Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.06.2003, Az.: L 10 SB 117/01
Erhöhung des Grades einer Behinderung im Wege des Veschlimmerungsverfahrens; Bildung des Gesamtgrades einer Behinderung; Berücksichtigung der Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.06.2003
- Aktenzeichen
- L 10 SB 117/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21167
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0626.L10SB117.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 14.06.2001 - AZ: S 25 SB 547/99
Rechtsgrundlagen
- § 69 Abs. 1 SGB IX
- § 30 Abs. 1 BVG
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Die Einschätzung sowohl der Einzelgrade als auch des Gesamtgrades einer Behinderung erfolgt nach Maßgabe der Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz. Diese wirken rechtsnormähnlich und sind daher entsprechend zu berücksichtigen. Die Bildung eines Gesamtgrades der Behinderung ist dabei nicht eine von einem medizinischen Sachverständigen zu beantwortende Frage sondern Aufgabe richterlicher Überzeugungsbildung.
- 2.
Bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen ist ein Gesamtgrad der Behinderung in der Weise zu bilden, dass im Hinblick auf alle Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls inwieweit dadurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. Juni 2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob im Wege des Verschlimmerungsverfahrens der Grad der Behinderung (GdB) von ursprünglich 20 auf mindestens 50 statt 30 zu erhöhen ist.
Bei dem 1942 geborenen Kläger hatte das Versorgungsamt I. mit Bescheid vom 26. November 1975 wegen einer chronischen Entzündung der Vorsteherdrüse
einen Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. festgestellt. Im März 1999 beantragte der Kläger die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises und wies zur Begründung auf eine Diabeteserkrankung, eine coronare Herzkrankheit mit Zustand nach Infarkt und nach Stentimplantation, eine bronchiale Hyperreagibilität, eine Refluxoesophagitis, eine Prostatitis und eine Glaskörpertrübung rechts hin. Nach Beiziehung von Befundberichten des Allgemeinmediziners Dr. J. und des Augenarztes K. stellte der Beklagte mit Bescheid vom 10. August 1999 in der Gestalt des Teil-Abhilfebescheides vom 21. September 1999 und des Widerspruchsbescheides vom 30. September 1999 den GdB mit Wirkung seit dem 28. Dezember 1998 mit 30 wegen der Funktionsstörungen
- 1.
coronare Herzkrankheit, Herzinfarkt
- 2.
chronische Entzündung der Vorsteherdrüse
fest. Eine Einbuße der körperlichen Beweglichkeit bestehe nicht.
Dagegen hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Hannover eingelegt, das erneut Berichte des Augenarztes K. und des Dr. J. sowie einen Entlassungsbericht der Herz-Kreislauf-Klinik L. beigezogen hat. Sodann hat es die Klage mit Urteil vom 14. Juni 2001 als unbegründet abgewiesen. Die coronare Herzkrankheit sei unter Berücksichtigung des verbliebenen Leistungsvermögens einerseits und der weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen am Herzen mit einem Teil-GdB von 20 richtig bemessen. Die sonstigen Gesundheitsstörungen seien so gering ausgeprägt, dass sie sich auf die Bildung des Gesamt-GdB nicht auswirkten oder nicht einmal einen eigenständigen Teil-GdB rechtfertigten.
Gegen das ihm am 28. Juni 2001 zugestellte Urteil wendet sich die am 27. Juli 2001 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers, mit der er weiterhin die Gewährung eines GdB von mindestens 50 begehrt. Hierzu trägt er vor, die Folgen der coronaren Herzkrankheit seien zu gering bewertet. Die bronchiale Hyperreagibilität führe saisonbedingt zu Asthmaanfällen und müsse daher ebenfalls höher bewertet werden. Die Refluxoesophagitis verursache anhaltende Beschwerden. Die Glaskörpertrübung bedinge das Auftreten von Schleiern und zeitweisen Gesichtsfeldausfällen. In seiner Einschätzung sieht er sich durch das Ergebnis der in zweiter Instanz durchgeführten Beweisaufnahme bestätigt.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. Juni 2001 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 10. August 1999 in der Gestalt des Bescheides vom 21. September 1999 und des Widerspruchsbescheides vom 30. September 1999 zu ändern,
- 2.
den Beklagten zu verurteilen, bei ihm einen GdB von wenigstens 50 seit Dezember 1998 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. Juni 2001 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend. Dem Ergebnis der in zweiter Instanz durchgeführten Beweisaufnahme hält er die von ihm vorgelegte versorgungsärztliche Stellungnahme der Medizinaldirektorin Dr. M. vom 14. Mai 2003 entgegen.
Auf seinen Antrag gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat der Senat den Kläger von Dr. N. auf kardiologischem und Dr. Dr. O. auf gastroenterologischem Fachgebiet begutachten lassen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die unter dem 15. April und 31. März 2003 erstatteten Gutachten Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes Hannover Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat mit Recht festgestellt, dass bei dem Kläger für die Zeit seit Ende Dezember 1998 ein höherer GdB als 30 nicht anzusetzen ist.
Ohne dass sich dadurch wesentliche materiell-rechtliche Änderungen ergeben, ist der Anspruch des Klägers inzwischen anhand der Vorschriften des Sozialgesetzbuches, Neuntes Buch (SGB IX) zu beurteilen, die an die Stelle der aufgehobenen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind. Gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX sind die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Maßgabe der im Rahmen des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) festgelegten Maßstäbe als GdB festzustellen. Die Einschätzung sowohl der Einzelgrade als auch des Gesamtgrades der Behinderung erfolgt nach Maßgabe der "Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" in der aktuell gültigen Fassung von 1996 (AHP 1996). Diese wirken rechtsnormähnlich und sind daher zu berücksichtigen (vgl. etwa Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 23. Juni 1993, Az.: 9/9 a RVs 1/91, SozR 3-3870 § 4 Nr. 6; Urteil vom 11. Oktober 1994, Az.: 9 RVs 1/93, SozR 3-3870 § 3 Nr. 5, Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 6. März 1995, Az.: 1 BvR 60/95, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6). Die Bildung des Gesamt-GdB ist dabei nicht eine von einem medizinischen Sachverständigen zu beantwortende Frage sondern Aufgabe richterlicher Überzeugungsbildung (vgl. Urteil des BSG vom 5. Mai 1993, Az.: 9/9a RVs 2/92SozR 3-3870 § 4 Nr. 5).
Nach diesen Maßstäben steht dem Kläger ein höherer GdB als 30 nicht zu. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass nach Rdnr. 19 Abs. 4 der AHP 1996 leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, von Ausnahmefällen abgesehen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen.
Oberhalb dieser Bagatellgrenze sicher nachgewiesen und damit zur Grundlage der gerichtlichen Entscheidung zu machen ist die coronare Herzkrankheit mit dem Zustand nach Herzinfarkt und nach Stentimplantation. Die insoweit von dem Beklagten und von Dr. N. vorgenommene Bewertung mit einen Teil-GdB von 20 ist sicher nicht zu Lasten des Klägers unrichtig. Angesichts des bereits im Februar 1999 wieder vorhandenen Belastungsvermögens bis 150 Watt - im Juni 2000 sogar bis 175 Watt - ohne Auftreten von Atemnot, anginösen Schmerzen oder pathologischen Messdaten im EKG bedingt die Herzfunktion an sich keinen messbaren GdB. Unter Hinzuziehung der Auswirkungen der Stentimplantation kann möglicherweise doch von einer gewissen Leistungsbeeinträchtigung der Herzfunktion ausgegangen werden, sodass ein GdB von 20 vertretbar erscheint.
Entgegen der Auffassung von Dr. Dr. O. bedingt die Refluxoesophagitis keinen Teil-GdB von wenigstens 30. Nach den Ausführungen des genannten Sachverständigen liegt bei dem Kläger eine Refluxoesophagitis ersten bis zweiten Grades vor. Die Beraterin des Beklagten Dr. M. hat in ihrer Stellungnahme vom 14. Mai 2003 zu Recht darauf hingewiesen, dass angesichts dieser geringen Ausprägung innerhalb der vierstufigen Unterteilung einer derartigen Erkrankung die Vergabe eines Teil-GdB am oberen Rand des von Rdnr. 26.10 der AHP 1996 vorgegebenen Beurteilungsbreite nicht angezeigt ist. Vielmehr wird ein Teil-GdB im mittleren Bereich, also von 20, den Beschwerden des Klägers durchaus gerecht.
Für die chronische Prostatitis ist nach Rdnr. 26.13 der AHP 1996 ein Teil-GdB von mehr als 20 auch für den Fall nicht zu vergeben, dass sie mit andauernden Miktionsstörungen und Schmerzen verbunden wäre. Solche sind nach Aktenlage eher zweifelhaft. Dr. N. hat darauf hingewiesen, dass zum Zeitpunkt der Begutachtung ein wesentlicher GdB durch diese Erkrankung nicht bedingt ist. Ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, ob etwa die 1975 erfolgte Bewertung der Erkrankung mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. im Hinblick auf die damals geltende Fassung der Anhaltspunkte zutreffend erfolgt ist.
Die bronchiale Übererregbarkeit bedingt schon nach der Schilderung der Beschwerden durch den Kläger keinen GdB von wenigstens 20. Die etwa saisonal auftretenden Anfälle sind vergleichsweise leichter Natur, was der Senat aus dem Umstand schließt, dass eine fachärztliche Behandlung deswegen nicht stattfindet. Nach der telefonischen Auskunft der Praxis Dr. P. vom 3. August 2000 war der Kläger bei diesem Arzt zuletzt im Jahr 1993 zur Behandlung. Auch insoweit erscheint die Vergabe eines GdB am oberen Rand des von Rdnr. 26.8 der AHP 1996 eröffneten Beurteilungsrahmens nicht gerechtfertigt. Dem entspricht auch die Bewertung des Dr. N., die der Senat lediglich ergänzend berücksichtigt. Nach den anlässlich der Begutachtung durchgeführten Untersuchungen hat zum Untersuchungszeitpunkt eine Beeinträchtigung der Lungenfunktion nicht vorgelegen. Auf die Ursache der Übererregbarkeit kommt es hingegen nicht an. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob etwa die gelegentlich bei dem Kläger auftretenden Beschwerden im Sinne einer Aspirationsbronchitis durch die Refluxoesophagitis unterhalten oder verstärkt werden.
Die Diabeteserkrankung des Klägers ist ausweislich der Auskunft des Dr. J. vom 17. Oktober 2000 rein diätetisch eingestellt, sodass nach Rdnr. 26.15 der AHP 1996 ein Teil-GdB dafür nicht zu vergeben ist.
Schließlich bedingt auch die Sehstörung des Klägers keinen Teil-GdB von wenigstens 20. Nach dem Befundbericht des Augenarztes K. vom 24. September 2000 liegt bei dem Kläger eine Sehschärfe ohne Korrektur von 1,0 vor. Dafür wäre ein Teil-GdB nach Rdnr. 26.4 der AHP 1996 nicht zu vergeben. Tatsächlich ist allerdings das Sehvermögen des Klägers schlechter einzuschätzen, weil er zeitweise Schleier vor den Augen hat. Darüber hinaus ist nach seinem Vorbringen zeitweise ein Teil des Sehfeldes durch einen braunen Fleck ausgeblendet. Im Hinblick darauf, dass nach der bei Rdnr 26.4 der AHP 1996 abgedruckten Tabelle ein Teil-GdB von 20 erst bei einer beidseitigen dauernden Sehminderung auf 0,4 anzunehmen wäre und dass andererseits erst bei einem dauernden Quadrantenausfall ein GdB von 20 festzustellen wäre, erscheint es gerechtfertigt, die nur zeitweise auftretenden Störungen bei dem Kläger geringer zu bewerten.
Gemäß Rdnr. 19 Abs. 1, 3 der AHP 1996 ist bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen der Gesamt-GdB in der Weise zu bilden, dass im Hinblick auf alle Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls inwieweit dadurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Insoweit geht der Senat davon aus, dass der durch die Herzerkrankung bedingte GdB wegen der Auswirkungen der Refluxoesophagitis um 10 auf 30 zu erhöhen ist. Denn während sich die Herzerkrankung durch eine Minderung der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit auswirkt, bedingt die Refluxoesophagitis vorwiegend eine schmerzhafte Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens. Schwerpunktmäßig in demselben Bereich wirkt sich die Prostatitis aus, sodass durch sie eine weitere Erhöhung des Gesamt-GdB selbst für den Fall nicht angezeigt erscheint, dass durch sie tatsächlich ein Einzel-GdB von 20 bedingt wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183,193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.