Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 24.06.2003, Az.: L 12 RA 1/03
Erstattung nachentrichteter freiwilliger Beiträge für Zeiten schulischer Ausbildung; Beratungsfehler wegen Unwirtschaftlichkeit der Nachzahlung freiwilliger Beiträge; Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 24.06.2003
- Aktenzeichen
- L 12 RA 1/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20000
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0624.L12RA1.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 25.10.2002 - AZ: S 8 RA 131/02
Rechtsgrundlagen
- § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VI
- § 207 Abs. 3 SGB VI
- § 300 Abs. 2 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer ihrer Art nach rechtlich zugelassenen Amtshandlung zur Herbeiführung derjenigen Rechtsfolgen gerichtet, die eingetreten wären, wenn sich der Leistungsträger rechtmäßig verhalten hätte.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 25. Oktober 2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin nachentrichtete freiwillige Beiträge zu erstatten hat.
Die am 21. Oktober 1964 geborene Klägerin stellte durch ihren Prozessbevollmächtigten, einen Rentenberater, im März 1999 einen formularmäßigen Antrag auf Kontenklärung; sie erkundigte sich u.a. über die Nachentrichtung von Beiträgen für nicht als Anrechnungszeiten anerkannte Ausbildungszeiten sowie die günstigsten Beiträge. Die Beklagte übersandte der Klägerin in der Folgezeit Probeberechnungen (ohne Nachzahlung sowie mit einer eventuellen Nachzahlung). Mit Bescheid vom 27. Januar 2000 merkte die Beklagte die Zeit vom 21.10.1981 - 12.05.1984 (Schulausbildung) und die Zeit vom 01.10.1984 - 23.04.1992 (Hochschulausbildung) als Ausbildungszeiten im Sinne eines Anrechnungszeit-Tatbestands vor. Unter dem gleichen Datum beantwortete die Beklagte weiter gehende Fragen der Klägerin.
Auf einen im März 2001 formularmäßig gestellten Antrag der Klägerin auf Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen in Höhe von 150,00 DM monatlich für Ausbildungszeiten übersandte die Beklagte eine weitere Probeberechnung. Mit Bescheid vom 22. Juni 2001 entschied die Beklagte, dass die Klägerin zur Nachzahlung freiwilliger Beiträge für Ausbildungszeiten (10/1980 - 09/1981 und 02/1985 - 04/1992) berechtigt sei. Nach Einzahlung der Beiträge in Höhe von insgesamt 14.850,00 DM erließ die Beklagte den Bescheid vom 19. Juli 2001 über die Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten.
Mit Schreiben vom 25. Februar 2002 beantragte die Klägerin, die nachentrichteten Beiträge zurückzuerstatten. Sie gab an, der Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen für die Ausbildungszeiten, die durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25.09.1996 (BGBl. I S. 1461) nicht mehr angerechnet würden, werde zurückgezogen. Da durch das Altersvermögensergänzungsgesetz (AVmEG) vom 21.03.2001 (BGBl. I S. 403) § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) dahingehend geändert worden sei, dass mit Wirkung vom 1. Januar 2002 schulische Ausbildungen nach dem 17. Lebensjahr nunmehr bis zu acht Jahren als Anrechnungszeit anerkannt würden, stelle eine Nachentrichtung von Beiträgen für diese Zeiten eine unnötige Geldverschwendung dar.
Mit Bescheid vom 7. Mai 2002 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, vor dem Beginn der Rente seien rechtswirksam entrichtete freiwillige Beiträge nach § 207 Abs. 3 SGB VI grundsätzlich nicht zu erstatten. Für Renten, die nach dem 31.12.2001 begännen, würden nachgezahlte freiwillige Beiträge für Ausbildungszeiten als beitragsgeminderte Beitragszeiten neben Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung berücksichtigt. Im Übrigen stehe erst im Leistungsfall bzw. bei Rentenbeginn fest, ob und ggf. welche Zeiten der schulischen Ausbildung tatsächlich als Anrechnungszeit zu berücksichtigen seien.
Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, aus dem Gesetz ergebe sich nicht, dass die Erstattung erst bei Rentenbeginn zu erfolgen habe. Auf Grund eines anderen im Februar 2002 gestellten Antrags auf Erstattung seien die Beiträge innerhalb von vier Wochen zurückgezahlt worden; dies müsse auch in ihrem Falle geschehen.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 7. August 2002 zurück. Zur Begründung führte sie aus, erstattungsfähig seien nur solche Beiträge, die mit einer bewerteten Anrechnungszeit wegen schulischer Ausbildung zusammenträfen. Zwar sei der Begriff der Bewertung weit im Sinne von "Berücksichtigung" auszulegen. Aber auch die Berücksichtigung von Zeiten der schulischen Ausbildung als Anrechnungszeiten stehe erst im Leistungsfall bzw. bei Rentenbeginn fest.
Die Klägerin hat am 26. August 2002 beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage erhoben und ergänzend zu ihrem bisherigen Vorbringen ausgeführt, die Entrichtung von niedrigen freiwilligen Beiträgen ergebe eine niedrigere Rentenhöhe als bei der Zugrundelegung von Anrechnungszeiten. Sollte sie tatsächlich bis zum Rentenbeginn mit der Rückzahlung der nachentrichteten freiwilligen Beiträge warten müssen, wäre in ihrem Falle erst im Jahre 2029 mit einer Rückerstattung zu rechnen.
Die Beklagte hat auf die Ausführungen in ihren Bescheiden verwiesen.
Das SG Bremen hat die Klage mit Urteil vom 25. Oktober 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, mit dem ab 1. Januar 2002 geltenden AVmEG sei nicht nur die Höchstdauer der Ausbildungs-Anrechnungszeiten von drei auf acht Jahre angehoben worden, sondern auch die Erstattungsregelung des § 207 Abs. 3 SGB VI geändert worden. Nach der neuen Regelung komme es auf die Bewertung und nicht nur auf die Berücksichtigung von Zeiten einer schulischen Ausbildung als Anrechnungszeiten an. Nach neuem Recht würden Zeiten schulischer Ausbildung aber nur für höchstens drei Jahre bewertet, auch wenn ein Zeitraum von bis zu acht Jahren als rentenrechtliche Zeit z.B. zur Erfüllung besonderer versicherungsrechtlicher Voraussetzungen berücksichtigt werde. Aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift ergebe sich im Übrigen, dass eine Erstattung von Beiträgen erst im Leistungsfall bzw. bei Rentenbeginn möglich sei. Erst zu diesem Zeitpunkt könne der Rentenversicherungsträger nach der dann geltenden Rechtslage darüber entscheiden, welche Ausbildungszeiten angerechnet und bewertet würden. Vorher könne im Wege der Vormerkung lediglich festgehalten werden, dass bestimmte Zeiten einen Anrechnungstatbestand erfüllten.
Gegen dieses ihr am 16. Dezember 2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 3. Januar 2003 beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen Berufung eingelegt. Sie trägt zur Begründung vor, nach der bis zum 31.12.2001 geltenden Rechtslage seien Beiträge zu erstatten, die für Zeiten einer schulischen Ausbildung nachgezahlt worden und doch als Anrechnungszeiten zu berücksichtigen seien. Diese Rechtslage gelte nach § 300 Abs. 2 SGB VI noch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach dem Außer-Kraft-Treten der Regelung; der Antrag auf Erstattung sei unter dem 25. Februar 2002 und damit innerhalb der Dreimonatsfrist gestellt worden. Die Beklagte habe im Übrigen ihrer Pflicht zur Beratung nicht genügt, da sie nicht auf die wahrscheinliche Unwirtschaftlichkeit der Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen hingewiesen habe.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 25. Oktober 2002 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 7. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2002 zu verurteilen, ihr die nachentrichteten freiwilligen Beiträge zu erstatten.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich zur Erwiderung auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Das Gericht hat die Rentenakte der Beklagten - Versicherungsnummer 64 211064 Z 512 - beigezogen. Der Inhalt dieser Akte und der Prozessakte des LSG Niedersachsen-Bremen/SG Bremen - L 12 RA 1/03 (S 8 RA 131/02) - ist zum Gegenstand der Entscheidung gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Bescheid der Beklagten rechtmäßig ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der freiwilligen Beiträge, die sie für Zeiten einer schulischen Ausbildung nachentrichtet hat.
Der Anspruch auf Erstattung kann nicht nach § 300 Abs. 2 SGB VI auf § 207 Abs. 3 SGB VI in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung, wie sie durch das WFG geschaffen worden ist, gestützt werden. Die Regelung in dieser Form ist durch das AVmEG mit Wirkung vom 01.01.2002 aufgehoben worden. Nach § 300 Abs. 2 SGB VI sind zwar aufgehobene Vorschriften dieses Gesetzbuchs und durch dieses Gesetzbuch ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird. Unter den Begriff des Anspruchs im Sinne dieser Vorschrift fallen alle rentenrechtlichen Ansprüche, soweit nicht ausdrücklich Anderes bestimmt ist (Kasseler Kommentar - Niesel § 300 SGB VI Rdz. 10 m.w.N.). Damit fällt auch der behauptete Anspruch der Klägerin auf Erstattung der nachentrichteten Beiträge unter die Übergangsvorschrift des § 300 Abs. 2 SGB VI. Die Klägerin hat den Erstattungsanspruch innerhalb der Dreimonatsfrist, nämlich im Februar 2002, geltend gemacht.
Die Klägerin hat jedoch keinen bis zum 31.12.2001 entstandenen Anspruch i. S. des § 300 Abs. 2 SGB VI gehabt. Bei einem solchen Anspruch muss es sich um einen fälligen und durchsetzbaren Anspruch auf die konkrete Leistung aus dem Leistungsverhältnis handeln (Kasseler Kommentar a.a.O. Rdz. 11). Ein solcher fälliger Anspruch stand der Klägerin nach der bis zum 31.12.2001 geltenden Rechtslage nicht zu.
Ausgangspunkt dieser rechtlichen Beurteilung ist § 207 Abs. 3 i.d.F. des WFG. Danach sind die Beiträge zu erstatten, die für Zeiten einer schulischen Ausbildung nachgezahlt wurden, die doch als Anrechnungszeiten zu berücksichtigen sind. Nach der bis zum 31.12.2001 geltenden Rechtslage waren aber Zeiten einer schulischen Ausbildung nur bis zu drei Jahren zu berücksichtigen, sodass die Zeiten, für die die Klägerin Beiträge nachentrichtet hat, nicht doch als Anrechnungszeiten zu berücksichtigen waren. Dies folgt aus der Anrechnungszeiten-Regelung des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI i.d.F. des WFG. Danach waren nämlich Anrechnungszeiten solche Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung), insgesamt jedoch höchstens bis zu drei Jahren. Die Berücksichtigungsfähigkeit von Zeiten einer schulischen Ausbildung bis zu acht Jahren ist erst durch die Nachfolgevorschrift des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI i.d.F. des AVmEG geschaffen worden, die nach altem Recht noch nicht anwendbar ist.
Nach der Regelung des § 207 Abs. 3 SGB VI i.d.F. des AvmEG steht der Klägerin ebenfalls kein Erstattungsanspruch zu. Das erkennende Gericht macht sich insofern die Ausführungen des Sozialgerichts zu Eigen und nimmt hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).
Die Klägerin kann sich für den von ihr geltend gemachten Anspruch auf Erstattung der freiwilligen Beiträge schließlich auch nicht auf einen Beratungsfehler der Beklagten berufen. Soweit sie mit ihrem diesbezüglichen Vorbringen einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch anspricht, sind die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs vorliegend nicht gegeben. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist zwar nicht gesetzlich geregelt, von der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit jedoch für den Fall entwickelt worden, dass ein Leistungsträger eine ihm dem Leistungsberechtigten gegenüber obliegende Nebenpflicht aus dem Sozialrechtsverhältnis, insbesondere zur Auskunft, Beratung und Aufklärung nach §§ 13 f. Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) verletzt und dem Leistungsberechtigten dadurch sozialrechtlich ein Schaden zugefügt wird. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer ihrer Art nach rechtlich zugelassenen Amtshandlung zur Herbeiführung derjenigen Rechtsfolgen gerichtet, die eingetreten wären, wenn sich der Leistungsträger rechtmäßig verhalten hätte.
Im vorliegenden Falle fehlt es schon an dem seitens der Klägerin geltend gemachten Beratungsfehler. Wie oben im Einzelnen dargestellt, hat die Beklagte die durch einen Rentenberater vertretene Klägerin im Rahmen des Kontenklärungsverfahrens und auch anschließend noch speziell vor ihrem Antrag auf Nachentrichtung umfassend beraten. Sie hat der Klägerin mehrere Proberechnungen zukommen lassen, aus denen sich die Rentenanwartschaften ohne und mit nachentrichteten Beiträgen entnehmen lassen. Zudem ist sie noch mit Schreiben vom 27. Januar 2000 auf Fragen der Klägerin eingegangen, die deren besonderen Versicherungsverlauf betrafen. Aus der Gesamtheit dieser Informationen konnte die fachlich beratene Klägerin sich ein eigenes Bild darüber machen, ob eine Nachentrichtung von Beiträgen für sie zweckmäßig sein würde. Dass die Einschätzung der Zweckmäßigkeit angesichts des langen Zeitraums von mehreren Jahrzehnten bis zum wahrscheinlichen Leistungsfall einer erheblichen Prognose-Unsicherheit unterliegt, ist im Hinblick auf die immer wieder zu erwartenden Änderungen des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung offenkundig. Auch die Beklagte hätte auf eine entsprechende Frage der Klägerin - die sie indes nicht gestellt hat - keine zu-verlässige Prognose abgeben können.
Die Berufung konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Für die Zulassung der Revision lag kein gesetzlicher Grund im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG vor.