Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 12.06.2003, Az.: L 13 SB 19/03 ER
Aussetzung der Vollstreckung nach Abwägung der Interessen; Interessenabwägung im Hinblick auf Rückerstattung und weiteres Verwaltungshandeln
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 12.06.2003
- Aktenzeichen
- L 13 SB 19/03 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 21029
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0612.L13SB19.03ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 14.01.2003 - AZ: S 1 SB 241/01
Rechtsgrundlage
- § 199 Abs. 2 SGG
Tenor:
Die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 14. Januar 2003 wird ausgesetzt. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Mit dem im Tenor genannten Urteil hat das SG den Beklagten verurteilt, der Klägerin den Nachteilsausgleich "Bl" ab dem 16. Juli 2002 zu bescheinigen.
Der Beklagte hat mit der rechtzeitig eingelegten Berufung die Aussetzung der Vollstreckung beantragt.
Die Klägerin hat gegen die Berufung geltend gemacht, es lägen drei Gutachten vor, die eine Blindheit im Sinne der gesetzlichen Definition bestätigten. Auf Empfehlung des Sozialgerichts habe sie in der mündlichen Verhandlung ihren Antrag zeitlich eingeschränkt und sei davon ausgegangen, dass dieser nunmehr auch erfüllt werde. Sie sei auf die Blindengeldzahlungen angewiesen, die der Landkreis Wesermarsch von einer positiven Entscheidung des Beklagten über das Merkzeichen "Bl" abhängig mache (Vorlage des Schreibens vom 20. Mai 2003).
II.
Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung ist zulässig. Das Urteil hat einen voll-streckungsfähigen Inhalt. Es ist auch keine aufschiebende Wirkung der Berufung durch Gesetz gegeben. § 154 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist hier nicht anwendbar, da er nur Anfechtungsklagen betrifft. § 154 Abs. 2 SGG ist schon deshalb nicht einschlägig, weil der Beklagte kein Versicherungsträger ist und auch keine Berufung oder Beschwerde "in der Kriegsopferversorgung" vorliegt.
Nach § 199 Abs. 2 SGG kann daher der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Die Entscheidung erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen unter Abwägung des Interesses der Anspruchsteller an der Vollziehung einerseits und des Interesses des Schuldners, nicht vor endgültiger Klarstellung der Rechtslage leisten zu müssen, andererseits (vgl. Meyer-Ladewig SGG, 7. Aufl., § 199 Abs. 8 SGG). Eine derartige Abwägung hat auch im Falle der Berufung stattzufinden, sodass die Aussetzung der Vollstreckung nicht nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt. Denn ein Regel-/Ausnahme-Verhältnis kann dem Gesetz nicht entnommen werden. Die Regelung des § 154 Abs. 2 SGG, wonach die aufschiebende Wirkung von Berufung und Nichtzulassungsbeschwerde für bestimmte Fälle (zwingend) angeordnet ist, zwingt nicht zu der Schlussfolgerung, dass sonst im Einzelfall die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nur ausnahmsweise in Betracht kommt (vgl. Zeihe SGb 94, 505; anders Meyer-Ladewig a.a.O. Rz. 8a m.w.N.).
In der vorliegenden Konstellation ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte oft schon aus Rechtsgründen keine Aussicht hat, Leistungen, sofern sie sich später als unberechtigt herausstellen, zurückzuerhalten (vgl. BSGE 57, 138). Darüber hinaus ist in Betracht zu ziehen, dass für den Leistungsträger vielfach - nicht nur wenn der Anspruchsteller ein Kind ist - die Gefahr besteht, dass die Rückerstattung faktisch nicht realisierbar ist. Dabei ist vorliegend nicht nur die bloße Eintragung des Merkzeichens "Bl" als "kostenlose" Verwaltungshandlung zu berücksichtigen, sondern auch die damit verbundenen Auswirkungen auf Leistungen anderer Behörden, wie hier das Blindengeld, um dessen Leistung es offensichtlich auch im vorliegenden Verfahren in erster Linie geht.
Das bedeutet nicht, dass in derartigen Fällen stets die Aussetzung der Vollstreckung anzuordnen ist und eine Verpflichtung zur vorläufigen Vollziehung des Urteils des Sozialgerichts nicht in Betracht kommt. Ein gegenüber den vorgenannten Gesichtspunkten überwiegendes Interesse der Klägerin an der Vollziehung ist hier aber nicht ersichtlich. Diese hat - auch auf Aufforderung - lediglich mitgeteilt, sie sei auf das Blindengeld angewiesen, diese Behauptung aber in keiner Weise konkretisiert und glaubhaft gemacht. Daher kann - unabhängig von den Erfolgsaussichten der Berufung des Beklagten - ein überwiegendes Interesse der Klägerin nicht angenommen werden.
Diese Entscheidung kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).