Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.06.2003, Az.: L 1 RA 223/02
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund eines Hüftleidens; Erwerbsfähigkeit aufgrund vorhandenem Restleistungsvermögen; Mehrstufenschema des Bundessozialgerichtes; Soziale Zumutbarkeit einer Verweisung auf eine Tätigkeit als Kassiererin
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 25.06.2003
- Aktenzeichen
- L 1 RA 223/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20010
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0625.L1RA223.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 22.08.2002 - AZ: S 1 RA 176/00
Rechtsgrundlagen
- § 43 SGB VI
- § 44 SGB VI
- § 240 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Als gelernte Verkäuferin ist eine Verweisung auf eine Tätigkeit als Kassiererin an Sammelkassen sozial zumutbar.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin über den 31. Januar 2000 hinaus Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat.
Die im Juni 1966 geborene Klägerin ist vom 1. August 1982 bis zum 21. Februar 1984 zur Schuhverkäuferin ausgebildet worden und war im Anschluss daran bis 1991 im erlernten Beruf tätig. Danach widmete sie sich der Erziehung ihrer beiden 1992 und 1995 geborenen Kinder.
Im April 1997 stellte die Klägerin einen Antrag auf Versichertenrente wegen eines Hüftleidens (so genannte schnappende Hüfte). Nach Beiziehung zahlreicher Arztbriefe und Befundberichte sowie einer fachorthopädischen Untersuchung gewährte die Beklagte der Klägerin eine Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Dezember 1997 bis 31. Januar 1999. Auf den Weitergewährungsantrag der Klägerin hin verlängerte die Beklagte diese Rente bis zum 31. Januar 2000, um während dieser Zeit weitere medizinische Sachaufklärung zu betreiben. Sie ließ die Klägerin zunächst durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. I. untersuchen und begutachten, der in seinem Gutachten vom 5. Januar 1999 keine zusätzlichen neurologischen Gesundheitsstörungen feststellte, aber auf Grund der von orthopädischer Seite diagnostizierten Degenerationen der lumbalen Intervertebralscheiben, Chondropathia patella mit Subluxation, Coxa saltans beidseits, Periarthropathia humero-scapularis zu dem Ergebnis kam, dass die Klägerin höchstens stundenweise leichte Arbeit verrichten könne. Ein Einsatz im erlernten Beruf sei nicht mehr möglich. Die Beklagte veranlasste eine weitere Untersuchung und Begutachtung durch den Neurologen und Psychiater Dr. J ... Dieser Sachverständige stellte auf seinem Fachgebiet ein vertebragenes Schmerzsyndrom im LWS-Bereich fest und äußerte den Verdacht, dass ein Migräneanfall mit Aura stattgefunden habe. Weiter führte er aus, dass keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen eines somatoformen Schmerzsyndroms oder einer psychogenen oder psychosomatischen Ausgestaltung organischer Syndrome vorliege. Eine Einschränkung des Leistungsvermögens könne nur von orthopädischer Seite aus festgestellt werden. Die Beklagte veranlasste daraufhin ein Untersuchungsgutachten des Orthopäden K. vom 25. Januar 2000. Darin führte der Gutachter aus, dass bei der Klägerin eine Coxa saltans rechts, ein Zustand nach zweimaliger Operation, ein Cervi-cobrachialsyndrom und eine Chondropathia patellae vorlägen, die es nicht mehr zuließen, dass die Klägerin als Verkäuferin arbeite. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien noch leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen und in geschlossenen Räumen ohne Zwangshaltungen und Überkopfarbeiten möglich. Sie könnten jedoch nicht mehr vollschichtig, sondern nur noch unterhalbschichtig geleistet werden. Nachdem der beratungsärztliche Dienst der Beklagten zu dem Ergebnis gekommen war, dass die von dem orthopädischen Sachverständigen angenommene zeitliche Leistungseinschränkung nicht schlüssig begründet worden sei, die erhobenen Befunde vielmehr den Schluss auf ein vollschichtiges Leistungsvermögen zuließen, lehnte die Beklagte eine Weitergewährung der Rente mit Bescheid vom 28. Februar 2000 ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos.
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 22. September 2000 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben und geltend gemacht, die bei ihr bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien nicht vollständig festgestellt und die dadurch bedingten Einschränkungen des Leistungsvermögens nicht in ihrem ganzen Ausmaß berücksichtigt worden. Sie sei keinesfalls mehr in der Lage, berufstätig zu sein. Das SG hat zahlreiche medizinischen Unterlagen der behandelnden Ärzte zu den Akten genommen, Röntgenbilder beigezogen und die Klägerin dann durch den Orthopäden und Chirurgen Dr. L. untersuchen und begutachten lassen. Nachdem dieser Sachverständige in seinem Gutachten vom 4. September 2001 zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Klägerin zwar an Restbeschwerden nach zweimaliger Operation einer schnappenden Hüfte rechts mit Bewegungsschmerz leide und sie an beginnenden Umbauvorgängen der Halswirbelsäule sowie wiederkehrenden Gelenkbeschwerden anhand- und Kniegelenken leide, aber dennoch in der Lage sei, leichtere bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten ohne längeres Stehen oder Gehen vollschichtig zu verrichten, hat das SG die Klage mit Urteil vom 22. August 2002 abgewiesen. In den Gründen hat es im Einzelnen ausgeführt, dass die Leistungsbeurteilung des vom Gericht beauftragten Sachverständigen überzeugend sei. Mit einem vollschichtigen Leistungsvermögen sei die Klägerin jedoch nicht erwerbsunfähig. Sie sei aber auch nicht berufsunfähig, selbst wenn sie ihren bisherigen Beruf als Verkäuferin nicht mehr ausüben könne. Denn sie müsse sich auf sozial zumutbare Tätigkeiten verweisen lassen. Dazu zählten Arbeiten im angelernten Bereich, wie die Tätigkeiten einer kaufmännischen Angestellten oder Verwaltungsangestellten bei Behörden oder in der Wirtschaft.
Gegen das ihr am 20. September 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 21. Oktober 2002 (Montag) eingegangene Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Sie vertritt die Auffassung, dass die Leistungsbeurteilung durch das SG unzutreffend sei, weil dabei die Schwere der bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen nicht berücksichtigt worden sei. Es sei keine Besserung ihres Gesundheitszustandes eingetreten, sondern eine weitere Verschlechterung. Im Übrigen bestehe bei ihr mindestens Berufsunfähigkeit, da sie ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben könne und zumutbare Verweisungstätigkeiten nicht ersichtlich seien. Die vom SG genannten Arbeiten könne sie mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen nicht verrichten.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 22. August 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 28. Februar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2000 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin über den 31. Januar 2000 hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil und ihre Bescheide für zutreffend. Es liege bei der Klägerin ein vollschichtiges Leistungsvermögen vor, sodass eine Erwerbsunfähigkeitsrente nicht in Betracht komme. Sie könne aber auch eine Berufsunfähigkeitsrente nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Recht nicht beanspruchen, da sie zumutbare Verweisungstätigkeiten auszuüben vermöge. Nach neuem Recht bestehe ein solcher Anspruch ohnehin nicht mehr, da der Gesetzgeber eine derartige Rente für den Jahrgang der Klägerin nicht mehr vorsehe.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Orthopäden und Rheumatologen Dr. M. vom 4. März 2003. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das vorgenannte Gutachten Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird auf die Prozess- und Beiakten verwiesen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 143 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig.
Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Das Urteil und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, und zwar weder auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU)/Berufsunfähigkeit (BU) nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Recht (§§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch -SGB VI - a.F.) noch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem seit dem 1. Januar 2001 geltenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI n.F.). Das SG hat in seinem Urteil die hier maßgeblichen Rechtsgrundlagen des alten Rechts geprüft und rechtsfehlerfrei angewendet und auch den medizinischen Sachverhalt aufgeklärt und nachvollziehbar gewürdigt. Nach allem ist es zu der richtigen Entscheidung gekommen, dass der Klägerin eine Versichertenrente nicht zugesprochen werden kann. Es wird deshalb zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Urteils vom 22. August 2002 Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG). Das Ergebnis ist auch unter Geltung des neuen Rechts zutreffend, das noch höhere Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Rente stellt. Zutreffend weist die Beklagten darauf hin, dass die Klägerin danach ohnehin einen Anspruch gemäß § 240 SGB VI schon deshalb nicht mehr hat, weil der Gesetzgeber für den Geburtsjahrgang der Klägerin eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht mehr vorsieht.
Im Berufungsverfahren sind neue Gesichtspunkte nicht zu Tage getreten. Insbesondere haben sich in medizinischer Hinsicht keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das der Klägerin verbliebene Leistungsvermögen durch das im Verlaufe des erstinstanzlichen Verfahrens von Amts wegen eingeholte orthopädische Gutachten nicht richtig beurteilt worden ist. Vielmehr sind die in dem Gutachten Dr. L. vom 4. September 2001 erhobenen Befunde ebenso wie die gestellten Diagnosen durch das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten des Orthopäden Dr. M. bestätigt worden. Auch dieser Sachverständige hat Hüftgelenksbeschwerden bei wiederkehrendem Hüftschnappen und vorausgegangener zweimaliger Operation einer schnappenden Hüfte, ein schmerzhaftes Halswirbelsäulen-Schulterarmsyndrom und rechtsseitige Kniebeschwerden bei beginnenden degenerativen Veränderungen sowie einem Zustand nach einer operativ behandelten traumatischen Kniescheibenverrenkung festgestellt. Insbesondere auf Grund der Veränderungen im Bereich der Hüftgelenke ist der Klägerin zuzugeben, dass erhebliche Schmerzen und Beschwerden auftreten können, insbesondere bei gleichzeitiger Anspannung der Muskulatur des Beines und Verdrehung des Beines. Beschwerden treten auch von Seiten des rechten Kniegelenkes überwiegend bei Beugestellungen auf, sodass der Klägerin diese Belastungen nicht mehr zugemutet werden können. Auch die Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule beeinträchtigen das Leistungsvermögen der Klägerin. Denn die dort festgestellten Veränderungen verursachen Beschwerden, die sich vor allem bei Stressbelastungen und längeren körperlichen Zwangshaltungen verstärken. Weitere erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen, insbesondere Störungen auf neurologischem Gebiet, aber haben sich weder bei der Untersuchung durch Dr. L. noch durch Dr. M. ergeben. Dementsprechend überzeugt die Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin durch die Sachverständigen, die übereinstimmend zu dem Ergebnis kommen, dass die Klägerin noch leichte, gelegentlich auch mittelschwere körperliche Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten unter Schutz vor Nässe und Kälte verrichten kann. Zu vermeiden sind dabei Zwangshaltungen, Arbeiten im Knien und Hocken oder Stressbelastungen. Mit diesem Restleistungsvermögen ist die Klägerin nicht erwerbsunfähig. Es besteht aber auch keine Berufsunfähigkeit. Zutreffend hat das SG schon ausgeführt, dass die Klägerin, selbst wenn man ihr bei einer 1 1/2-jährigen Ausbildung den vollen Berufsschutz als Verkäuferin zubilligt, sich im Rahmen des vom BSG entwickelten Mehrstufenschemas auf zumutbare Tätigkeiten verweisen lassen muss. Der Senat folgt auch insoweit dem SG und führt ergänzend unter Hinweis auf seine ständige, vom BSG (BSGE 78, 207 ff) gebilligte Rechtsprechung aus, dass sich die Klägerin als gelernte Verkäuferin auf die ihr sozial zumutbare Tätigkeit einer Kassiererin an Sammelkassen verweisen lassen muss. Bei dieser Beschäftigung handelt es sich um leichte Arbeiten, die in wechselnder Körperhaltung in geheizten Räumen verrichtet werden. Auch den übrigen von den Sachverständigen für notwendig erachteten qualitativen Einschränkungen wird Rechnung getragen. Denn diese Tätigkeit beinhaltet vor allem das Kassieren, Geld wechseln, das Ausstellen von Rechnungen und Quittungen, die Behandlung von Warenrückgaben und das Verpacken und Ausgeben von Waren sowie die Erteilung von Informationen an die Kunden (vgl. hierzu die Entscheidung des Senats vom 22. August 2002 - Az: L 1 RA 242/00). Diesem Tätigkeitsfeld entspricht das der Klägerin verbliebene Leistungsvermögen. Dass der Klägerin nach neuem Recht eine Berufsunfähigkeitsrente nicht mehr zugesprochen werden kann, ist bereits ausgeführt worden und bedarf keiner weiteren Begründung.
Die Berufung konnte nach allem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen.