Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 05.06.2003, Az.: L 13/5 SB 6/02

Festsetzung des Grades der Behinderung durch anerkannte Bewertungsmaßstäbe; Gleichbehandlung aller behinderten Menschen; Vornahme einer Gesamtbewertung bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen; Erhöhung des Grades der Behinderung durch psychische Leiden eines Betroffenen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
05.06.2003
Aktenzeichen
L 13/5 SB 6/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 25926
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0605.L13.5SB6.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 29.11.2001 - AZ: S 11 SB 428/98

Redaktioneller Leitsatz

Liegen bei einem Betroffenen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, ist eine Gesamtbewertung zur Feststellung des Grades der Behinderung vorzunehmen; dabei dürfen die einzelnen Werte nicht addiert werden.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 29. November 2001 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist der Grad der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) bzw. Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) streitig.

2

Der 1948 geborene Kläger beantragte im Februar 1998 beim Versorgungsamt Oldenburg die Feststellung des bei ihm vorliegenden GdB und gab als Gesundheitsstörungen an: »Tinnitus, Knie links, Schulter links, LWS, Drehschwindel«. Nach Beiziehung von Befundberichten der Orthopäden Dr. F. und Dr. G. sowie der HNO-Ärztin Dr. H. und deren Auswertung durch den Versorgungsärztlichen Dienst lehnte das Versorgungsamt den Antrag mit dem angefochtenen Bescheid vom 22. Juli 1998 ab, da die bei dem Kläger vorliegenden Behinderungen einen GdB von 20 nicht erreichten und danach ihre bescheidmäßige Feststellung ausgeschlossen sei. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben - NLZSA - vom 03.12.1998).

3

Mit seiner am 29. Dezember 1998 beim Sozialgericht (SG) Oldenburg erhobenen Klage hat der Kläger im Wesentlichen geltend gemacht, der bei ihm bestehende Tinnitus sei mit einer erheblichen psychischen Beeinträchtigung verbunden. Der versorgungsärztlicherseits angenommene Einzel-GdB von 10 sei daher zu niedrig. Ferner hat der Kläger auf einen Drehschwindel, starke Rückenschmerzen mit Lähmungserscheinungen im linken Bein, Kniebeschwerden links mit Beeinträchtigungen beim Treppensteigen sowie Probleme mit der linken Schulter hingewiesen. Auf Grund der vielfältigen Funktionsbeeinträchtigungen seien bei ihm die Voraussetzungen der Schwerbehinderteneigenschaft erfüllt.

4

Das SG hat Befundberichte des Orthopäden Dr. G. vom 27. August 1999 und der HNO-Ärztin I. vom 30. September 1999 beigezogen. Sodann hat es von Amts wegen ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. J. vom 20. Juni 2000 eingeholt. Dieser hat bei dem Kläger folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt: 1) Beidseitiger Tinnitus (Einzel-GdB 20) 2) Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule mit ausstrahlenden Beschwerden, rezidivierendem HWS- und LWS-Syndrom, Drehschwindel (Einzel-GdB 20) 3) Minderbelastbarkeit der linken Schulter (Einzel-GdB 10 - 20) 4) Minderbelastbarkeit des linken Kniegelenks (Einzel-GdB 10).

5

Den Gesamt-GdB hat der Sachverständige mit 30 eingeschätzt und zur Begründung ausgeführt, maßgeblich seien die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Die Funktionsstörungen im Bereich der Stütz- und Bewegungsorgane wirkten sich vorliegend - unabhängig von dem Ohrgeräusch beiderseits - auf den Ablauf des täglichen Lebens aus. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Funktionsstörungen von Seiten der Wirbelsäule und der linken Schulter unter funktionellen Aspekten überlagerten und die nur geringgradige Funktionsstörung im Bereich des linken Kniegelenks nicht geeignet sei, eine Erhöhung des GdB zu begründen. Auch sei ein Vergleich mit der altersüblichen Norm anzustellen. Die Schwerbehinderteneigenschaft liege danach noch nicht vor.

6

Sodann sind auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gutachten des HNO-Arztes Dr. K. vom 8. Januar 2001 und der Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. L. vom 16. Juli 2001 eingeholt worden. Dr. K. hat auf seinem Fachgebiet eine Tinnitus-Symptomatik festgestellt, die zu einer zumindest mittelstarken psychosozialen und psychovegetativen Reaktion geführt habe und danach mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei. Die HWS-Symptomatik sei eine Teilursache für die Ohrgeräusche, sodass beide Symptomenkomplexe nicht vollständig voneinander zu trennen seien. Entgegen der Einschätzung des Vorgutachters Dr. J. sei es allerdings sachlich nicht richtig, die Tinnitus-Symptomatik in einem hohen Maße in die orthopädische Einschätzung einzubeziehen. Vielmehr müssten die Werte addiert werden. Der GdB auf orthopädischem Gebiet betrage insgesamt 20 bis 30, auf HNO-ärztlichem Gebiet sei er mit 20 einzustufen. Der Gesamt-GdB sollte daher auf 40 zusammengefasst werden. Die Sachverständige Dr. L. hat als zusätzliche Funktionsstörung eine depressiv-ängstliche Persönlichkeitsstörung mit einem Einzel-GdB von 20 festgestellt. Diese psychiatrische Erkrankung erschwere die Verarbeitung des Tinnitus erheblich. Die Diagnosen Tinnitus und depressiv-ängstliche Persönlichkeitsstörung verstärkten sich also gegenseitig und seien mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten. Für die orthopädischen Erkrankungen habe der Vorgutachter einen GdB von 20 festgelegt, sodass der Gesamt-GdB auf 50 einzuschätzen sei.

7

Im Hinblick auf das Beweisergebnis hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 9. August 2001 ein Teilanerkenntnis abgegeben, mit dem er ab Februar 1998 einen GdB von 40 und eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festgestellt hat. In diesem Zusammenhang hat der Beklagte eine Stellungnahme seines Versorgungsärztlichen Dienstes vom 8. August 2001 vorgelegt. Darin werden folgende Funktionsbeeinträchtigungen aufgeführt:

1)
Ohrgeräusche mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit ausgeprägter depressiver Entwicklung (Einzel-GdB 30) 2) Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule mit ausstrahlenden Beschwerden, rezidivierendem HWS- und LWS-Syndrom (Einzel-GdB 20) 3) Minderbelastbarkeit der linken Schulter (Einzel-GdB 20)

8

Unter Hinweis auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Ausgabe 1996 (AHP 1996), Nr. 19, wird ein Gesamt-GdB von 40 empfohlen.

9

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das SG nochmals den Sachverständigen Dr. J. zur Frage des Gesamt-GdB gehört. Dieser hat ausgeführt, es lägen ausschließlich leicht- bis mittelgradige Funktionsstörungen vor, die fachärztlicherseits jeweils mit Behinderungsteilwerten von 20 bewertet worden seien. Unter Berücksichtigung der eindeutig vorhandenen Überlagerungseffekte auf allen drei Fachgebieten sei ein höherer GdB als 40 nicht begründbar. Daraufhin hat das SG den Bescheid vom 22. Juli 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1998 aufgehoben und - dem Teilanerkenntnis des Beklagten entsprechend - festgestellt, dass der GdB ab Februar 1998 40 betrage (Urteil vom 29. November 2001). Hinsichtlich der bei dem Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren Einzel-GdB hat sich das SG den im Laufe des Verfahrens gehörten Sachverständigen angeschlossen. Unter Berücksichtigung der in den AHP 1996 niedergelegten Grundsätze ergebe die Gesamtwürdigung der bei dem Kläger vorliegenden verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen, dass ein höherer GdB als 40 nicht gerechtfertigt sei. Abgesehen davon, dass sowohl die Minderbelastbarkeit der linken Schulter als auch des linken Kniegelenks mit einem Teil-GdB von 10 bis 20 bzw. 10 nicht geeignet sei, den Gesamt-GdB zu beeinflussen, lägen bei dem Kläger drei weitere Funktionsstörungen mit einem Teil-Wert von jeweils »nur« 20 vor. Zudem sei zu beachten, dass sich die Auswirkungen der Tinnitusproblematik mit der depressiv-ängstlichen Persönlichkeitsstörung überschnitten und nach der übereinstimmenden Ansicht der Sachverständigen Dr. J. und Dr. K. eine Überlagerung der Tinnitus-Symptomatik mit den im Bereich der HWS beklagten Funktionsstörungen bestünde. Bei dieser Sachlage erscheine dem Gericht die Annahme eines Gesamt-GdB von 40 angemessen und auch ausreichend zu sein. Der entgegenstehenden Ansicht der Sachverständigen Dr. L. sei nicht zu folgen. Denn diese habe offensichtlich die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) heranzuziehenden Grundsätze für die Bildung des Gesamt-GdB nicht berücksichtigt. Dieses werde durch den Umstand dokumentiert, dass sie ausgehend von einem GdB von 30 für den Tinnitus und die depressiv-ängstliche Persönlichkeitsstörung durch offensichtliches Hinzuaddieren eines GdB von 20 für die orthopädischen Leiden zu einem Gesamt-GdB von 50 komme. Eine solche oder andere Rechenmethoden zur Bildung des Gesamt-GdB-Grades seien aber nicht zulässig.

10

Gegen das ihm am 14. Dezember 2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. Januar 2002 Berufung eingelegt. Er weist auf einen bei ihm festgestellten ausgeprägten Drehschwindel hin. Nach den AHP 1996 begründeten solche Funktionsstörungen als Gleichgewichtsstörungen mit leichten Folgen einen Einzel-GdB von 20, mit mittelgradigen Folgen einen Einzel-GdB von 30-40. Ferner macht der Kläger geltend, das SG habe bei der Einschätzung des Gesamt-GdB die AHP i.V.m. der Rechtsprechung des BSG verletzt. Das BSG habe in seinem Urteil vom 13. Dezember 2000, Az.: B 9 V 8/00 R, ausgeführt, dass eine Erhöhung des Gesamt-GdB wegen eines zusätzlichen Einzel-GdB von 10 in Betracht komme, wenn sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirke. Die Sachverständigen Dr. K. und Dr. L. hätten übereinstimmend eine »Addition der Tinnitus-Symptomatik mit den Funktionseinschränkungen auf dem orthopädischen Gebiet« für erforderlich und notwendig erachtet. Soweit das SG unter Bezugnahme auf Dr. K. eine Überlagerung der Tinnitus-Symptomatik mit den im Bereich der HWS beklagten Funktionsstörungen angenommen habe, habe Dr. K. eine solche Feststellung nicht getroffen. Vielmehr habe er hinsichtlich der Tinnitus-Symptomatik eine getrennte Bewertung gefordert und die anders lautende Einschätzung des Orthopäden Dr. J. zurückgewiesen. Im Ergebnis lägen bei ihm - dem Kläger - als Funktionsstörungen eine depressiv-ängstliche Persönlichkeitsstörung (Einzel-GdB 30), ein Tinnitus (Einzel-GdB 20) und mehrere orthopädische Gesundheitsstörungen (Einzel-GdB 20) vor. Mithin sei ein Gesamt-GdB von 50 begründet. Die Einholung eines zweitinstanzlichen unabhängigen Sachverständigengutachtens unter Einbeziehung aller hier maßgeblichen Fachdisziplinen würde sein Begehren begründen.

11

Der Kläger beantragt sinngemäß,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 29. November 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22. Juli 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1998 zu verurteilen, ab Februar 1998 einen GdB von mindestens 50 festzustellen.

12

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

13

Zur Begründung legt er eine Stellungnahme seines Versorgungsärztlichen Dienstes vom 5. März 2002 vor. Darin wird ausgeführt, dass die bei dem Kläger vorliegende seelische Gesundheitsstörung mit einem Einzel-GdB von 30 zutreffend bewertet sei. Es wird weiterhin ein Gesamt-GdB von 40 empfohlen.

14

Das Gericht hat die Beteiligten mit Verfügung vom 9. Mai 2003 darauf hingewiesen, dass eine Zurückweisung der Berufung nach § 153 Abs. 4 SGG in Betracht kommt, und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

15

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Prozessakte (Band I und II) - L 13/5 SB 6/02 (S 11 SB 428/98) - sowie die , Az. 12-1026 2, verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beschlussfassung gewesen.

Entscheidungsgründe

16

Der Senat konnte die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss zurückweisen, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hielt. Die Beteiligten sind zu dieser Verfahrensweise gehört worden.

17

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist rechtlich nicht zu beanstanden. Das SG hat zutreffend festgestellt, dass die bei dem Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen ab Februar 1998 einen GdB von 40 bedingen, und - in den Entscheidungsgründen - die weiter gehende Klage abgewiesen.

18

Die Behinderung und der dadurch bedingte GdB sind im vorliegenden Fall nach den zum 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Vorschriften des SGB IX festzusetzen. Im Interesse der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen erfolgt die konkrete Festsetzung nach Maßgabe der in den AHP 1996 niedergelegten Maßstäben. Diese sind zwar kein Gesetz und auch nicht auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen. Es handelt sich bei ihnen jedoch um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung. Sie engt das Ermessen von Verwaltung und Ärzten ein, führt zur Gleichbehandlung und ist deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zu Grunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich von diesen auszugehen (BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 m.w.N.). Deshalb stützt sich auch der erkennende Senat in seiner ständigen Rechtsprechung auf die genannten Anhaltspunkte. An der bisherigen Feststellungspraxis hat sich im Übrigen durch den Umstand nichts geändert, dass mit Wirkung vom 1. Juli 2001 das SGB IX in Kraft getreten ist und die Feststellung der Behinderung nunmehr nach §§ 2, 69 SGB IX erfolgt (BSG, Urteil vom 07.11.2001 - Az. B 9 SB 1/01 R, veröffentlicht in der JURIS-Datenbank).

19

Das SG hat bei der Einschätzung des bei dem Kläger vorliegenden GdB die normähnlichen AHP nicht verletzt. Die im Berufungsverfahren vorgebrachten Einwände hinsichtlich der Bewertung des vom Kläger geklagten Drehschwindels und der Gesamt-GdB-Bildung erweisen sich als unbegründet.

20

Die bei dem Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen sind in dem Teilanerkenntnis des Beklagten vom 9. August 2001, das auf der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 8. August 2001 beruht, richtig bezeichnet worden. Insbesondere entspricht die Zusammenfassung der Ohrgeräusche (Tinnitus) und der psychischen Begleiterscheinungen zu einer Funktionsbeeinträchtigung den Vorgaben der AHP 1996 (Nr. 26.5, S. 74). Die Vergabe eines Einzel-GdB von 30 für diese Funktionsbeeinträchtigung stimmt mit dem Vorschlag der Sachverständigen Dr. L. überein, wonach die Diagnosen Tinnitus und depressiv-ängstliche Persönlichkeitsstörung mit einer »Teil-MdE von 30« zu bewerten seien. Den bei dem Kläger zeitweise aufgetretenen Drehschwindel hat die Sachverständige bei dieser Bewertung bereits berücksichtigt, da sie diesen als phobischen Schwankschwindel und damit als Symptom der depressiv-ängstlichen Persönlichkeitsstörung aufgefasst hat. Soweit der Kläger im Hinblick auf den Drehschwindel offenbar eine höhere Bewertung begehrt, lässt sich eine solche nach den vorliegenden Befunden nicht rechtfertigen. Gegenüber dem Sachverständigen Dr. K. hat der Kläger angegeben, der Schwindel habe an Intensität in den letzten Monaten und Jahren abgenommen. Dementsprechend hat dieser Sachverständige eine vestibuläre Übererregbarkeit des Klägers nicht feststellen können. Vielmehr hat er ausgeführt, im Bereich der peripheren Gleichgewichtsorgane und der zentralen Gleichgewichtsverarbeitung hätten therapiepflichtige Störungsbilder nicht nachgewiesen werden können, die in der Vergangenheit angegebenen Gleichgewichtsstörungen seien aktuell nicht mehr relevant. Gegenüber der Sachverständigen Dr. L. hat der Kläger angegeben, der Tinnitus verursache die gravierendsten Beschwerden.

21

Liegen wie im vorliegenden Fall mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, ist eine Gesamtbewertung vorzunehmen. Dabei dürfen die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Auszugehen ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. zum Ganzen: AHP 1996 Nr. 19, S. 33 ff).

22

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die vom SG vorgenommene Gesamt-GdB-Bildung, die sich auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 8. August 2001 und die Ausführungen des Sachverständigen Dr. J. in der mündlichen Verhandlung stützt, nicht zu beanstanden. Die mit dem höchsten Einzel-GdB versehene Funktionsbeeinträchtigung ist vorliegend der Tinnitus mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und ausgeprägter depressiver Entwicklung. Davon ausgehend ist zu prüfen, ob dieser erste Einzel-GdB von 30 wegen der weiteren - auf orthopädischem Fachgebiet bestehenden - Funktionsbeeinträchtigungen zu erhöhen ist. Dabei entspricht die Vorgehensweise der Sachverständigen Dr. K. und Dr. L. nicht den Vorgaben der AHP 1996. Diese haben in einem Zwischenschritt einen Einzel-GdB von 20 bis 30 (Dr. K.) bzw. 20 (Dr. L.) für alle auf orthopädischem Gebiet bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen gebildet und sodann diesen Wert im Wege der Addition dem ersten GdB-Grad hinzugerechnet. Auszugehen ist indes von den einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates. Dabei rechtfertigt die nur mit einem Einzel-GdB um 10 bewertete Minderbelastbarkeit des linken Kniegelenks wegen ihrer Geringfügigkeit von vornherein keine Erhöhung, da keine Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall einer besonders nachhaltigen Auswirkung auf eine andere Funktionsbeeinträchtigung (vgl. BSG SozR 3-3800 § 4 Nr. 28) ersichtlich sind. Verstärkend wirken sich dagegen die jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule und der linken Schulter aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Minderbelastbarkeit der linken Schulter nach dem Beweisergebnis (Sachverständigengutachten des Dr. J.) großzügig bewertet ist. Ferner hat Dr. J. auf die Überlagerungseffekte der verschiedenen Funktionsstörungen hingewiesen. Entgegen dem Berufungsvorbringen hat auch Dr. K. die HWS-Symptomatik als Teilursache des Tinnitus angesehen, wenngleich er eine - nach den AHP nicht zulässige - Addition der Einzel-GdB befürwortet hat. Vor diesem Hintergrund entspricht der von Seiten des Versorgungsärztlichen Dienstes und des Dr. J. übereinstimmend vorgeschlagene GdB von 40 dem Gesamtzustand der Behinderung. Ein Gesamt-GdB von 50 (Schwerbehinderung) ist keinesfalls gerechtfertigt. Ein solcher GdB kann nach den AHP 1996 (Nr. 19, S. 34) beispielsweise nur angenommen werden, wenn die Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich ist wie etwa bei Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel, bei einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, bei Herz-Kreislaufschäden oder Einschränkungen der Lungenfunktion mit nachgewiesener Leistungsbeeinträchtigung bereits bei leichter Belastung. Ein solcher Gesamtzustand der Behinderung liegt bei dem Kläger nach Auffassung des Senats nicht vor.

23

Aus dem vom Kläger in Bezug genommenen Urteil des BSG vom 13. Dezember 2000 (Az. - B 9 V 8/00 R -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 28) ergibt sich keine andere Beurteilung. Dieses befasst sich mit dem Erhöhungsverbot der Nr. 19 Abs. 4 AHP 1996 bei nur mit einem Einzel-GdB um 10 bewerteten Funktionsstörungen, was vorliegend - wie dargelegt - die Berücksichtigung der Minderbelastbarkeit des linken Kniegelenks zur Erhöhung des GdB ausschließt. Im Übrigen geht es hier um die Frage, in welchem Umfang mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete Funktionsstörungen auf orthopädischem Gebiet sich erhöhend auswirken. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass hier eine stärkere Erhöhung des durch das psychische Leiden und den Tinnitus gerechtfertigten Einzel-GdB wegen besonders nachhaltiger Auswirkungen der im orthopädischen Bereich bestehenden Leiden anzunehmen wäre.

24

Der Senat hat sich nicht veranlasst gesehen, der Anregung des Klägers folgend ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. Der Sachverhalt ist bereits in erster Instanz u.a. durch drei Gutachten verschiedener Fachgebiete umfassend aufgeklärt worden. Im Berufungsverfahren hat der Kläger weder neue medizinische Gesichtspunkte vorgetragen noch eine Leidensverschlimmerung geltend gemacht. Die im Vordergrund stehende Frage der Gesamt-GdB-Bildung nach den Grundsätzen der AHP 1996 lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden Sachverständigengutachten beantworten.

25

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

26

Für die Zulassung der Revision liegt kein gesetzlicher Grund i. S. des § 160 Abs. 2 SGG vor.