Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 26.06.2003, Az.: L 8 B 28/03 AL

Gesetz; Kostenrisiko; Kostentragung; Kostentragungspflicht; Norm; Prozessrisiko; sozialgerichtliches Verfahren; Verfassungswidrigkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.06.2003
Aktenzeichen
L 8 B 28/03 AL
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48416
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 18.02.2003 - AZ: S 8 AL 415/00

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Stellt sich im nachhinein die Verfassungswidrigkeit einer Norm heraus, auf die sich eine Behörde bei ihrer Entscheidung gestützt hatte, trägt sie im Regelfall das Kostenrisiko eines Gerichtsverfahrens. Das gilt auch dann, wenn sie unverzüglich nach Bekanntwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (hier zu den Einmalzahlungen) eine Abhilfeentscheidung getroffen und die Nachzahlung veranlasst hat.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Kostenbeschluss des Sozialgerichts Hannover vom 18. Februar 2003 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Gründe

1

Die Beschwerde ist zulässig.

2

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover, durch den das Sozialgericht nach Erledigung einer Klage ausgesprochen hat, dass die Beklagte der Klägerin außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten hat, ist gemäß § 172 Abs 1 Sozialgerichtsgerichtsgesetz (SGG) statthaft und fristgemäß in der Monatsfrist des § 173 Satz 1 SGG am 8. April 2003 gegen den am 14. März 2003 zugestellten Beschluss eingelegt worden.

3

Die Beschwerde ist begründet.

4

Nach § 193 Abs 1 Satz 3 SGG hat das Gericht auf Antrag durch Beschluss zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, wenn das Verfahren anders als durch Urteil ‑ wie hier ‑ beendet wird. In diesem Fall ist unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden; dabei sind die Erfolgsaussichten der Klage zu berücksichtigen, aber auch die Gründe für die Klageerhebung und ihre Erledigung.

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Hiernach entspricht es billigem Ermessen, dass die Beklagte die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt.

6

Die Rechtsbehelfe der Klägerin richteten sich gegen die Höhe des Bemessungsentgeltes von 430,00 DM, wie es im Bescheid vom 16. Februar 2000 ausgeworfen worden war (Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 2000, Klageerhebung am 26. Mai 2000).

7

Im Laufe des Klageverfahrens hat die Beklagte mit Änderungsbescheid vom 5. Oktober 2000 das Bemessungsentgelt auf 470,00 DM erhöht und eine entsprechende Nachzahlung veranlasst. Grundlage dafür war der Beschluss des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom 24. Mai 2000 (BVerfGE 102, 127), mit dem ua die hier einschlägige Vorschrift des § 134 Abs 1 Satz 3 Nr 1 SGB III für verfassungswidrig erklärt wurde. Dies bedeutete, dass Arbeitsentgelte, die einmalig gezahlt wurden, nunmehr bei der Beitragsbemessung berücksichtigt wurden. Nach dieser Entscheidung des BVerfG und aufgrund der Abhilfeentscheidung haben die Prozessbeteiligten den Rechtsstreit für erledigt angesehen und widerstreitende Kostenanträge gestellt.

8

Bei einer derartigen Sachverhaltsgestaltung wie der vorliegenden, in welcher die Behörde aufgrund einer für verfassungswidrig angesehenen Norm eine Abhilfeentscheidung trifft und eine Nachzahlung veranlasst, trägt im Regelfall die Behörde das Kostenrisiko.

9

Hier war entscheidungserheblich die Frage, ob die Klägerin höhere Leistungen beanspruchen konnte, wofür ein höheres Bemessungsentgelt Voraussetzung war. Die Erhöhung des Bemessungsentgeltes scheiterte an der bis zur Entscheidung des BVerfG einschlägigen Norm des § 134 Abs 1 Satz 3 Nr 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), wonach Einmalzahlungen bei der Beitragsbemessung unberücksichtigt blieben. Da diese Norm für verfassungswidrig erklärt wurde, geht das im Hinblick auf die Kosten des Rechtsstreits zu Lasten desjenigen, dessen Rechtsposition auf diese Norm gestützt war. Denn durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung wird die verfassungskonforme Rechtslage offengelegt (vgl Clausing in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, Loseblattsammlung, § 161 Rdnr 23).

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Diese Rechtsansicht, wonach die Verwaltung das Kostenrisiko trägt, wenn eine Vorschrift, auf die sie sich gestützt hat, nach Erlass des Bescheides vom Bundesverfassungsgericht für nichtig oder für verfassungswidrig erklärt worden ist, wird von einem großen Teil der Kommentarliteratur geteilt (vgl Knittel in Hennig, Kommentar zum SGG, Loseblattsammlung, § 193 Rdnr 29; Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Auflage 2002, § 193 Rdnr 12a; Redeker/von Oertzen, Kommentar zur VwGO, 12. Auflage 1997 § 161 Rdnr 6; Kopp/Schenke, Kommentar zur VwGO, 12. Auflage 2000, § 161 Rdnr 18). Das BSG hat in einer frühen Entscheidung (Beschluss vom 13. Februar 1961 ‑ 6 RKa 19/59 ‑ BSGE 14, 25, 27f [BSG 13.02.1961 - 6 RKA 19/59]) Folgendes ausgeführt:

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"Indessen muss bei Beantwortung der Frage, wer das Prozessrisiko tragen soll, wenn sich die Verfassungswidrigkeit einer Norm erst nach Jahren herausstellt, beachtet werden, dass es sich hier um die Folgen einer ‑ objektiv ‑ mangelhaften rechtlichen Ordnung handelt, die in den Verantwortungsbereich des "Staates", hier also des öffentliche Funktionen wahrnehmenden Berufungsausschusses fällt. Es ist nicht Sache der Bürger, das Risiko objektiv gegebener Rechtsunsicherheit gegenüber der Verwaltung zu tragen. Berücksichtigt man die Interessenlage aller an dem Zulassungsstreit Beteiligen, so erscheint es auch vom Standpunkt der Billigkeit aus sachgerecht, die Kostenlast des in Auswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erledigten Rechtsstreits dem beklagten Berufungsausschuss aufzuerlegen, dem die öffentliche Aufgabe der sachgemäßen Anwendung des Zulassungsrechts anvertraut ist und der daher für die ‑ wenn auch ohne sein Verschulden ‑ eingetretene Fehlerhaftigkeit seiner Zulassungsentscheidungen einzustehen hat."

12

Diese Ausführungen belegen überzeugend, dass einem Bürger das Prozessrisiko im Hinblick auf eine von Beginn an verfassungswidrige Norm nicht auferlegt werden darf; dieses Risiko muss hier die Beklagte tragen, die als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung ‑ Art 87 Abs 2 GG - insoweit mit dem Risiko belastet wird, dass sich im nachhinein die Verfassungswidrigkeit einer Norm herausstellt, auf die sie sich bei ihren Entscheidungen gestützt hat und stützen musste. Denn die Behörde steht dem Gesetzgeber, der die verfassungswidrige Norm zu verantworten hat, insoweit näher als der Bürger, der mit den Folgen einer später für verfassungswidrig erklärten Norm überzogen wird. Aus diesen Gesichtspunkten erscheint es auch nicht angebracht, im Rahmen der hier zu treffenden Billigkeitsentscheidung eine Kostenteilung vorzunehmen. Denn gerade diese Billigkeitsgesichtspunkte legen es nahe, den Bürger von einem Prozesskostenrisiko freizustellen, welches sich durch fehlerhafte Entscheidungen auf Seiten der "öffentlichen Hand" eingestellt hat.

13

Die Beklagte muss daher die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen, obwohl jene bis zur Verkündung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an die gesetzliche Regelung in § 134 Abs 1 Satz 3 Nr 1 SGB III gebunden war (so auch BSG, Beschluss vom 5. August 1992 ‑ 10 RKg 16/91 ‑ im Zusammenhang mit der verfassungswidrigen einkommensabhängigen Kürzung des Kindergeldes; SG Düsseldorf NZS 2001, 672 [SG Düsseldorf 12.06.2001 - S 21 AL 112/00]).

14

Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.