Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 16.06.2003, Az.: L 6 U 139/02

Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen einer als Berufskrankheit anerkannten Erkrankung durch Blei; Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen für eine Berufskrankheit; Verneinung der medizinischen Voraussetzungen einer Berufskrankheit durch Sachverständige

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
16.06.2003
Aktenzeichen
L 6 U 139/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 21072
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0616.L6U139.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 28.02.2002 - AZ: S 71 U 235/98

Redaktioneller Leitsatz

Für die Anerkennung einer Berufserkrankung sind die Erfüllung sowohl der medizinischen wie auch der arbeitstechnischen Voraussetzungen zwingend erforderlich. Deshalb ist es schlüssig und plausibel, wenn herangezogene Sachverständige angesichts der ihrer Einschätzung nach nicht vorliegenden medizinischen Voraussetzungen eine Berufskrankheit auch insgesamt verneinen.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 28. Februar 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger begehrt Verletztenrente wegen der Folgen der bei ihm als Berufskrankheit (BK) anerkannten Nr. 1101 (Erkrankungen durch Blei) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung.

2

Der im November 1939 geborene Kläger bezieht wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 24. August 1960 (Verlust des Ringfingers rechts) und wegen einer Lärmschwerhörigkeit - BK Nr. 2301 - seit Dezember 1992 Verletztenrenten in Höhe von 10 bzw. 15 v.H. der Vollrente (Bescheide der Holz-BG vom 16. September 1996 und der Beklagten vom 25. Oktober 1996).

3

Er war u.a. von Oktober 1964 bis April 1970 bei der Firma C. in der Altmetallverwertung beschäftigt. Danach war er bei der Firma D. von März 1972 bis März 1973 und erneut von Mai 1982 bis Herbst 1994 als Brenner auf Schrottlager-, Brennschneideplätzen, bei der Schiffsabwrackung und auf außerbetrieblichen Abbruch- und Montagestellen und anschließend bis 31. Oktober 1996 im Bereich der Demontage und im Lager tätig. Als Brenner war er u.a. für die Trennung von Werkzeugmaschinen, Fahrzeugchassis und Stahlträger wie auch für den Abbruch alter Industrieanlagen zuständig und hatte hierbei Umgang mit Blei und Zink sowie deren Verbindungen, Asbest und Pyrolyseprodukten der Altfarben (Stellungnahme des Technischen Aufsichtsbeamten (TAB) E. vom 6. Oktober 1997).

4

Am 18. März 1985 waren erstmalig ein erhöhter Bleispiegel im Blut sowie eine vermehrte Bleiausscheidung im Urin aufgefallen (Bescheinigung des Dr. F. vom 18. März 1985). Im April 1997 beantragte der Kläger deshalb die Anerkennung einer BK. Die Beklagte zog das Vorerkrankungsverzeichnis der AOK und die Unterlagen des Arbeitsmediziners G., des Hausarztes Dr. H. sowie die des Versorgungsamtes I., insbesondere das Gutachten des Dr. J. vom 10. April 1997, Auskünfte der Arbeitgeber und einen Bericht des Dr. K. vom 15. September 1997 bei. Der Landesgewerbearzt Dr. L. teilte in seiner Stellungnahme vom 29. April 1998 mit, dass ausweislich der vom TAB vorgelegten Messberichte der MAK-Wert für Blei zeitweilig bis zum 26fachen überschritten worden sei. Auch sei der Bleigehalt im Blut im März 1985 erhöht gewesen, die weiteren Untersuchungen hätten aber keine kritischen Bleiwerte mehr ergeben. Allerdings seien den medizinischen Unterlagen keine Hinweise auf Funktionsstörungen der Niere oder Erkrankungen peripherer Nerven, die auf die Bleiexposition zurückgeführt werden könnten, zu entnehmen. Deshalb empfahl er, bei dem Kläger keine BK Nr. 1101 anzuerkennen. Demgegenüber bejahte der Arbeitsmediziner Dr. M. eine BK Nr. 1101. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien jedenfalls erfüllt, und für die Anerkennung sei nach dem Merkblatt dieser BK auch ein nur geringfügig erhöhter Blutbleispiegel ausreichend. Bereits bei einer Überschreitung von 15 bzw. 20 ug/dl sei von einer erhöhten Bleibelastung auszugehen. Symptomatische Veränderungen im Sinne einer Bleivergiftung seien bei dem Kläger aber nicht beobachtet worden.

5

Mit Bescheid vom 7. August 1998 erkannte die Beklagte daraufhin bei dem Kläger als Folgen der BK Nr. 1101 an: einmalig über den BAT-Wert (biologischer Arbeitsplatztoleranz-Wert) gemessener Blutbleispiegel sowie mehrmalig über den Normbereich - unterhalb des BAT-Wertes - erhöhte Bleiwerte ohne symptomatische Krankheitserscheinungen. Eine Gewährung von Verletztenrente lehnte sie ab, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 0 v.H. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 31. August 1998).

6

Hiergegen hat der Kläger am 8. September 1998 Klage erhoben mit der Begründung, die Beklagte habe weder seine Bleibelastungen am Arbeitsplatz noch mögliche Schäden an seinen Organen richtig ermittelt. Die Beklagte hat Unterlagen des Arbeitsmediziners G. vorgelegt. Das Sozialgericht (SG) hat den Befundbericht des Dr. K. vom 31. November 1998 und dessen Unterlagen sowie den Befundbericht des Arbeitsmediziners G. vom 18. April 1999 beigezogen und anschließend das Gutachten der Internistin Dr. N. vom 26. August 1999 eingeholt. Diese diagnostizierte u.a. eine chronische Bleivergiftung, eine chronische Blutarmut mit nur geringen Auswirkungen, chronische Magenschleimhaut- und Speiseröhrenentzündungen mit anhaltenden Refluxbeschwerden, die jeweils mit einer MdE um 10 v.H. zu bewerten seien. Das chronische Schmerzsyndrom der Lendenwirbelsäule (LWS) mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen sei durch die Bleivergiftung verschlimmert worden und bedinge eine MdE um 20 v.H. Die Gesamt-MdE durch die Bleivergiftung sei mit 20 v.H. zu bewerten. Die Beklagte hat hierzu Stellungnahmen des Prof. Dr. O. vom 8. November 1999 und 22. Mai 2000 vorgelegt. Mit dessen Einwendungen hat sich Dr. N. in ihrer Stellungnahme vom 15. Februar 2000 auseinander gesetzt. Anschließend ist das Gutachten der Prof. Dr. P., Institut für Arbeitsmedizin der Medizinischen Hochschule Q., vom 15. März 2001 eingeholt worden. Mit Urteil vom 28. Februar 2002 hat das SG Oldenburg die Klage abgewiesen und sich zur Begründung auf Prof. Dr. P. und Prof. Dr. R. gestützt. Nach dem zur BK Nr. 1101 herausgegebenen Merkblatt sei bei einer ausgeprägten Form einer chronischen Bleivergiftung mit Anämien, abdominalen Koliken, Polyneuropathien, Enzephalopathien und Nephropathien zu rechnen. Voraussetzung hierfür seien neben einer langzeitigen und erheblichen Bleiexposition charakteristische Bleierkrankungsmerkmale. Hieran fehle es beim Kläger. Eine Nierenschädigung oder Enzephalopathie bestehe bei ihm nicht. Ursache seiner chronischen Magenschleimhaut- und Speiseröhrenentzündung sei ein Barretteoesophagus, der nach Prof. Dr. P. nicht zum typischen Krankheitsbild einer Bleischädigung zähle. Typisch für eine gastrointestinale bleiassoziierte Beschwerdesymptomatik sei das Auftreten von Bleikoliken, die im Oberbauch lokalisiert seien und mit einer hartnäckigen Obstipation einhergingen. Diese Beschwerdesymptomatik aber habe der Kläger gegenüber den Gutachtern verneint. Auch die Anämie sei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Bleiexposition zurückzuführen. Bereits Dr. L. habe darauf verwiesen, dass der zeitweilig erniedrigte Gehalt an rotem Blutfarbstoff unabhängig von der Bleibelastung gewesen sei. Zudem spreche der Verlauf dieser Anämie gegen einen beruflichen Zusammenhang. Nach mehr als 4-jähriger Expositionskarenz sei nach Prof. Dr. P. mit Normalbefunden zu rechnen, die beim Kläger aber nicht vorlägen. Das Ergebnis der Blutuntersuchung entspräche nach Prof. Dr. P. vielmehr einer Eisenmangelanämie. Der Auffassung der Dr. N. sei auch hinsichtlich der degenerativen Veränderungen der LWS und des Knies nicht zu folgen, da ihre Einschätzung nicht der herrschenden Lehrmeinung hinsichtlich der Zielorgane einer Bleivergiftung entspräche.

7

Hiergegen hat der Kläger am 20. März 2002 Berufung eingelegt. Das Gutachten der Prof. Dr. P. enthalte nicht nachvollziehbare Aussagen und sei nicht zu verwerten.

8

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des SG Oldenburg vom 28. Februar 2002 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 7. August 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 1998 zu ändern,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 10v.H. der Vollrente zu zahlen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Oldenburg vom 28. Februar 2002 zurückzuweisen.

10

Das Gutachten der Prof. Dr. P. sei nachvollziehbar, die Gutachter hätten lediglich entgegen der Einschätzung der Beklagten den erhöhten Blutbleispiegel noch nicht als BK angesehen.

11

Mit Verfügung der Berichterstatterin vom 22. April 2003 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

13

II.

Die statthafte Berufung ist zulässig. Sie ist aber unbegründet. Das SG Oldenburg hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat wegen der Folgen der bei ihm anerkannten BK Nr. 1101 der Anlage zur BKV keinen Anspruch auf Verletztenrente in Höhe von - hier wegen des Stützrententatbestandes bereits ausreichender - 10v.H. der Vollrente nach § 56 Sozialgesetzbuch 7. Buch (SGB VII). Die von der Beklagten anerkannte BK Nr. 1101 hat keine Gesundheitsstörungen hinterlassen, die eine MdE in Höhe von 10 v.H. bedingen. Auch der Senat folgt insoweit den übereinstimmenden und nachvollziehbaren Begründungen der Dr. S ... Zur Vermeidungen von Wiederholungen wird deshalb auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des SG Oldenburg Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

14

Lediglich zum Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren wird ergänzend ausgeführt:

15

Entgegen der Auffassung des Klägers erweist sich das Gutachten der Prof. Dr. P. auch nach nochmaliger Überprüfung nicht als widersprüchlich und unschlüssig. Insbesondere besteht kein Widerspruch zwischen den Ausführungen auf Seite 33 und Seite 34 ihres Gutachtens. Auf der Seite 33 verneinen die Sachverständigen das Vorliegen der BK Nr. 1101 bei dem Kläger, weil nach ihrer Auffassung die medizinischen Voraussetzungen dieser BK nicht erfüllt sind. Denn sie halten - wie zuvor schon Dr. L. - die lediglich geringfügige Erhöhung des Blutbleigehaltes hierfür nicht ausreichend. Auf Seite 34 bejahen die Sachverständigen hingegen die arbeitstechnischen Voraussetzungen - d.h. eine ausreichende berufliche Bleiexposition des Klägers -, die unabhängig von den medizinischen Voraussetzungen zu beurteilen sind. Für die Anerkennung der BK Nr. 1101 - wie für jede andere BK im Übrigen auch - sind aber die Erfüllung sowohl der medizinischen wie auch der arbeitstechnischen Voraussetzungen zwingend erforderlich. Deshalb ist es schlüssig und plausibel, dass die Sachverständigen angesichts der ihrer Einschätzung nach nicht vorliegenden medizinischen Voraussetzungen die BK insgesamt verneinen.

16

Weiterhin ist entgegen des klägerischen Vortrags auch das Gutachten der Prof. Dr. P. nicht nur nach Aktenlage, sondern vielmehr wie das Gutachten der Dr. N. nach einer ambulanten Untersuchung des Klägers erstattet worden.

17

Ermittlungen zur Aufklärung der beruflichen Belastung des Klägers bei der Firma C. sind demgegenüber nicht erforderlich. Denn eine berufliche Bleiexposition und damit die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 1101 sind unstreitig. Entscheidend ist, dass bei dem Kläger - glücklicherweise - keine Gesundheitsstörungen bestehen, die auf diese Bleiexposition zurückgeführt werden können. Insoweit sind sich - abgesehen von Dr. N. - alle die Unterlagen auswertenden Ärzte (Dr. T.) einig. Die Anämie ist nach den übereinstimmenden Ausführungen der Prof. Dr. U. auf einen Eisenmangel und nicht auf die Bleiexposition zurückzuführen. Aber selbst unterstellt, sie würde - wie von Dr. N. angenommen - durch die berufliche Bleibelastung hervorgerufen worden sein, ergäbe sich dadurch für den Kläger kein Anspruch auf Verletztenrente. Denn auch nach den Ausführungen der Dr. N. hat diese Anämie keine funktionellen Auswirkungen, sodass sich auch keine MdE von 10 v.H. hiermit rechtfertigen lässt. Auch die Magenschleimhaut- und die LWS-Erkrankung ist nach den übereinstimmenden Ausführungen der Prof. Dr. V. nicht durch die Bleiexposition verursacht worden. Infolgedessen erübrigen sich Ermittlungen zur Höhe der Exposition des Klägers Anfang der 60iger Jahre.