Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.06.2003, Az.: L 1 RA 221/99
Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; Vollschichtiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; Soziale Zumutbarkeit einer Verweisung einer Verkäuferin auf eine Tätigkeit an Sammelkassen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 25.06.2003
- Aktenzeichen
- L 1 RA 221/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20009
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0625.L1RA221.99.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - AZ: S 4 RA 82/97
Rechtsgrundlagen
- § 43 SGB VI
- § 44 SGB VI
- § 240 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Einer gelernten Verkäuferin steht Berufsschutz zu, allerdings muss sie sich auf die ihr sozial zumutbare Tätigkeit einer Kassiererin an Sammelkassen verweisen lassen.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat.
Die 1953 geborene Klägerin hat den Beruf der Verkäuferin in der Zeit von Februar 1969 bis März 1971 erlernt. Sie war anschließend in diesem Beruf tätig. Zuletzt war sie seit dem 8. September 1992 in einem Verbrauchermarkt als Substitutin in der Sparte "Waschmittel/Kosmetik" eingesetzt und wurde nach der Gehaltsgruppe 4A entlohnt. Diese Tätigkeit übte sie aus, bis sie am 29. 0ktober 1993 arbeitsunfähig erkrankte. Die Klägerin ist seitdem nicht mehr berufstätig gewesen. Sie erhielt Leistungen der Krankenkasse und des Arbeitsamtes. Zurzeit bezieht sie Arbeitslosenhilfe.
Im April 1995 stellte die Klägerin einen Rentenantrag und machte zur Begründung geltend, dass sich ein bei ihr bestehender Wirbelsäulenschaden verschlimmert habe. Die Beklagte zog einen Entlassungsbericht der Kurklinik H. vom 22. Juni 1995, dem Entlassungsdatum, bei. Darin stellten die behandelnden Ärzte die Diagnose eines Lumbalsyndroms, einer Hypercholesterinämie und einer Hepatopathie. Die Klägerin wurde als arbeitsunfähig entlassen. Unabhängig davon hielten sie die Klägerin aber für fähig, als kaufmännische Angestellte vollschichtig tätig zu sein, rieten aber zu einer innerbetrieblichen Umsetzung bzw. Umschulung angezeigt. Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 24. August 1995 den Anspruch ab. Auf den Widerspruch der Klägerin hin zog die Beklagte ein Gutachten des MDK I. vom 6. Februar 1995 sowie einen Befundbericht des behandelnden Arztes Dr. J. bei und nahm ein arbeitsamtsärztliches Gutachten vom 1. August 1995 zu den Akten. Dann veranlasste sie ein Gutachten des 0rthopäden Dr. K ... Nachdem dieser Sachverständige in seinem Gutachten vom 7. 0ktober 1996 zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Klägerin in ihrer letzten beruflichen Tätigkeit als Verkäuferin nur noch halb- bis untervollschichtig tätig sein könne, sie aber vollschichtig arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leisten könne, zog die Beklagte eine Arbeitsplatzbeschreibung des letzten Arbeitgebers der Klägerin vom 18. Dezember 1996 bei und veranlasste anschließend eine Stellungnahme ihres berufskundlichen Dienstes vom 23. Januar 1997. Nachdem darin die Auffassung vertreten worden war, dass die Klägerin der mittleren Gruppe der Angestelltenberufe zuzuordnen sei und daher insbesondere die Tätigkeit an einer Sammelkasse als Verweisungsberuf möglich sei, wies die Beklagte mit Bescheid vom 17. März 1997 den Widerspruch zurück.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Klage erhoben und geltend gemacht, dass die bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen nicht vollständig und in ihrem Ausmaß nicht zutreffend gewürdigt worden seien. Sie könne überhaupt keine berufliche Tätigkeit mehr aufnehmen. Das Sozialgericht (SG) hat daraufhin den Chirurgen und 0rthopäden Dr. L. mit einer Untersuchung und Begutachtung der Klägerin beauftragt. Nachdem der Sachverständige in seinem Gutachten vom 30. Juli 1998 festgestellt hatte, dass die Klägerin trotz bestehender Veränderungen im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates noch leichte und auch mittelschwere Tätigkeiten im Wechsel zwischen Stehen, Sitzen und Gehen ohne Zwangshaltungen vollschichtig leisten könne und der gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beauftragte Orthopäde Dr. M. in seinem Gutachten vom 6. Mai 1999 noch eine vollschichtige Arbeitsbelastung mit leichten Arbeiten für möglich gehalten hatte, insbesondere auch als Substitutin oder Verkäuferin, wenn keine schweren Belastungen (z.B. Transportieren und Einrichten von Waren) anfielen, und auch ein arbeitsamtsärztliches Gutachten vom 23. Juni 1999 dieser Beurteilung beipflichtete, hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 23. September 1999 abgewiesen. In den Gründen hat es im Einzelnen ausgeführt, dass bisheriger Beruf der Klägerin zwar derjenige einer qualifizierten Verkäuferin in der Funktion der stellvertretenden Marktleiterin bzw. Substitutin sei. Sie müsse sich jedoch auf die Arbeit einer Kassiererin an einer Sammelkasse verweisen lassen, die sie mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen ausüben könne. Sie sei daher nicht berufsunfähig, Erwerbsunfähigkeit komme erst recht nicht in Betracht.
Gegen das ihr am 5. Oktober 1999 zugestellte Urteil richtet sich die am 25. 0ktober 1999 eingelegte Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Unter Bezugnahme auf den von ihr vorgelegten Entlassungsbericht der Asklepios Klinik Bad Schwartau vom 22. Juni 2000 vertritt sie die Auffassung, dass sie auf Grund der bei ihr bestehenden therapieresistenten Schmerzen und der durch eine somatoforme Schmerzstörung herabgesetzten psychischen Belastbarkeit keine Arbeiten mehr verrichten könne. Zur weiteren Begründung verweist sie ferner auf ein von ihr vorgelegtes sozialmedizinisches Gutachten des MDK Bremen vom 8. November 2000, in dem die Auffassung vertreten werde, dass eine Vermittelbarkeit auch für leichte Tätigkeiten bis auf weiteres nicht vorliege. Es sei daher ein Zeitrentenantrag empfehlenswert.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 23. September 1999 und den Bescheid der Beklagten vom 24. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 1997 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab 23. Juni 1995 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich.
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Bescheide und den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid für zutreffend und vertritt die Meinung, dass die Klägerin auch nach den weiteren Ermittlungen im Berufungsverfahren die Voraussetzungen für eine Rentengewährung nicht erfülle.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. vom 28. September 2001. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das vorgenannte Gutachten Bezug genommen. Er hat weiter in dem Erörterungstermin vom 22. November 2002 den Diplom-Verwaltungswirt O. als berufskundlichen Sachverständigen gehört. Insoweit nimmt der Senat auf die Sitzungsniederschrift Bezug.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird auf die Prozess- und Beiakten verwiesen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand von Beratung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten zuvor hiermit einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die gemäß §§ 143 f SGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht einlegt worden und somit zulässig.
Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Das Urteil und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, und zwar weder auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU)/Berufsunfähigkeit (BU) nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Recht (§§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch -SGB VI- a.F.) noch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem seit dem 1. Januar 2001 geltenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI n.F.). Das SG hat in seinem Urteil die hier maßgebenden Rechtsgrundlagen des alten Rechts geprüft und rechtsfehlerfrei angewendet und auch den medizinischen Sachverhalt aufgeklärt und nachvollziehbar gewürdigt. Nach allem ist es zu der richtigen Entscheidung gekommen, dass der Klägerin eine Versichertenrente nicht zugesprochen werden kann. Es wird deshalb zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheides vom 23. September 1999 Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG). Das Ergebnis ist auch unter Geltung des neuen Rechts zutreffend, das noch strengere Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Rente stellt.
Im Berufungsverfahren sind neue Gesichtspunkte nicht zu Tage getreten. Vielmehr sind die Feststellungen der im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Gutachter im Wesentlichen bestätigt worden. Wie schon der vom SG beauftragte Chirurg und Orthopäde Dr. L. und auch der gemäß § 109 SGG gehörte Gutachter Dr. M. festgestellt haben, wird das Leistungsvermögen der Klägerin vor allem durch ein chronisches Schmerzsyndrom der Wirbelsäule bei mäßigen degenerativen Veränderungen sowie durch eine beginnende Hüftgelenksarthrose beiderseits beeinträchtigt. Hinzu kommen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet die von der Sachverständigen Dr. N. diagnostizierten Gesundheitsstörungen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und einer rezidivierenden depressiven Störung. Weniger ins Gewicht fallen die außerdem diagnostizierte Opiatgewöhnung sowie eine Riechstörung. Diese Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet sind jedoch nicht so ausgeprägt, dass sie die von orthopädischer Seite festgestellte Leistungsfähigkeit zusätzlich einschränken. Es ist für den Senat daher überzeugend, wenn die Sachverständige das Leistungsvermögen der Klägerin dahin beurteilt, dass leichte körperliche Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten unter Schutz vor Nässe und Kälte möglich sind. Zu vermeiden sind lediglich Zwangshaltungen, Schicht,- Akkord- oder Fließbandarbeiten.
Der Senat sah sich auch nicht gedrängt, ein weiteres orthopädisches Gutachten einzuholen. Soweit die Sachverständige Dr. N. diese Anregung gibt, geht sie von der unzutreffenden Annahme aus, das zeitliche Leistungsvermögen der Klägerin sei von den gehörten Gutachtern unterschiedlich bewertet worden. Dies trifft jedoch nicht zu. Alle Sachverständigen, die im Rahmen des Verwaltungsverfahrens und des Sozialgerichtsverfahrens gehört worden sind, gehen übereinstimmend von einem vollschichtigen Leistungsvermögen der Klägerin mit den oben genannten qualitativen Einschränkungen aus. Lediglich bei der Beurteilung der Frage, wie lange die Klägerin noch im erlernten Beruf tätig sein kann, sind die Beurteilungen unterschiedlich. Auf diese Frage kommt es jedoch nicht an. Auch von der Klägerin selbst ist eine Verschlechterung der bestehenden orthopädischen Veränderungen nicht behauptet worden, sodass Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer weiteren medizinischen Sachaufklärung in diesem Fachbereich nicht erkennbar sind.
Mit dem bei der Klägerin im Verlaufe dieses Verfahrens festgestellten Leistungsvermögen ist sie nicht berufsunfähig. Der Senat folgt auch insoweit dem SG und führt ergänzend unter Hinweis auf seine ständige, vom BSG (BSGE 78, 207 ff) gebilligte Rechtsprechung aus, dass die Klägerin, die als gelernte Verkäuferin Berufsschutz hat, sich auf die ihr sozial zumutbare Tätigkeit einer Kassiererin an Sammelkassen verweisen lassen muss. Der Senat folgt insoweit den anders lautenden Ausführungen des berufskundigen Sachverständigen O. in dem Erörterungstermin vom 22. November 2002 nicht, weil er unzutreffend davon ausgeht, dass die Klägerin Lasten von mehr als 5 kg nicht mehr heben kann und daraus folgert, dass die Tätigkeit an einer Sammelkasse für die Klägerin ausgeschlossen sei. Tatsächlich hat keiner der gehörten orthopädischen Gutachter eine solche qualitative Einschränkung des Leistungsvermögens ausdrücklich festgestellt. Lediglich die Sachverständige Dr. N. hat - ohne nähere Begründung und nur unter Hinweis auf die für sie fachfremden orthopädischen Leiden - die Auffassung vertreten, dass die Klägerin das Heben und Tragen von Lasten über 5 kg nicht zugemutet werden sollte. Diese Beurteilung überzeugt nicht. Selbst wenn man jedoch davon ausgeht, dass diese Einschränkung besteht, ist die Schlussfolgerung des Sachverständigen Kurtz für den Senat nicht schlüssig. Denn da eine solche Belastung nicht ständig, sondern allenfalls gelegentlich anfällt, scheint es insoweit zumutbar, sich bei Bedarf der Hilfe einer Kollegin oder eines Kollegen zu bedienen. Nach allem muss sich die Klägerin auf den Arbeitsplatz einer Sammelkassiererin verweisen lassen. Berufsunfähigkeit liegt daher nicht vor.
Das SG hat somit zutreffend festgestellt, dass die Klägerin nicht erwerbs- oder berufsunfähig nach altem Recht ist. Aber auch nach der für die Zeit ab 1. Januar 2001 anzuwendenden Neufassung des SGB VI hat die Klägerin keinen Anspruch auf Versichertenrente. Denn von der gesetzlichen Neuregelung werden noch weiter gehende, insbesondere zeitliche Leistungseinschränkungen des Leistungsvermögens gefordert (§ 43, 240 SGB VI n.F.), die - wie oben dargelegt - sich bei der Klägerin nicht haben feststellen lassen. Die Berufung konnte nach allem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen.