Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 05.06.2003, Az.: L 6 U 256/01

Anspruch auf Verletztenrente wegen einer Lärmschwerhörigkeit; Beschäftigung als Hüttenfacharbeiter bei ständigen Lärmeinwirkung zwischen 91 und 94 dB (A); Ertaubung des linken Ohrs, geringgradige Schwerhörigkeit auf dem rechten Ohr (Asymmetrie der beiderseitigen Hörschäden); Kausalzusammenhang zwischen dem Hörverlust und der Lärmeinwirkung; Berücksichtigung eines Vorschadens bei der Berechnung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
05.06.2003
Aktenzeichen
L 6 U 256/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20996
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0605.L6U256.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 07.06.2001 - AZ: S 8 U 99/98

Redaktioneller Leitsatz

Grundsätzlich wird ein (beruflich unabhängiger) Vorschaden nicht mitentschädigt. Werden die Folgen des Versicherungsfalls durch den Vorschaden jedoch beeinflusst, wie es bei allen paarigen Gliedmaßen und Organen (z.B. Augen, Ohren, Hände, Nieren) und bei Organsystemen, die zueinander in funktioneller Abhängigkeit stehen oder zu kompensieren vermögen, der Fall ist, wird idR eine höhere MdE die Folge sein. Denn auf Grund des bestehenden Vorschadens wirkt sich ein Versicherungsfall ungünstiger aus als bei einem Versicherten, der nicht an einem Vorschaden leidet. Je stärker der Vorschaden und die Schädigung durch den Versicherungsfall sich gegenseitig beeinträchtigen, umso mehr ist der Vorschaden in die Bewertung der MdE einzubeziehen. Es ist zu prüfen, wie sich ein Vorschaden und die Folgen eines Versicherungsfalls zueinander verhalten. Verschlechtert sich die schon vor einem Versicherungsfall auf Grund eines Vorschadens geminderte Erwerbsfähigkeit durch einen Versicherungsfall gravierend, wie es z.B. bei dem Verlust der Sehfähigkeit eines Auges oder der Hörfähigkeit eines Ohres infolge eines Versicherungsfalls bei Versicherten ist, die schon vor Eintritt des Versicherungsfalls an einer einseitigen Blindheit (MdE 25 vH) oder Taubheit (MdE 20 vH) litten, so wird regelmäßig die nach Eintritt des Versicherungsfall bestehende MdE (im Beispielsfall 100 bzw. 80 vH) insgesamt zu entschädigen sein. Anders verhält es sich jedoch bei nur geringen Folgen eines Versicherungsfalls, die eine schon auf Grund eines erheblichen Vorschadens bestehende MdE (hier um 20 vH) nicht deutlich (hier um 10 auf 30 vH) erhöhen. Dann ist es nicht angemessen, die nach einem Versicherungsfall bestehende MdE insgesamt zu entschädigen.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 7. Juni 2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Änderung des Bescheides der Beklagten vom 29. März 1989, mit dem diese einen Anspruch auf Verletztenrente wegen einer Lärmschwerhörigkeit auf dem rechten Ohr mit der Begründung abgelehnt hat, die dadurch verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage lediglich 15 vom Hundert (vH). Die daneben bestehende praktische Taubheit des linken Ohres habe körpereigene Ursachen.

2

Der 1937 geborene Kläger war als Hüttenfacharbeiter von 1952 bis 1988 einer Lärmeinwirkung zwischen 91 und 94 dB (A) ausgesetzt (Lärmanalysen der B., vom 9. Juni 1988 und der Beklagten vom 7. Juli 1988). Anfang der 70er-Jahre bemerkte der Kläger die Entwicklung einer Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr, die sich spätestens bis 1978 zu einer hochgradigen, an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit herausbildete. Später kam eine Schwerhörigkeit auch des rechten Ohres hinzu. Im hals-nasen-ohrenärztlichen Gutachten vom 3. November 1988 führte Dr C. aus, dass durch mehrere voneinander unabhängige Untersuchungsmethoden die berufliche Verursachung der rechtsseitigen Schwerhörigkeit, die knapp geringgradig war, wahrscheinlich sei. Anders verhalte es sich mit der Schwerhörigkeit des linken Ohres, die nun aus klinischer Sicht einer Taubheit entspreche. Die Entwicklung einer Lärmschwerhörigkeit zu einer kompletten Ertaubung sei unmöglich. Auch der starke Unterschied zwischen der Hörfähigkeit des rechten und des linken Ohres sei mit der Annahme einer berufsbedingten Erkrankung unvereinbar. Nur die Schwerhörigkeit des rechten Ohres sei deshalb berufsbedingt. Zu einer messbaren MdE führe diese nicht. Da nach dem "Kö-nigsteiner Merkblatt" die Taubheit des linken Ohres jedoch als Vorschaden zu werten und bei der zuzubilligenden MdE zu berücksichtigen sei, sei diese auf 10 v.H. zu schätzen. Dieser Auffassung schlossen sich die Gewerbeärzte Dres D. im Wesentlichen an (MdE 15 v.H. - Stellungnahme vom 17. Februar 1989). Dem folgte die Beklagte im Bescheid vom 29. März 1989 und wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 25. September 1989). Klage und Berufung blieben auf Grund des Ergebnisses umfangreicher medizinischer Ermittlungen (hals-nasen-ohrenärztliche Gutachten des Prof Dr E. vom 4. Oktober 1990 und 18. April 1995, ergänzende Stellungnahmen dieses Sachverständigen vom 19. März 1991 und 25. September 1995; hals-nasen-ohrenärztliche Gutachten der Oberärztin Dr F. vom 12. Dezember 1993 und des Prof Dr G. vom 7. Oktober 1994) ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - Osnabrück vom 13. November 1991 und des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 1. Februar 1996).

3

Im Oktober 1996 beantragte der Kläger eine Aufnahme des Verfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch - SGB - X. Nach wie vor sei er der Auffassung, dass der Lärmschaden insgesamt beruflich verursacht sei. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20. Januar 1998 ab, weil die Voraussetzungen des § 44 SGB X nicht vorliegen würden. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 13. März 1998).

4

Das SG Osnabrück hat die noch im selben Monat erhobene Klage durch Urteil vom 7. Juni 2001 abgewiesen.

5

Dagegen wendet sich der Kläger mit der am 29. Juni 2001 eingelegten Berufung. Er hält an seiner Auffassung fest, dass auch die Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr berufsbedingt sei. Diese sei nicht lediglich als Vorschaden zu bewerten. Des Weiteren stehe der Anerkennung als BK nicht entgegen, dass der Hörschaden links atypisch sei. Denn auch atypische Unfallschäden oder Berufskrankheiten seien zu entschädigen. Die Lärmempfindlichkeit der Ohren sei nicht seitengleich. Es sei nicht berücksichtigt worden, dass der Berufslärm primär das linke Ohr getroffen und dieses stärker als das rechte Ohr für einen Hörschaden anfällig gewesen sei. Das erkläre die erhebliche Asymmetrie der beiderseitigen Hörschäden.

6

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des SG Osnabrück vom 7. Juni 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 1998 aufzuheben,

  2. 2.

    den Bescheid der Beklagten vom 29. März 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 1989 zu ändern und auch die Taubheit auf dem linken Ohr als BK Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung festzustellen,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

7

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 7. Juni 2001 zurückzuweisen.

8

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

9

Auf Antrag des Klägers ist Frau Dr H. gutachtlich gehört worden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das hals-nasen-ohrenärztliche Gutachten vom 12. Februar 2003 verwiesen.

10

Dem Senat haben neben den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

11

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das SG hat die - hinsichtlich des Feststellungsantrags gemäß § 55 Abs. 1 Ziff.3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Die Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Änderung des bestandskräftigen Verwaltungsaktes (§ 77 SGG) vom 29. März 1989.

12

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Zutreffend haben SG und Beklagte entschieden, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

13

Ausgangspunkt ist das rechtskräftige Urteil des erkennenden Senats vom 1. Februar 1996, das der Senat auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers in diesem Rechtsstreit für richtig hält. Entgegen der Meinung des Klägers können die Grundsätze über den Anscheinsbeweis bei der Lärmschwerhörigkeit nicht angewendet werden. Vielmehr muss ein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen dem Hörverlust und der Lärmeinwirkung medizinisch begründet werden können. Das gelingt hier jedoch nicht: Maßgeblicher Gesichtspunkt für die Wer-jung der Beklagten im Verwaltungsakt vom 29. März 1989, dass die praktische Taubheit des linken Ohres nicht wahrscheinlich durch die berufliche Lärmeinwirkung des Klägers wesentlich (mit)verursacht ist, ist der - von Dr C. mitgeteilte - medizinisch-wissenschaftliche Kenntnisstand gewesen, dass die berufliche Lärmeinwirkung nicht zu dem erheblichen Hörverlust, der auf dem linken Ohr des Klägers besteht, geführt haben kann und dass auch der starke Unterschied zwischen dem Hörverlust des rechten und des linken Ohrs mit einer beruflichen Verursachung des Hörverlusts auch auf dem linken Ohr "unvereinbar" ist (Seite 8 des hals-nasen-ohrenärztlichen Gutachtens vom 3. November 1988). Insbesondere der vom erkennenden Senat beauftragte Sachverständige Prof Dr G. hat diese Wertung bestätigt und dabei auch die Angaben des Klägers über eine seitendifferente Intensität der Lärmeinwirkung und eine höhere Verletzbarkeit (Vulnerabili-tät) des linken Ohres berücksichtigt. Des Weiteren hat dieser Sachverständige anhand der tonaudiometrischen Befunde auf eine Mittelohrschwerhörigkeit (Tym-panosklerose) geschlossen, die ohne äußere Einwirkung lärmunabhängig entsteht und sich im späten Stadium auch auf die Innenohrleistung, die potenziell durch Lärm gemindert werden kann, auswirken kann (Seite 25 des hals-nasen-ohrenärztlichen Gutachtens vom 7. Oktober 1994). Deshalb gibt es - entgegen dem Vortrag des Klägers - deutliche Hinweise auf eine lärmunabhängige Ursache der Taubheit.

14

Dass diese Argumente nicht zutreffen, ist nicht ersichtlich: Zum einen führt der Hinweis des Klägers auf eine Arbeit von Stepps nicht weiter. Denn den - vom Kläger referierten - Ausführungen ist nur zu entnehmen, dass in einer großen Gruppe von Untersuchten auch "Ertaubungen" vorkamen. Eine Aussage zu ihrer Ursache enthalten sie jedoch nicht, und die Angabe über geringe Seitendifferenzen zwischen 17,5 und 25 dB unterstützt eher die Wertung, dass die erhebliche Seitendifferenz der Hörverluste rechts und links beim Kläger der Annahme einer wahrscheinlich wesentlich beruflich verursachten Schwerhörigkeit auch des linken Ohres entgegensteht. Zum anderen sind die von der im Berufungsverfahren - auf Antrag des Klägers - gehörten Sachverständigen genannten Argumente nicht neu. Mit ihnen hat sich der erkennende Senat - wie ausgeführt - bereits im rechtskräftig beendeten Rechtsstreit eingehend befasst.

15

Die Sachverständige geht von einer durch den Berufslärm wahrscheinlich verursachten Schwerhörigkeit auch des linken Ohres aus, weil sie eine andere Ursache nicht zu erkennen vermag. Dabei unterstellt sie eine besondere Lärmempfindlichkeit des linken Ohres. Begründet hat sie ihre Beurteilung jedoch nicht. Demgegenüber hat Prof Dr G. im Gutachten vom 7. Oktober 1994 (Seite 31) darauf hingewiesen, es sei wissenschaftlich weder bewiesen noch plausibel, dass die Lärmeinwirkung, der der Kläger ausgesetzt war, auf Grund einer besonderen Lärmempfindlichkeit des Innenohres zu einer praktischen Ertaubung habe führen können (vgl auch Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, M 2301 Anm 3). Des Weiteren haben die im abgeschlossenen Rechtsstreit gehörten Ärzte die Forderung einer Symmetrie der Hörbefunde für die Feststellung einer Lärmschwerhörigkeit nicht zum "Dogma" erhoben, wie dies jedoch die Ausführungen der Sachverständigen nahe legen. Vielmehr hat Prof Dr G. (a.a.O., Seite 26) hervorgehoben, dass etwas größere Hörverluste auf einer Seite der Feststellung einer BK nicht entgegenstehen. Demgegenüber hat sich die Sachverständige nicht damit auseinander gesetzt, dass die fast vier Jahrzehnte andauernde Lärmbelastung auf dem rechten Ohr des Klägers lediglich zu einer knapp geringgradigen Schwerhörigkeit führte, während sich auf dem rechten Ohr innerhalb weniger Jahre eine mehr als hochgradig ausgeprägte Schwerhörigkeit, eine praktische Taubheit herausbildete. Eine derartige Seitendifferenz durch unterschiedliche Lärmeinwirkungen am Arbeitsplatz ist, wie Prof Dr G. (a.a.O.) ausgeführt hat, "absolut undenkbar" (vgl auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, 7.3.3.2.6; Mehrtens/Perlebach, a.a.O.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. Februar 1997 - L 17 U 95/96: asymmetrisches Auftreten einer Hörstörung widerspricht Annahme einer Lärmschädigung, sofern die Differenz mehr als einen Schwerhörigkeitsgrad beträgt). Deshalb handelt es sich entgegen der Auffassung des Klägers nicht lediglich um den "atypischen" Verlauf einer Lärmschwerhörigkeit. Vielmehr kann nach medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis der erhebliche Hörverlust auf dem linken Ohr nicht mit der beruflichen Lärmbelastung erklärt werden.

16

Schließlich haben die Beklagte und die im abgeschlossenen Rechtsstreit gehörten Ärzte bei der Beurteilung der durch die Lärmschwerhörigkeit rechts bedingten MdE den Hörschaden links zutreffend als Vorschaden berücksichtigt. Diese Bewertung ist für den Kläger günstig und führt zu einer angemessenen Anhebung der MdE auf 15 vH, die der erkennende Senat bereits im Urteil vom 1. Februar 1996 (L 6 U 299/91 - Seiten 9 ff) erläutert hat. Als Vorschäden gelten nicht allein die Hörstörungen, die schon vor Beginn der versicherten Lärmeinwirkung vorgelegen haben. Vielmehr sind auch diejenigen zu berücksichtigen, die sich während der versicherten Lärmeinwirkung, aber unabhängig von dieser und spätestens bis zum Eintritt des Leistungsfalls entwickelt haben ("Königsteiner Merkblatt", 4. Aufl. 1996, 4.3.4).

17

Die wahrscheinlich durch Berufslärm verursachte knapp geringgradige Schwerhörigkeit auf dem rechten Ohr bedingt für sich allein keine messbare MdE. Da aber vor Herausbildung der knapp geringgradigen Schwerhörigkeit des rechten Ohres der erhebliche Hörverlust auf dem linken Ohr eintrat, muss dieser bei der Bemessung der MdE angemessen berücksichtigt werden. Denn auf Grund dieses erheblichen Hörverlustes wirkt sich die knapp geringgradige Schwerhörigkeit auf dem rechten Ohr des Klägers ungünstiger als ohne das Bestehen der erheblichen Hörschädigung links aus. Die Beurteilungen des im abgeschlossenen Rechtsstreit gehörten Sachverständigen Prof Dr G. und der im Verwaltungsverfahren hinzugezogenen Gewerbeärzte beruht auf der Tabelle 5 im o.g. "Königsteiner Merkblatt", die bei der Bewertung der MdE bei einem Vorschaden zu Grunde zu legen ist. Dagegen vereinzelt vorgetragene Bedenken (Urteil des SG Gelsenkirchen vom 6. Dezember 1999 - S 10 U 45/99) überzeugen nicht.

18

Bei der Bewertung der MdE sind die allgemeinen Bewertungsgrundsätze, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie unfallmedizinische Schrifttum entwickelt haben und die im Einzelfall zwar nicht bindend, aber geeignet sind, als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in den zahlreichen Parallelfällen der Praxis zu dienen, zu beachten (BSG SozR 2200 § 581 Nr. 27, Seite 91). Die Bewertung von Hörverlusten erfolgt nach dem o.g. "Kö-nigsteiner Merkblatt" (BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8, Seite 41; BSG, Urteil vom 15. Dezember 1982 - 2 RU 55/81), das in Tabelle 5 (Brusis/Mehrtens) die Berechnung der MdE bei einem Vorschaden des nicht von Berufslärm betroffenen Ohres regelt. Diese Tabelle führt bei der Bewertung der knapp geringgradigen Lärmschwerhörigkeit des rechten Ohres des Klägers unter Berücksichtigung des Vorschadens einer praktischen Taubheit des linken Ohres zu einer Anhebung der MdE von 0 auf 15 vH. Entgegen der Auffassung des SG Gelsenkirchen (a.a.O.) ist es überzeugend, dass nicht die durch den Hörverlust auf beiden Ohren bedingte MdE um 30 v.H. insgesamt bei der Bewertung der auf Grund der knapp geringgradigen Lärmschwerhörigkeit verursachten zusätzlichen Beeinträchtigung zu Grunde gelegt wird.

19

Grundsätzlich wird ein (beruflich unabhängiger) Vorschaden nicht mitentschädigt. Werden die Folgen des Versicherungsfalls durch den Vorschaden jedoch beeinflusst, wie es bei allen paarigen Gliedmaßen und Organen (z.B. Augen, Ohren, Hände, Nieren) und bei Organsystemen, die zueinander in funktioneller Abhängigkeit stehen oder zu kompensieren vermögen, der Fall ist, wird idR eine höhere MdE die Folge sein. Denn auf Grund des bestehenden Vorschadens wirkt sich - wie oben ausgeführt - ein Versicherungsfall ungünstiger aus als bei einem Versicherten, der nicht an einem Vorschaden leidet. Je stärker der Vorschaden und die Schädigung durch den Versicherungsfall sich gegenseitig beeinträchtigen, umso mehr ist der Vorschaden in die Bewertung der MdE einzubeziehen. Denn ein Versicherter ist mit seiner individuellen (Rest)Erwerbsfähigkeit geschützt (vgl Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, § 56 SGB VII Anm 10.5 f m.w.N.). Daraus folgt zugleich, dass sich eine schematische Betrachtung verbietet (vgl BSGE 21, 63, 65 f), wie sie das SG Gelsenkirchen mit der Addition von vorschadens- und unfallbedingter MdE vornimmt und die dazu führt, dass in jedem Fall die nach einem Versicherungsfall unter Berücksichtigung eines Vorschadens bestehende MdE insgesamt entschädigt wird. Vielmehr ist zu prüfen, wie sich ein Vorschaden und die Folgen eines Versicherungsfalls zueinander verhalten. Verschlechtert sich die schon vor einem Versicherungsfall auf Grund eines Vorschadens geminderte Erwerbsfähigkeit durch einen Versicherungsfall gravierend, wie es z.B. bei dem Verlust der Sehfähigkeit eines Auges oder der Hörfähigkeit eines Ohres infolge eines Versicherungsfalls bei Versicherten ist, die schon vor Eintritt des Versicherungsfalls an einer einseitigen Blindheit (MdE 25 vH) oder Taubheit (MdE 20 vH) litten, so wird regelmäßig die nach Eintritt des Versicherungsfall bestehende MdE (im Beispielsfall 100 bzw. 80 vH) insgesamt zu entschädigen sein. Anders verhält es sich jedoch bei nur geringen Folgen eines Versicherungsfalls, die eine schon auf Grund eines erheblichen Vorschadens bestehende MdE (hier um 20 vH) nicht deutlich (hier um 10 auf 30 vH) erhöhen. Dann ist es nicht angemessen, die nach einem Versicherungsfall bestehende MdE insgesamt zu entschädigen. Brusis weist in seinen Erläuterungen zum "Kö-nigsteiner Merkblatt" zu Recht darauf hin, dass ansonsten ein Ungleichgewicht zu Ungunsten des nicht versicherten Anteils der Gesamtschwerhörigkeit geschaffen würde, der nicht lärmbedingt ist (SGb 1999, 339, 343; vgl. Feldmann, Das Gut-Gutachten des Hals-Nasen-Ohrenarztes, 4. Aufl. 1997, 102 f). Denn geringe Folgen eines Versicherungsfalles verschlechtern die schon auf Grund eines Vorschadens geminderte Erwerbsfähigkeit nicht in einem Umfang, der es rechtfertigt, bei der Berechnung der MdE den gesamten, überwiegend beruflich unabhängigen Gesundheitsschaden zu berücksichtigen. Insoweit unterscheidet sich - entgegen der Ansicht des SG Gelsenkirchen - der teilweise Funktionsverlust infolge eines Versicherungsfalls eines paarigen Organs bei vorbestehendem Verlust des anderen Organs von einem erheblichen bzw. vollständigen Funktionsverlust infolge eines Versicherungsfalls entscheidend. Dieser erforderlichen differenzierten Betrachtungsweise trägt die Tabelle 5 des o.g. "Königsteiner Merkblatts" Rechnung.

20

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

21

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.