Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 05.06.2003, Az.: L 6 U 390/01
Anspruch auf Verletztenrente wegen einer als Berufskrankheit anerkannten Poly-Neuropathie; Berufskrankheit aufgrund einer Lösemittelexposition; Schwere Verläufe einer Polyneuropathie aufgrund einer Lösemittelexposition
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 05.06.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 390/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20999
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0605.L6U390.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - 09.10.2001 - AZ: S 3 U 166/97
Rechtsgrundlagen
- § 581 RVO
- § 212 SGB VII
- § 153 Abs. 2 SGG
- § 9 SGB VII
Redaktioneller Leitsatz
Schwere Verläufe einer Polyneuropathie aufgrund einer Lösemittelexposition klingen spätestens 3 Jahre nach Aufgabe der belastenden Tätigkeit vollständig oder weit gehend ab. Ein Fortschreiten der Erkrankung nach mehrmonatiger Expositionskarenz schließt daher eine Verursachung durch Lösungsmittel grundsätzlich aus.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 9. Oktober 2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt, ihm wegen einer als Berufskrankheit (BK) anerkannten Poly-Neuropathie Verletztenrente zu gewähren. Streitig ist weiterhin, ob ein Pneumothorax und ein Magenleiden Folgen dieser BK sind.
Der im September 1941 geborene Kläger war von April 1956 bis 1979 bei verschiedenen Arbeitgebern als Fußbodenverleger beschäftigt. Von 1980 bis 1983 arbeitete er als Wachmann im Sicherheitsdienst einer Bank. Von 1985 bis 1995 verrichtete er Hilfstätigkeiten im Kreiskrankenhaus C ... Seit Mai 1995 ist er durchgehend arbeitsunfähig.
Nach seinen eigenen Angaben litt der Kläger ab 1974/1975 im Bereich der Füße an einem Kältegefühl und später unter einem Brennen (Arztbrief des Internisten Dr. D. vom 27. Mai 1988). Seit 1982/1983 traten auch Schwierigkeiten beim Gehen auf. 1974 begann der Kläger, verstärkt Alkohol zu trinken, von 1979 bis 1985 bestand bei ihm ein erheblicher Alkohol- und Tablettenabusus (Berichte des Dr. E. vom 24. und 28. Januar 1994 sowie vom 13. April 1995; eigene Angaben des Klägers gegenüber Dres. F., Gutachten vom 11. Juli 1994; Entlassungsbericht der Klinik am G. vom 5. Oktober 1994; Entlassungsberichte des Landeskrankenhauses H. vom 6. April 1982, 24. Juni 1982 und 6. Dezember 1982). Seit Ende der 70er-Jahre litt er unter Stimmungsschwankungen und Depressionen. In den 80er-Jahren wurde eine Polyneuropathie diagnostiziert (Bericht des Dr. E. vom 8. Januar 1996). Im August 1994 machte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung seiner Beschwerden als BK geltend. Er legte hierzu Auszüge eines im Auftrag der LVA erstatteten Gutachten der Ärzte für Neurologie und Psychiatrie F. vom 11. Juli 1994 vor. Diese bejahten bei dem Kläger eine toxische Neuropathie, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Klebstoffdämpfe verursacht worden sei. Daneben bestehe ein deutliches depressives Erschöpfungssyndrom. Die Beklagte zog die medizinischen Unterlagen der LVA Hannover einschließlich des Gutachten der Dres. I. vom 20. März 1996 und der Krankenkasse sowie einen Bericht des Internisten Dr. E. vom 13. April 1995 bei. Die Ermittlungen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten ergaben, dass der Kläger von 1955 bis 1979 beim Verlegen von PVC-Böden, Linoleum und Parkett Umgang mit lösungsmittelhaltigen Klebern und Voranstrichen hatte. Die Grenzwerte für Lösemittel seien deutlich überschritten worden (Stellungnahmen vom 21. August 1995, 9. Oktober 1995, 23. August 1996, 17. Juni 1996 und 2. Juli 1996). Der Arzt für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin Dr. J. fand es in seiner Stellungnahme vom 30. Januar 1996 schwierig zu beurteilen, ob die Polyneuropathie des Klägers angesichts der 11-jährigen Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit zumindest teilursächlich auf die Lösungsmittelexposition zurückzuführen sei. In seinem Gutachten vom 30. August 1996 kam er zu dem Ergebnis, dass es durch die langjährige Lösungsmittelexposition zu einer distalbetonten Polyneuropathie gekommen sei. Diese sei von 1976 bis 1985 als leichtgradig zu bewerten. Er empfahl deshalb die Anerkennung wie eine BK gemäß § 551 Abs. 2 Reichsversi-cherungsordnung (RVO) bzw. nach der zukünftigen BK Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bewertete der Sachverständige bis Anfang der 80er-Jahre mit unter 20 v.H. Er führte weiter aus, dass es als Folge der Alkoholkrankheit zu einer Verschlimmerung der Erkrankung gekommen sei - die nach den eigenen Angaben des Klägers 1985 eingetreten sei - , die nicht zu einer Erhöhung der berufsbedingten MdE führen könne. Daraufhin erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 21. April 1997 die Polyneuropathie wie eine BK nach § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 7. Buch (SGB VII) an, lehnte aber die Gewährung einer Verletztenrente ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. November 1997).
Hiergegen hat der Kläger am 19. Dezember 1997 Klage erhoben und auf den von ihm bereits vorgelegten Arztbrief des Arztes für Naturheilverfahren Dr. K. vom 11. Juni 1997 verwiesen. Auch sein Pneumothorax und sein Magenleiden seien als Folgen der BK anzuerkennen. Das Sozialgericht (SG) Aurich hat die Behandlungsunterlagen des Dr. L. beigezogen. Der Kläger ist im Termin zur Erörterung des Sachverhalts vom 11. August 1999 zu seinen Arbeitsbedingungen angehört worden. Danach ist das Gutachten der Fachärzte für Arbeitsmedizin Prof. Dr. M. vom 3. Juni 2001 und das neurologische Zusatzgutachten der Prof. Dr. N. vom 7. März 2001 eingeholt worden. Gestützt auf das Ergebnis dieser Beweisaufnahme hat das SG Aurich mit Ge-richtsbescheid vom 9. Oktober 2001 die Klage abgewiesen. Zwar lasse sich die erste Manifestation der Beschwerden des Klägers im Jahre 1974/1975 mit der beruflich bedingten Lösemittelexposition vereinbaren. Der spätere Verlauf der Erkrankung mit einer stetigen Zunahme der Beschwerden sei jedoch nicht mehr auf die Lösungsmittel, sondern im Wesentlichen auf den exzessiven Alkohol- und Tablettenkonsum des Klägers Ende der 70er und Beginn der 80er-Jahre zurückzuführen. Denn nach Beendigung der Lösemittelexposition 1979 sei es nicht zu einem Rückgang, sondern vielmehr zu einer Zunahme der Beschwerden gekommen. Schwierigkeiten beim Gehen seien erst 1984 aufgetreten, danach sei es noch zu einer Ausweitung der von der Polyneuropathie betroffenen Regionen gekommen. Ein derartiger Krankheitsverlauf lasse sich nicht mit der bereits 1979 beendeten beruflichen Exposition, sondern nur mit dem in diesen Jahren erfolgten Alkohol- und Tablettenabusus vereinbaren. Dieser sei durch die Berichte über die akuten Entgiftungen in der MHH und viermalige stationäre Entwöhnungstherapien belegt. Auch das Auftreten von Kontrollverlusten, Krampfanfällen und Delirien spräche für einen hohen bzw. sehr hohen Alkoholkonsum. Aus den gleichen Gründen seien auch die Stimmungsschwankungen und Depressionen, die erst 15 Jahre nach Expositionskarenz im Jahre 1994 zu einem Beschwerdehöhepunkt geführt hätten, nicht auf die Lösemitteleinwirkung zurückzuführen. Es gäbe auch keine Hinweise dafür, dass der Pneumothorax oder die Magenulzera durch die Lösemittelexposition hervorgerufen seien.
Hiergegen hat der Kläger am 1. November 2001 Berufung eingelegt und sein Vorbringen aus dem Klageverfahren wiederholt.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des SG Aurich vom 9. Oktober 2001 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 21. April 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 1997 abzuändern,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Aurich vom 9. Oktober 2001 zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die schwer Behinderten-Akte des Versorgungsamtes Oldenburg und die Gerichtsakten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung ist zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Das SG Aurich hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtene Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat wegen der bei ihm als BK anerkannten Polyneuropathie keinen Anspruch auf Verletztenrente nach den auf diesen Sachverhalt noch anwendbaren §§ 581 ff. RVO (vgl Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz,, § 212 SGB VII). Weiterhin lässt sich nicht feststellen, dass ein Magenleiden oder ein Pneumothorax Folge der Polyneuropathie ist. Die von der Beklagten als BK anerkannte Polyneuropathie des Klägers rechtfertigt nicht die Bewertung mit einer MdE in rentenberechtigendem Grade. In diesem Zusammenhang ist zunächst von Bedeutung, dass die Beklagte die Polyneuro-pathie nur in dem - leichtgradige (Gutachten Dr. J., Gutachten Prof. Dr. M.) - Zustand, in dem diese 1979 im Zeitpunkt der Beendigung der Lösungsmittelexposition bestand, als BK anerkannt hat. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Gründe im Gerichtsbescheid des SG Aurich Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG). Zudem handelt es sich bei der Polyneuro-pathie auch gegenwärtig nur um eine geringgradige Erkrankung, die im Übrigen zu keinen wesentlichen funktionellen Ausfällen führt (Gutachten der Prof. Dr. O. vom 7. März 2001). Insofern ist auch nach den gegenwärtigen Befunden zweifelhaft, ob das Ausmaß der polyneuropathischen Beschwerden des Klägers überhaupt einen rentenberechtigenden Grad erreicht.
Eine andere Beurteilung ergibt sich entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht aus dem Gutachten der P. und dem Arztbrief des Dr. Q. vom 11. Juni 1997. Beiden Ärzten vermochte sich der Senat nicht anzuschließen. Abgesehen davon, dass die Gutachter P. keine MdE-Bewertung für die Polyneuropathie vorgenommen haben, rechtfertigt ihre Aussage auf S. 6 ihres Gutachtens, dass nur leichte Formen der Neuropathie zur Ausheilung kommen, keine andere Beurteilung im Falle des Klägers. Zum einen bestand bei dem Kläger im Zeitpunkt der Beendigung der Lösemittelexposition 1979 nur eine leichte Form der Polyneuropathie, die sich damals nur in tauben und leicht brennendem Gefühl der Füße äußerte. Zum anderen ist diese Aussage der Gutachter durch die Gutachten der Prof. Dr. R. und Prof. Dr. M. widerlegt. Deren Ausführungen stehen im Einklang mit den allgemeinen unfallmedizinischen Erfahrungsgrundsätzen der Arbeitsmediziner, die in dem Merkblatt zur BK Nr. 1317, die 1997 eingeführt wurde und speziell für die Polyneuropathien durch Lösungsmittel gilt, niedergelegt sind. Danach bilden sich auch schwere Verläufe einer Polyneuropathie spätestens 3 Jahre nach Aufgabe der belastenden Tätigkeit vollständig oder weit gehend zurück. Ein Fortschreiten der Erkrankung nach mehrmonatiger Expositionskarenz - wie im Falle des Klägers - schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel aus (Merkblatt zur BK Nr. 1317, Abschnitt III, abgedruckt bei Lauterbach, § 9 SGB VII Anh IV). Darüber hinaus haben sich die Nervenärzte auch nicht damit auseinander gesetzt, inwieweit der langjährige Alkohol- und Tablettenmissbrauch des Klägers zur Entstehung oder Verschlimmerung der Polyneuropathie beigetragen haben, obwohl deren Einfluss auf diese Erkrankung medizinisch allgemein anerkannt ist. Dr. Q. wiederum hat geltend gemacht, dass für die Abgrenzung der Verursachungsbeiträge - Lösungsmittel und/oder Tabletten- und Alkoholabusus - der Zeitraum beider Expositionen genau bestimmt werden müsste. Gerade diese zeitlichen Abläufe aber hat Dr. J. unter Auswertung der umfangreichen medizinischen Unterlagen auch aus den Jahren seit 1979 bei seiner Bewertung plausibel berücksichtigt und danach seine Einschätzung vorgenommen.
Hinweise darauf, dass der Pneumothorax durch die Lösungsmittelexposition verursacht ist, finden sich in der Akte nicht. Auch Dr. Q. gesteht ein, dass sich hier ein Zusammenhang nicht herstellen lasse. Dies erweist sich vor dem Hintergrund, dass die häufigste Form des Pneumothorax in der Altersgruppe der Männer zwischen 15 und 35 Jahren - also im damaligen (1970) Alter des Klägers - idiopathisch, d.h. ohne erkennbare Ursache auftritt, nachvollziehbar (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stand 2001).
Desgleichen gilt für die vom Kläger geltend gemachte Magenerkrankung. Dass der Kläger gegenwärtig an einer Magenerkrankung leidet, ist bereits nicht im Wege des insoweit erforderlichen Vollbeweises belegt. In den umfangreichen aktuellen medizinischen Unterlagen hat keiner der behandelnden Ärzte eine derartige Diagnose gestellt, und der Kläger selbst hat auch nicht über entsprechende Beschwerden geklagt. Selbst wenn aber der Kläger in den 70er-Jahren unter Magengeschwüren gelitten haben sollte, worauf die Ausführung des Dr. Q. hinweisen, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass diese durch die Lösungsmittel verursacht worden sind. Im Übrigen können sie auf Grund ihrer Ausheilung nicht zu einer rentenberechtigenden MdE führen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Es liegt kein Grund vor, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).