Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.06.2003, Az.: L 9 SB 119/02

Höhe eines Grades der Behinderung im Schwerbehindertenrecht; Berücksichtigung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz; Schwerbehindertenrechtliche Bewertung von dauernden Funktionsbeeinträchtigungen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.06.2003
Aktenzeichen
L 9 SB 119/02
Entscheidungsform
Endurteil
Referenz
WKRS 2003, 21165
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0626.L9SB119.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - AZ: S 2 SB 317/00

Redaktioneller Leitsatz

Bei der schwerbehindertenrechtlichen Bewertung von dauernden Funktionsbeeinträchtigungen von Sozialgerichten, orientieren sich diese an den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz. Diese sind trotz Fehlens einer formalen Ermächtigungsnorm im Interesse einer Gleichbehandlung aller Behinderten als antizipierte Sachverständigengutachten zu beachten.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Höhe des dem Berufungskläger schwerbehindertenrechtlich zustehenden Grades der Behinderung (GdB).

2

Bei dem 1944 geborenen Berufungskläger war mit zuletzt bindend gewordenem Bescheid vom 10. August 1995 ein GdB von 80 festgestellt worden. Dem hatten folgende Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde gelegen:

  1. 1.

    Sehminderung beidseits mit unregelmäßigen Gesichtsfeldausfällen,

  2. 2.

    Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen,

  3. 3.

    Kreislaufregulationsstörungen,

  4. 4.

    Funktionsbehinderung des unteren Sprunggelenks rechts.

3

Hierbei war das Versorgungsamt (VA) Osnabrück allein im Hinblick auf die Sehminderung von einem internen Teil-GdB von 70 ausgegangen. Dem hatte der Befundbericht der Augenärztin Dr. D. vom 02. Dezember 1994 zu Grunde gelegen.

4

Im Jahr 1997 leitete das VA eine Prüfung der Feststellungen ein. Nachdem die Augenärztin Dr. D. unter dem 02. Dezember 1997 mitgeteilt hatte, der Berufungskläger sei bei ihr zwischenzeitlich nicht in Behandlung gewesen und der Berufungskläger weiter mitgeteilt hatte, er sei auch bei keinem anderen Augenarzt in Behandlung gewesen, veranlasste das VA die Begutachtung des Berufungsklägers durch den Augenarzt Dr. E. (Gutachten vom 12. März 1998). Dieser kam im Wesentlichen zu dem Ergebnis, der Berufungskläger sehe zweifelsfrei mehr, als er angebe. Dies sei insbesondere bei dem Simulationstest nach Kotowski und bei der Befundung des Gesichtsfeldes deutlich geworden. Nach Beteiligung des versorgungsärztlichen Dienstes hörte das VA den Berufungskläger zur beabsichtigten Herabsetzung des ihm zuerkannten GdB an. Mit Bescheid vom 07. September 1998 setzte das VA sodann den GdB auf 40 mit Wirkung ab dem 01. Oktober 1998 herab. Die vormals zuerkannten Merkzeichen "G", "RF" und "B" wurden entzogen.

5

Im sodann eingeleiteten Widerspruchsverfahren wies der Berufungskläger im Wesentlichen auf Beschwerden seitens der rechten Schulter und eine Hörminderung hin. Das VA zog mehrere Befundberichte des Allgemeinmediziners Dr. F. und des Hals-Nasen-Ohren-Arztes Dr. G. bei und hörte jeweils den Berufungskläger zur weiterhin beabsichtigten Zurückweisung des Widerspruchs an. Nach einer abschließenden Beteiligung des Ärztlichen Dienstes (Dr. H.) wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2000 zurückgewiesen.

6

Am 22. November 2000 ist Klage erhoben worden. Zur Stützung der Klage hat der Berufungskläger den Arztbrief des Röntgen-Nuclear-Institutes I. vorgelegt. Das Sozialgericht (SG) hat einen Befundbericht des Allgemeinmediziners J. beigezogen, dem ein Reha-Entlassungsbericht aus Bad K. vom 27. August 2001 beigefügt war. Das beklagte Land hat eine Stellungnahme seines Ärztlichen Dienstes (Dr. L. unter dem 05. Dezember 2001) vorgelegt.

7

Mit Urteil vom 28. Mai 2002 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen darauf hingewiesen, bei der Entscheidung über die Klage gegen einen Herabsetzungsbescheid komme es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auf die Tatsachen zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung an. Dies zu Grunde gelegt, seien die Funktionsstörungen des Berufungsklägers vom beklagten Land richtig in das System der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Ausgabe 1996 (AP 96) eingeordnet worden. Der angefochtene Bescheid sei daher rechtmäßig und verletze den Berufungskläger nicht in seinen Rechten.

8

Gegen das am 18. Juni 2002 zugestellte Urteil ist am 16. Juli 2002 Berufung eingelegt worden. Der Berufungskläger ist der Auffassung, es sei auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen. Insoweit habe das SG widersprüchlich argumentiert, da es in seiner Entscheidung selbst neuere Befunde zu Grunde gelegt habe. Darüber hinaus sei nicht nachvollziehbar, warum die Schwerbehinderteneigenschaft erst zuzuerkennen sei, wenn eine Funktionsstörung vorliege, die in ihrer Schwere mit dem Verlust einer Hand oder eines Beines zu vergleichen sei.

9

Der Berufungskläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichtes Osnabrück vom 28. Mai 2002 aufzuheben sowie den Bescheid des Versorgungsamtes Osnabrück vom 07. September 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 25. Oktober 2000 zu ändern,

  2. 2.

    das beklagte Land zu verurteilen, bei ihm ab dem 01. Oktober 1998 einen GdB von 60 festzustellen.

10

Das beklagte Land beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Zur Begründung bezieht es sich auf seine angefochtenen Bescheide und das erstinstanzliche Urteil.

12

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des berufungsbeklagten Landes (1 Bd. zum Az.: M.) sowie die ebenfalls beigezogene Prozessakte des SG Osnabrück zum Az. S 10 SB 577/94 Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

13

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten in Anwendung von §§ 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter.

14

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

15

Das SG hat zutreffend erkannt, dass der Berufungskläger ab dem 01. Oktober 1998 weder einen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40 noch auf weitere Zuerkennung von Merkzeichen hat. Es ist hierbei von den richtigen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen ausgegangen und hat mit nachvollziehbaren Erwägungen und zutreffend seine Entscheidung begründet. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe des Urteils vom 28. Mai 2002 Bezug genommen, § 153 Abs. 2 SGG.

16

Im Berufungsverfahren sind insoweit keine neuen Gesichtspunkte zu Tage getreten.

17

Im Hinblick auf das Vorbringen des Berufungsklägers sieht sich das Gericht lediglich zu folgenden Hinweisen veranlasst. Soweit der Berufungskläger die Auffassung vertritt, es handele sich vorliegend um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage und daher sei die tatsächliche Situation im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu Grunde zu legen, trifft dies nicht zu. Der Berufungskläger hat sich mit seiner Klage allein gegen den herabsetzenden Bescheid vom 07. September 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2000 gewandt. Diesem ist er zwar nur insoweit entgegen getreten, als er nicht auf der weiteren Zuerkennung des GdB von 80 beharrt hat. Indessen war sein Klagebegehren lediglich darauf gerichtet, die entziehende Wirkung des Herabsetzungsbescheides anzufechten. Daher handelt es sich bei seiner Klage um eine reine Anfechtungsklage und das SG ist zu Recht davon ausgegangen, dass in Anwendung der richtig zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung auf die tatsächliche Situation im Oktober 2000 abzustellen ist.

18

Soweit der Berufungskläger bezweifelt, dass der Schwerbehindertenstatus erst zuerkannt werden kann, wenn die festzustellenden Funktionsbeeinträchtigungen einen Schweregrad erreichen, der dem Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel entspricht, so geht auch dieser Ansatz fehl. Bei der schwerbehindertenrechtlichen Bewertung von dauernden Funktionsbeeinträchtigungen orientieren sich die Sozialgerichte an den AP 96. Die AP 96 sind trotz Fehlens einer formalen Ermächtigungsnorm im Interesse einer Gleichbehandlung aller Behinderten als antizipierte Sachverständigengutachten zu beachten (BSG, Urt. v. 11. Oktober 1994, Az.: 9 RVs 1/93 = SozR 3-3870 § 3 Nr. 5). Aus den AP 96 ergibt sich indes, dass die vom SG beispielhaft zitierten Funktionsbeeinträchtigungen dort mit einem GdB von 50 bewertet werden und somit zur Zuerkennung des Schwerbehindertenstatus führen. Hieraus hat das SG zu Recht geschlossen, dass Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht einen solchen Schweregrad erreichen, nicht zur Zuerkennung des Schwerbehindertenstatus führen können.

19

Soweit der Berufungskläger sich dagegen wendet, dass das SG im weiteren Gang seiner Entscheidung sich auf neuere Befunde (insbesondere auf den Kurentlassungsbericht aus Bad K.) gestützt hat, so folgt auch hieraus nicht, dass die Entscheidung des SG rechtswidrig ist. Im Gegenteil hat das SG zu Recht auch aus diesen neueren Befunden geschlossen, dass selbst wenn die Auffassung des Berufungsklägers zutreffen sollte, dass auf neuere Befunde abzustellen wäre, dies nicht zu einer höheren Bewertung der bei ihm vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen führen könnte. Insoweit hat sich auch das erkennende Gericht nach Durchsicht aller vorliegenden medizinischen Befunde davon überzeugt, dass die Bewertung der im Oktober 2000 vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen des Berufungsklägers nach den Maßstäben der AP 96 jedenfalls nicht zu Lasten des Berufungsklägers rechtswidrig ist. Dies gilt zunächst für die von ihm geklagten Beschwerden seitens der Wirbelsäule (vgl. dazu S. 139 f der AP 96). Insoweit hat Dr. L. in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 05. Dezember 2001 überzeugend darauf hingewiesen, es seien seitens der Halswirbelsäule allenfalls geringe und seitens der Lendenwirbelsäule mäßige Beeinträchtigungen dokumentiert gewesen. Die Einstufung mit einem verwaltungs-internen Teil-GdB von 30 im Hinblick auf diese Funktionsbeeinträchtigungen ist daher nicht als rechtswidrig anzusehen.

20

Auch die Bewertung der bei dem Berufungskläger vorliegenden, geringfügigen Innenohrschwerhörigkeit beidseits (vgl. hierzu den Befundbericht von Dr. G. aus September 1999 = Bl. 169 d. Verwaltungsvorgangs sowie den Befundbericht von Dr. G. vom 23. März 2000 = Bl. 190 d. Verwaltungsvorgangs) begegnet unter Heranziehung der Maßstäbe der AP 96 (vgl. dort S. 71 f) keinen durchgreifenden Bedenken. Insoweit war unter Zugrundelegung der von Dr. G. genannten Diagnose nach Tabelle D auf S. 72 allenfalls von einem GdB von 10 auszugehen. Auch die Kreislaufregulationsstörungen und die Funktionsbehinderungen des rechten unteren Sprunggelenkes bedingen, soweit sie überhaupt noch vorliegen, allenfalls einen Einzel-GdB von je 10 v.H. (vgl. hierzu auch die zutreffende versorgungs-ärztliche Stellungnahme von Dr. H. vom 30. September 2000).

21

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §§ 183, 193 SGG.

22

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.