugehen, dass die Kläger als Familie mit minderjährigen Kindern Gefahr laufen, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, die einen Mangel an Respekt für ihre Würde offenbart (siehe EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413).“

Auch aus den zwischenzeitlich vorliegenden Erkenntnismitteln neueren Datums ergibt sich nicht, dass sich die humanitäre Lage in Afghanistan grundlegend verbessert hat. Insbesondere geht aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 geht hervor, dass die humanitäre Situation in Afghanistan schwierig bleibe. Bereits die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, für Rückkehrer gelte dies naturgemäß verstärkt. Auch die medizinische Versorgung bleibe äußerst lückenhaft (S. 23).

Das Gericht kann hier nicht erkennen, dass es dem Kläger zu 1. ohne ein Netzwerk, auf welches er zurückgreifen könnte, und durch zu erwartende zusätzliche Benachteiligungen aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Sikhs, möglich sein würde, in ausreichendem Maße für den Lebensunterhalt der gesamten Familie zu sorgen.

Nach alledem ist es beachtlich wahrscheinlich (zum Prognosemaßstab bei § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK siehe Nds.OVG, Urteil vom 28. Juli 2014 - 9 LB 2/13 -; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - beide juris), dass die Kläger wegen ihrer besonderen individuellen Lage - mangelnde soziale Verwurzelung in ihrem Heimatland Afghanistan sowie fehlende familiäre Strukturen und sonstige Netzwerke - auf Grund ihrer besonderen Verletzlichkeit als Familie mit minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer Ausnahmesituation im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wären. Die humanitäre Lage dort lässt für sie ein menschenwürdiges Dasein nicht zu. Aufgrund ihrer individuellen Umstände ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie auch im Großraum Kabul in eine völlig aussichtslose Lage geraten würden.

Nach alledem ist unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides des Bundesamtes vom 30. April 2015 ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Afghanistan festzustellen.