Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.06.2003, Az.: L 16/12 U 27/02
Anspruch als Sonderrechtsnachfolger auf Zahlung einer Verletztenrente ; Berufskrankheit durch Tätigkeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ; Weitergeltung bereits aufgehobener Vorschriften des Sozialrechts; Anspruch auf Verletztenrente bei Minderung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalles um wenigstens 1/5; Psychische Erkrankung mit einer Funktionseinschränkung, die eine Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE) von mindestens 10 von Hundert zur Folge hat als Berufskrankheit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.06.2003
- Aktenzeichen
- L 16/12 U 27/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20019
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0626.L16.12U27.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 21.03.2002 - AZ: 18 U 199/01
Rechtsgrundlagen
- § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I
- § 7 S. 1 FRG
- § 212 SGB VII
- § 214 Abs. 3 SGB VII
- § 40 Abs. 1 SGB I
- § 547 RVO
- § 551 Abs. 1 S. 1 RVO
- § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO
- (§ 581 Abs. 3 RVO
Redaktioneller Leitsatz
Eine Verletztenrente wird nur gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge der Berufskrankheit um wenigstens 1/5 oder die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Arbeitsunfälle/Berufskrankheiten jeweils um mindestens 10 von Hundert gemindert ist und die Summe der durch die einzelnen Unfälle/Berufskrankheiten verursachte Minderungen der Erwerbsfähigkeit (MdE) wenigstens 20 von Hundert beträgt.
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 21. März 2002 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Zahlung einer Verletztenrente für die Zeit vom 1. August 1995 bis 27. Mai 1999 an die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I).
Die Klägerin ist die Witwe des am 30. Juli 1935 geborenen und am 27. Mai 1999 gestorbenen Versicherten G ... Dieser war nach seinen Angaben in einer Beschäftigungsaufstellung von September 1990 wie folgt beruflich tätig:
August 1949 - Juli 1952 Betriebsschlosser-Lehrling bei dem H., August 1952 - Februar 1953 Schlosser bei einer Reparaturwerkstatt in I., Juli/August 1953 Hilfsschlosser bei der Klempnerei J., September 1953 - Februar 1955 Maschinenschlosser bei der K., ab Juni 1955 (mit Unter- brechungen) - 8. Juli 1990 Motorenwärter, Lagerhalter, Maschinist, Decksmann, Matrose und Koch bei verschiedenen Reedereien.
Danach war er arbeitsunfähig krank und erhielt von der Seekasse ab 1. Oktober 1991 eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Am 9. Juli 1990 wurde bei dem Versicherten ein Urothelkarzinom der Harnblase festgestellt, das im Juli 1990 reseziert wurde. Im Dezember 1990 wurde auf Grund einer Knochenmarksbiopsie eine Polyzythämia vera (Tumorkrankheit des Blut bildenden Systems) diagnostiziert. Am 20. August 1990 erstattete Prof. Dr. med. L. (Urologische Klinik des Zentralkrankenhauses - ZKH - M. wegen des Blasenkarzinoms bei der See-Berufsgenossenschaft eine "Ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit".
Der Versicherte stürzte am 20. November 1998 in alkoholisiertem Zustand mit seinem Fahrrad und zog sich nach dem Entlassungsbericht des ZKH N., Chirurgische Klinik, vom 7. Januar 1999 ein Schädel-Hirn-Trauma mit rechtsparietaler und linkstemporo-parietaler Kontusionsblutung sowie Kopfplatzwunde linksparieto-okzipital zu. Er wurde bis 28. Dezember 1998 stationär in der Chirurgischen Klinik des ZKH N. behandelt. Zur Durchführung einer Anschlussheilbehandlung befand er sich vom 28. Dezember 1998 bis 18. Januar 1999 im Reha-Zentrum O ... Der Versicherte starb am 27. Mai 1999. Nach einer Auskunft der Internistin P. vom 25. Juni 1999 litt er an der Polyzythämia vera, einem Bluthochdruck, einer Herzinsuffizienz, einem Zustand nach Thrombophlebitis und Schädel-Hirn-Trauma mit Kontusionsblutung. Zur Todesursache gab sie an, er sei - ohne entsprechende vorherige Symptome - unter dem Verdacht auf Herzinfarkt oder Lungenembolie gestorben.
Die See-Berufsgenossenschaft erkannte mit Bescheid vom 26. April 2000 vorläufig und mit Bescheid vom 26. März 2001 endgültig die Polyzythämia vera als Berufskrankheit nach Nr. 1303 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol - an und zahlte der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes eine Teilrente in Höhe von 30 v.H. der Vollrente für die Zeit vom 1. Oktober 1991 bis 31. Mai 1999.
Die Beklagte erkannte weiterhin mit Bescheid vom 24. November 2000 den Blasenkrebs als Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV - Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine - an und zahlte der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes für die Zeit vom 1. Oktober 1991 bis 11. Juli 1992 eine Teilrente in Höhe von 50 v.H. und vom 12. Juli 1992 bis 31. Juli 1995 in Höhe von 20 v.H. der Vollrente. Sie führte in dem Bescheid aus, über den 12. Juli 1995 (5 Jahre nach der erfolgreichen Operation) hinaus habe kein Anspruch auf Verletztenrente mehr bestanden, da der Ehemann der Klägerin durch die Folgen der Berufskrankheit nicht mehr in rentenberechtigendem Grade in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert gewesen sei. Sie erkannte als Folgen der Berufskrankheit an: Vorübergehende Einschränkungen nach operativer Entfernung eines Harnblasenkrebses. Bei der Erteilung des Bescheides ging sie - nach umfangreichen Ermittlungen, an denen auch die See-Berufsgenossenschaft und die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung beteiligt waren - davon aus, dass der Versicherte bei seiner Tätigkeit in dem Q. in der Zeit von 1949 bis 1952 schädigenden Einwirkungen im Sinne der Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV ausgesetzt war.
Zur Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen des Harnblasenkarzinoms wertete die Beklagte ein Gutachten von Prof. Dr. Dr. R., Arzt für Pharmakologie und Toxikologie und Direktor der Abteilung Toxikologie und Arbeitsmedizin am Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität S., vom 24. Mai 1995, Gutachten von Prof. Dr. med. L./Dr. med. T./Dr. med. U. vom 24. August 1998 und 7. Oktober 1999 und eine Stellungnahme von dem Facharzt für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin Dr. med. Dipl.-Chemiker V. (Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, W.) vom 26. Mai 2000 aus. In dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. R. heißt es, es habe sich um ein Urothelkarzinom der Harnblase, pTa, G 1, gehandelt. Bei unkompliziertem Verlauf sei nach Kierfeld und Schöps eine MdE von 50 v.H. für zwei Jahre (12. Juli 1990 bis 11. Juli 1992) und dann von 20 v.H. für drei Jahre (12. Juli 1992 bis 11. Juli 1995) anzusetzen; da keine Komplikationen, insbesondere Metastasierungen oder Rezidive, aufgetreten seien, entfalle eine MdE ab dem 12. Juli 1995. Prof. Dr. med. L./Dr. med. T./Dr. med. U. führten in ihrem Gutachten vom 24. August 1998 aus, der Versicherte sei seit der initialen operativen Behandlung des Urothelkarzinoms der Harnblase rezidivfrei und behandlungsbedingte mögliche Folgekrankheiten (z.B. Harnröhrenenge, Schrumpfblase, nephro-ureteraler Reflux) hätten sich nicht eingestellt. Die MdE sei nach Wilbert u.a. und Bichler für die ersten zwei Jahre prinzipiell auf 100 v.H., für die folgenden Jahre auf 70 v.H. bis 90 v.H. und nach 5-jähriger Rezidivfreiheit auf 20 v.H. bis 30 v.H. anzusetzen. Unter Berücksichtigung der lediglich zwei Jahre währenden beruflich bedingten Exposition, verglichen mit der bis zum Versicherungsstichtag 31-jährigen selbstinduzierten Exposition gegenüber den Kanzerogenen des Zigarettenrauchens, sei die MdE für die ersten zwei Jahre nach dem 16. Juli 1990 auf 40 v.H., für die drei Jahre zwischen dem 17. Juli 1992 und 16. Juli 1995 auf 30 v.H. und seither bei Rezidivfreiheit bis zum Untersuchungstag auf 10 v.H. anzusetzen. In ihrem Anschlussgutachten vom 7. Oktober 1999 schätzten Prof. Dr. med. L./Dr. med. T./Dr. med. U. die MdE wegen des Harnblasenkarzinoms für die Zeit vom 16. Juli 1990 bis zum 16. Juli 1992 auf 100 v.H., für die Zeit vom 17. Juli1992 bis 16. Juli 1995 auf 70 v.H. und für die Zeit vom 17. Juli 1995 bis zum Todestag am 27. Mai 1999 auf Grund der vollständigen Rezidivfreiheit auf 20 v.H. ein. Sie führten wiederum aus, da die Exposition gegenüber aromatischen Aminen nur als Teilursache gesehen werde und keine Rezidive aufgetreten seien, sei die Festsetzung der MdE im unteren Bereich der möglichen Ermessensbreite erfolgt, wodurch auch der selbstverantworteten kanzerogenen Exposition durch Rauchen Rechnung getragen werde. Dr. med. Dipl.-Chem. V. legte in seiner Stellungnahme vom 26. Mai 2000 dar, Prof. Dr. Dr. R. habe sich in seiner Beurteilung der MdE auf die Arbeit von Kierfeld und Schöps bezogen, die sich lange Zeit mit der Frage der Harnblasenkarzinome und auch mit der anzunehmenden MdE im Anerkennungsfalle auseinander gesetzt hätten. Diese Arbeit sei als Leitlinie zur Berechnung der MdE weit gehend akzeptiert, sodass der Auffassung von Prof. Dr. Dr. R. bei dem gegebenen Tumorstadium und dem gegebenen Verlauf zuzustimmen sei. Die Annahmen von Prof. Dr. med. L./Dr. med. T./Dr. med. U. gründeten sich nicht auf irgendwelche reproduzierbare Grundlagen.
Gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. November 2000 legte die Klägerin am 27. Dezember 2000 Widerspruch ein, mit dem sie sich gegen die Höhe der MdE für die Zeit vom 12. Juli 1990 bis 12. Juli 1995 und gegen die Ablehnung der Weitergewährung der Rente ab 13. Juli 1995 wandte. Sie führte aus, bei der MdE-Bewertung von berufsbedingten Krebserkrankungen seien neben den objektivierbaren Funktionsausfällen auch die Prognose der Erkrankung und die daraus resultierende psychosoziale Belastung zu berücksichtigen. Bei der Bewertung der MdE wegen des Blasenkrebses dürfe die Koexistenz einer weiteren Krebserkrankung (Polyzythämia vera) nicht außer Betracht bleiben, auch wenn über die Höhe der MdE wegen dieser Erkrankung die See-Berufsgenossenschaft einen Bescheid erlassen habe. Beizupflichten sei am ehesten der Einschätzung der MdE in den Gutachten von Prof. Dr. med. L./Dr. med. T./Dr. med. U ...
Die Beklagte holte eine ergänzende Stellungnahme von Dr. med. Dipl.-Chem. V. vom 18. Juli 2001 ein, in der er ausführte, obwohl nach den Gutachten von Prof. Dr. med. L./Dr. med. T./Dr. med. U. Folgeerkrankungen der Behandlung nicht aufgetreten seien und auch ein Hinweis auf eine psychische Belastungsreaktion sich nicht ergebe, sei es durchaus glaubhaft, dass der Versicherte unter den Folgen der Harnblasenkrebserkrankung psychisch gelitten habe, insbesondere, als die Polyzythämia vera die "Krebsangst" vermehrt habe. Insofern komme er zu dem Ergebnis, dass durch die geschilderte Beeinträchtigung, die auch nach 1995 fortgedauert habe, eine weitere MdE in Höhe von 20 v.H. im Hinblick auf die Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKVO fortbestanden habe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 7. November 2001 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Sie führte aus, bei der Einschätzung der MdE in dem angefochtenen Bescheid handele es sich um allgemein anerkannte Erfahrungswerte, bei denen die psychische Situation berücksichtigt worden sei. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf den Widerspruchsbescheid (Bl. 719 - 722 Verwaltungsakte) Bezug genommen.
Die Klägerin hat am 7. Dezember 2001 beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage erhoben und die Zahlung einer Verletztenrente für die Zeit vom 13. Juli 1995 bis 27. Mai 1999 in Höhe von mindestens 20 v.H. begehrt. Sie hat sich auf die Stellungnahme von Dr. med. Dipl.-Chem. V. vom 18. Juli 2001 bezogen.
Die Beklagte hat auf den Akteninhalt verwiesen.
Mit Urteil vom 21. März 2002 hat das SG die Beklagte verurteilt, der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes ab 1. August 1995 bis 27. Mai 1999 eine Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, ausschlaggebend für die Zuerkennung der Verletztenrente für die Zeit ab 1. August 1995 sei die Besonderheit, dass bei dem Versicherten neben der von der Beklagten entschädigten Berufskrankheit noch die weitere Berufskrankheit nach Nr. 1303 der Anlage zur BKV vorgelegen habe. Dem Versicherten sei der hochgradig labile Gesundheitszustand, in dem er sich seit etwa 1990 befunden habe, sicher bewusst gewesen. Deshalb habe Dr. med. Dipl.-Chem. V. die Auffassung vertreten, dass auch nach 1995 eine wesentliche psychische Beeinträchtigung fortbestanden habe. Angesichts der Gefährdungssituation durch zwei bösartige Erkrankungen sei es dem Versicherten nicht möglich gewesen, bestehende Ängste wegen des Wiederauftretens der Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV zu verdrängen oder allein auf die zweite Erkrankung zu projizieren. Wegen der fortbestandenen Gefährdungssituation und der psychischen Alterationen müsse daher die Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV weiterhin mit einer MdE von 20 v.H. bewertet und entschädigt werden. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf das Urteil (Blatt 39 - 46 Prozessakte) Bezug genommen.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 7. Mai 2002 zugestellte Urteil am 5. Juni 2002 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, unstreitig sei, dass der Harnblasenkrebs im Juli 1990 erfolgreich entfernt worden sei, sodass der Versicherte in der Folgezeit beschwerdefrei gewesen und auch kein Rezidiv oder weitere Gesundheitsstörungen aufgetreten seien. Nur für die erste Zeit nach der operativen Entfernung des Karzinoms könne eine wesentliche psychologische Beeinträchtigung zugebilligt werden, jedoch nicht mehr, wenn kein Rezidiv auftrete und eine Behandlungsbedürftigkeit nicht mehr bestehe. Später auftretende persönliche Schicksalsschläge wie eine weitere schwere Erkrankung führten zwar zwangsläufig zu einer zusätzlichen psychologischen Belastung und einer Verschlechterung der Gesamtsituation. Wenn ein solcher zusätzlicher Umstand den Heilungsverlauf aber nicht beeinträchtige, könne er den Anteil an der psychologischen Belastung, der dem Versicherten vorübergehend wegen seiner bisher erfolgreich überstandenen Krebserkrankung anerkannt werde, nicht erhöhen. Nur die psychologische Belastung wegen grundsätzlich unheilbarer Erkrankungen und laufender Behandlung sowie Kontrolle der Blutkrebserkrankung habe zu einer eigenständigen MdE von 30 v.H. geführt. Eine Erhöhung des Rezidivrisikos bezüglich des Harnblasenkrebses sei hierdurch nicht verursacht worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 21. März 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das Urteil des SG für zutreffend und weist auf das Gutachten von Prof. Dr. med. L./Dr. med. T./Dr. med. U. vom 7. Oktober 1999 hin.
Das Gericht hat ein Gutachten nach Aktenlage von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. X. vom 5. Februar 2003 eingeholt. Zusammenfassend hat er ausgeführt, Anhaltspunkte dafür, dass bei dem Versicherten die Karzinomerkrankungen begleitende, seelische Auffälligkeiten vorgelegen hätten, die über das übliche Maß hinausgingen, fänden sich nicht. Hinweise auf außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen der Karzinomerkrankung (beispielsweise im Sinne einer Depression) seien den vorliegenden Akten nicht zu entnehmen. Die Stellungnahme von Dr. med. Dipl.-Chem. V. vom 18. Juli 2001 beziehe sich lediglich auf übliche psychische Begleiterscheinungen einer Karzinomerkrankung. Übliche seelische Begleiterscheinungen seien in den MdE-Tabellen für die einzelnen Grunderkrankungen bereits berücksichtigt. Die Annahme, dass der Versicherte infolge der Karzinomerkrankung einen Alkoholmissbrauch entwickelt habe, infolge dessen er im Rahmen einer Intoxikation am 29. November 1998 gestürzt sei und sich ein Schädel-Hirn-Trauma mit erheblichen psychischen Folgen zugezogen habe, lasse sich durch die Akte nicht belegen und wäre darüber hinaus konstruiert. - Zu diesem Gutachten haben beide Beteiligte ausführlich Stellung genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) einverstanden erklärt.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten (Az. BK 90/11965/9-1) beigezogen. Diese Akte und die Prozessakte (Az. L 16/12 U 27/02, S 18 U 199/01) sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 2 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§ 143 SGG). Sie ist auch begründet.
Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Klage abzuweisen. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes für die Zeit vom 1. August 1995 bis 27. Mai 1999 eine Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente der zahlen. Seit dem 1. August 1995 bedingte die Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV keine rentenberechtigende MdE mehr.
Da sich der Versicherte die Berufskrankheit bei einer Tätigkeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zuzog, bereits im Jahr 1953 in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelte und vor dem 1. Januar 1992 den Anspruch anmeldete, sind die Vorschriften des Fremdrentengesetzes (FRG) in der Fassung vor dem In-Kraft-Treten des Rentenüberleitungsgesetzes (RÜG) vom 26. Juli 1991 (BGBl.. I S. 1606) am 1. Januar 1992 anzuwenden. Nach § 7 Satz 1 FRG gelten für Voraussetzungen, Art, Höhe und Dauer der Leistungen die Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung, die anzuwenden wären, wenn sich der Unfall (die Berufskrankheit) dort, wo sich der Berechtigte im Geltungsbereich des FRG zurzeit der Anmeldung des Anspruchs gewöhnlich aufhält, ereignet hätte. Dabei ist im vorliegenden Fall die Reichsversicherungsordnung (RVO) und nicht das am 1. Januar 1997 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) anzuwenden, denn der Versicherungsfall ist vor dem 1. Januar 1997 (Juli 1990) eingetreten und die von der Klägerin begehrte Leistung (Verletztenrente) wäre - wenn die Voraussetzungen hierfür vorlägen - vor diesem Zeitpunkt festzusetzen gewesen, d. h. der Anspruch darauf wäre vor dem 1. Januar 1997 entstanden (§§ 212, 214 Abs. 3 SGB VII, § 40 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil -, SGB I).
Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 547 RVO) sind zu gewähren, wenn ein Versicherter einen Arbeitsunfall im Sinne der §§ 548 ff RVO erlitten hat. Nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall ferner eine Berufskrankheit. Für die Berufskrankheiten gelten die für Arbeitsunfälle maßgeblichen Vorschriften entsprechend (§ 551 Abs. RVO). Gemäß § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird eine Verletztenrente gezahlt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalles um wenigstens 1/5 gemindert ist. Ist die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle/ Berufskrankheiten gemindert und erreichen die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten Minderung zusammen wenigstens die Zahl Zwanzig, so ist für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall, Verletztenrente zu gewähren. Die Folgen eines Arbeitsunfalls/Berufskrankheit sind nur zu berücksichtigen, wenn Sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern (§ 581 Abs. 3 Sätze 1 und 2 RVO). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, denn die von der Beklagten anerkannte Berufskrankheit bedingte seit dem 1. August 1995 keine MdE um mindestens 10 v. H.
Zutreffend hat die Beklagte entschieden, dass auf urologischem Fachgebiet fünf Jahre nach Entfernung des Blasenkarzinoms - ohne Auftreten eines Rezidivs oder einer Folgeerkrankung - keine MdE mehr bestand. Dies folgt aus dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. R. vom 24. Mai 1995 und der Stellungnahme von Dr. med. Dipl.-Chem. V. vom 26. Mai 2000, die sich auf die herrschende medizinische Lehrmeinung stützen. Hierzu wird zudem Bezug genommen auf die Ausführungen in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, nunmehr 7. Auflage 2003, S. 1206, auf die die Beklagte - wenn auch ohne Angabe der zitierten Auflage und ohne Nennung der Seitenzahl - in ihrem Widerspruchsbescheid verwiesen und von denen sie eine Kopie der Klägerin übersandt hat. Demgegenüber sind die Gutachten von Prof. Dr. med. L./Dr. med. T./Dr. med. U. vom 24. August 1998 und 7. Oktober 1999, in denen eine höhere MdE und eine längere Zeitdauer einer rentenberechtigenden MdE angenommen worden sind, nicht überzeugend, denn sie entsprechen nicht der Beurteilungspraxis bei der Einschätzung der MdE für die Erkrankung an Blasenkrebs. Hierauf hat Dr. med. Dipl.-Chem. V. in seiner Stellungnahme vom 26. Mai 2000 überzeugend hingewiesen.
Entgegen der Auffassung des SG lässt sich ferner eine rentenberechtigende MdE über den 31. Juli 1995 hinaus nicht wegen psychischer Begleiterscheinungen der anerkannten Berufskrankheit begründen. Voraussetzung für diese Annahme wäre eine psychische Erkrankung mit einer Funktionseinschränkung, die eine MdE von mindestens 10 v. H. zur Folge hätte. Eine solche Situation lag bei dem Versicherten jedoch nicht vor. Hierzu hat das Gericht das Gutachten von Dr. med. X. vom 5. Februar 2003 eingeholt, der nach dem Studium des Inhalts der Verwaltungsakte keine Anhaltspunkte dafür gefunden hat, dass bei dem Versicherten seelische Auffälligkeiten bestanden, die über das übliche Maß, wie sie bei Versicherten mit Karzinomerkrankungen bestehen, hinausgingen. Insbesondere lassen sich Hinweise darauf, dass er an einer Depression litt, nicht finden. Dr. med. X. hat nachvollziehbar dargelegt, eine über das Ausmaß einer - als "üblich" anzusehenden - Anpassungsstörung hinausgehende psychische Störung wäre den Behandlern und Untersuchern, auch wenn sie Nicht-Psychiater seien, wohl nicht entgangen. Die noch zu Lebzeiten des Versicherten erstellten medizinischen Gutachten und Berichte lassen jedenfalls Hinweise auf eine wesentliche psychische Störung, die mit einer MdE von mindestens 10 v. H. zu bewerten wäre, nicht erkennen.
Dr. med. X. hat sich ferner mit der Stellungnahme von Dr. med. Dipl.-Chem. V. vom 18. Juli 2000 auseinander gesetzt, in der dieser eine MdE in Höhe von 20 v. H. seit dem 1. August 1995 angenommen hat. Er hat überzeugend ausgeführt, Dr. med. Dipl.-Chem. V. bewerte lediglich übliche psychische Begleiterscheinungen einer Karzinomerkrankung. Zudem hat Dr. med. Dipl.-Chem. V. selbst in seiner Stellungnahme eingeräumt, dass sich aus den Gutachten keine Hinweise auf eine psychische Belastungsreaktion ergäben. Aus diesen Gründen ist seine Stellungnahme nicht geeignet, eine MdE von 20 v. H. seit dem 1. August 1995 zu begründen.
Nach allem ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Klage ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, und der Senat weicht nicht von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts ab.