Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 13.06.2003, Az.: L 5 SB 156/02
Anspruch auf Neufeststellung des Grades einer Behinderung und Zuerkennung des Merkzeichens "G"; Rechtsqualität der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz; Beurteilung der Höhe des Grades einer Behinderung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 13.06.2003
- Aktenzeichen
- L 5 SB 156/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21032
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0613.L5SB156.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - AZ: S 3 SB 8/01
Rechtsgrundlagen
- § 143 SGG
- § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X
- § 2 SGB IX
- § 69 SGB IX
- § 30 Abs. 1 BVG
- § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Der Grad einer Behinderung ist als Ausmaß der Behinderung unter Heranziehung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz festzustellen. Hierbei handelt es sich um so genannte antizipierte Sachverständigengutachten, die normähnliche Wirkungen haben und die aus Gründen einer gleichmäßigen Rechtsanwendung von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden sind.
- 2.
Für die Ablehnung des Merkzeichens "G" gilt nicht § 48 SGB X, weil die Ablehnung keine Wirkung für die Zukunft, mithin keine Dauerwirkung hat.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) in Höhe von mindestens 50 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Bei dem im Jahre 1940 geborenen Kläger war seit Dezember 1998 ein GdB in Höhe von 30 festgestellt (Bescheid vom 17. Mai 1999). Auf der Grundlage des Arztbriefes Dr. I. vom 10. März 1999 wurde der GdB auf folgende Funktionsbeeinträchtigung gestützt:
...Wirbelsäulenveränderungen mit Nervenwurzelreizerscheinungen bei Bandscheibenvorfall".
Die Feststellung von Merkzeichen wurde abgelehnt.
Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb unter Berücksichtigung des Arztbriefes der Dr. J. vom 22. Juni 1999 und nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. K. vom 14. Juli 1999 erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. August 1999).
Am 16. März 2000 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag. Nach Vorlage der ärztlichen Bescheinigung des Dr. L. vom 17. März 2000 bzw. vom 18. September 2000, des Befundberichtes des Allgemeinen Krankenhauses M. vom 31. März 2000, des Befundberichtes des Dr. N., eingegangen am 26. Mai 2000 und nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme der Dr. O. vom 4. August 2000 wurde der Verschlimmerungsantrag abgelehnt (Bescheid vom 26. September 2000). Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb unter Berücksichtigung des Befundberichtes des Dr. P. vom 12. Oktober 2000, des Arztes Q. vom 6. November 2000 und einer gutachterlichen Stellungnahme des Dr. K. vom 14. November 2000 erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 2001).
Der Kläger hat hiergegen am 24. Januar 2001 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben. Er hat weiterhin vorgetragen, dass ihm ein GdB in Höhe von 50 und das Merkzeichen "G" zustehe. Dies hat er mit einer Verschlimmerung seines Wirbelsäulenleidens, dadurch bedingten chronischen Schmerzen und mit den Folgen einer Unterleibs-Operation begründet. Hierfür hat er sich auf die ärztliche Stellungnahme des behandelnden Arztes Q. vom 20. März 2001 berufen.
Das SG Lüneburg hat die Klage durch Gerichtsbescheid am 02. September 2002 abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass im Vergleich zum Bescheid vom 17. Mai 1999 keine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers vorläge, die eine Neufeststellung rechtfertige. Hierfür hat es sich auf die gutachterlichen Stellungnahmen des Beklagten vom 5. September 2001, 6. November 2001 und 25. April 2002 bezogen. Ferner hat es sich auf die mündliche Stellungnahme des gerichtlichen Sachverständigen im parallel vor dem SG Lüneburg geführten Rechtsstreit zum Az: S 4 RJ 51/00 bezogen.
Hiergegen richtet sich die am 2. Oktober 2002 eingelegte Berufung. Der Kläger meint weiterhin, dass ihm ein höherer GdB schon allein auf Grund der erheblichen Funktionsdefizite im orthopädischen Bereich zustehe. Hierfür beruft er sich erneut auf die ärztliche Stellungnahme des behandelnden Arztes Q. vom 20. März 2001. Darüber hinaus sei er jetzt auch durch ein Blasenleiden beeinträchtigt. Im Übrigen beruft er sich auf das durch die Landesversicherungsanstalt (LVA) Hannover erstattete sozialmedizinische Gutachten der Dr. R. vom 9. September 2002. Diesem Gutachten seien hochgradige Funktionseinschränkungen im Lendenwirbelsäulenbereich, Beeinträchtigungen im Bereich der Gliedmaßen und Nervenwurzelreizerscheinungen mit neurologischen Ausfallerscheinungen zu entnehmen. Eine psychische Beeinträchtigung liege auch auf Grund des chronischen Schmerzzustandes vor. Eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes habe sich eingestellt. Nach Einholung von Befundberichten des Arztes Q. vom 7. Januar 2003, der Dres. S. vom 31. Januar 2003 nebst Arztbriefen aus den Jahren 1999 und 2000, des Dr. T. vom 6. März 2003 und der Dres. U. vom 13. März 2003 erkennt der Beklagte mit dem vom Kläger am 9. Mai 2003 angenommenen Teil-Anerkenntnis vom 9. April 2003 den GdB in Höhe von 40 ab September 2002 an. Zusätzlich ist jetzt eine somatoforme Schmerzstörung in Höhe von 20 anerkannt.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des SG Lüneburg vom 2. September 2002 und den Bescheid vom 26. September 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Januar 2001 aufzuheben,
- 2.
den Beklagten zu verurteilen, über das Teil-Anerkenntnis vom 9. April 2003 hinaus den GdB i.H.v. mindestens 50 festzustellen und das Merkzeichen "G" anzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er beruft sich auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. V. vom 31. März 2003 und hält den angefochtenen Gerichtsbescheid im Übrigen für zutreffend.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffende Prozessakte des SG Lüneburg zum Az. S 4 RJ 51/00 und die Schwerbehinderten-Akte des Versorgungsamtes Hannover (Az: W.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung und Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist nicht begründet. Das vom Kläger angenommene Teil-Anerkenntnis des Beklagten vom 9. April 2003 hat die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers mit einem GdB i.H.v. 40 insgesamt zutreffend bewertet.
Der Kläger kann eine Neufeststellung des GdB i.H.v. 50 und die Zuerkennung des Merkzeichens ...G" darüber hinaus nicht beanspruchen. Anhaltspunkte für eine solche wesentliche Änderung des GdB im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) im Vergleich zu den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 17. Mai 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 1999 zu Grunde gelegen haben, sind nicht ersichtlich. Dies hat der Beklagte durch die ärztliche Stellungnahme des Dr. V. vom 31. März 2003 zutreffend dargelegt.
Für die Feststellung einer Behinderung sind §§ 2, 69 des mit Wirkung vom 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuchs - Neuntes Buch - (SGB IX) anzuwenden, das das Schwerbehindertengesetz zum selben Zeitpunkt abgelöst hat. Eine im Vergleich zum alten Recht unterschiedliche Feststellungspraxis des Grades der Behinderung ergibt sich dadurch im vorliegenden Fall nicht (vgl. zur Problematik BSG, Urteil vom 7. November 2001 - B 9 SB 1/01 R, VersorgVerw 2002, 26).
Der GdB ist als Ausmaß der Behinderung unter Heranziehung der ...Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1996 festzustellen. Bei den AHP handelt es sich um so genannte ...antizipierte Sachverständigengutachten", die normähnliche Wirkungen haben und die aus Gründen einer gleichmäßigen Rechtsanwendung von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden sind. Es handelt sich hierbei um ein ...geschlossenes Beurteilungsgefüge", das dem aktuellen Stand der sozial-medizinischen Wissenschaft entspricht und daher durch Einzelfallgutachten hinsichtlich der generellen Richtigkeit nicht widerlegt werden kann (vgl. BSGE 72, 285; 75, 176 m.w.N.).
Die Auswirkungen der Beeinträchtigungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Die im Rahmen des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend (§ 69 Abs. 1 Sätze 3 und 4 SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).
Mit dem zweitinstanzlichen Teil-Anerkenntnis, namentlich ab September 2002 einen GdB in Höhe von 40 festzustellen, hat der Beklagte den verbindlichen Vorgaben der Maßstäbe der AHP Rechnung getragen. Die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers werden maßgeblich durch ein Wirbelsäulenleiden bedingt. Es liegen schwere Verschleißerscheinungen der Lendenwirbelsäule vor. Diese verursachen Nervenwurzelreizerscheinungen mit Nervenschädigungen des rechten Beines und eine dadurch bedingte eingeschränkte Fußhebung und Fußsenkung. Diese Befunde ergeben sich aus dem im Auftrage der LVA Hannover erstatteten ausführlichen ärztlichen Bericht der Dr. R. vom 3. September 2002. Dieser Befund rechtfertigt eine Bewertung des Einzel-GdB in Höhe von 30. Entsprechend den AHP (S. 140) werden schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt - wie hier dem Lendenwirbelsäulenbereich - in dieser Höhe bewertet. Davon umfasst sind auch die beim Kläger vorliegenden anhaltenden Bewegungseinschränkungen im Bereich der Beine und die häufigen anhaltenden ausgeprägten Wirbelsäulensyndrome. Das mit dem Wirbelsäulenleiden einhergehende chronische Schmerzsyndrom ist zusätzlich mit einem Einzel-GdB in Höhe von 20 zutreffend bewertet worden. Nach den AHP (S. 60) sind leichtere psychische Störungen mit einem Einzel-GdB in Höhe von bis zu 20 zu bewerten. Diese Einschätzung entspricht den durch Dr. R. erhobenen Befunden. Teilweise konnten die subjektiv vorgetragenen Beschwerden aus ärztlicher Sicht nicht objektiviert werden.
Wegen der hinzugetretenen somatoformen Schmerzstörung ist der Gesamt-GdB zu Recht auf 40 erhöht worden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen die einzelnen Werte nicht etwa addiert werden dürfen. Die Auswirkungen des Wirbelsäulenleidens und der Schmerzsymptomatik bedingen sich gegenseitig, sodass die Gesamtauswirkungen mit 40 insgesamt zutreffend bewertet sind. Aus den im Berufungsverfahren eingeholten Befundberichten des Arztes Q. vom 7. Januar 2003, der Dres. S. vom 31. Januar 2003 und der Dres. U. vom 13. März 2003 folgt nichts anderes. Sie haben im Wesentlichen gleich bleibende Befunde hinsichtlich der Wirbelsäulenproblematik bestätigt.
Auch der im Berufungsverfahren eingeholte Befundbericht des Urologen Dr. T. vom 6. März 2003 führt zu keinem anderen Ergebnis. Hier ist eine chronische Blasenentleerungsstörung mit minimalen Restharnmengen festgestellt worden, die sich unterhalb der Toleranzgrenze befinden und deshalb nicht therapiebedürftig sind. Leichte Blasenentleerungsstörungen werden nach den AHP mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet (S. 109). Leichte Gesundheitsstörungen führen nicht zu einer Erhöhung des Gesamt- GdB (AHP S. 35). Die Folgen der im März 2000 durchgeführten Darmoperation rechtfertigen ebenfalls nicht eine Erhöhung des Gesamt-GdB. Verblieben sind allenfalls leichtere Funktionsstörungen, die mit einem Einzel-GdB in Höhe von 10 zutreffend bewertet sind. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger auf Grund dieser Gesundheitsstörung zurzeit in ärztlicher Behandlung ist. Im ärztlichen Bericht der Dr. R. vom September 2002 ist lediglich noch eine Narbe als Folge der Operation festgehalten.
Da der Kläger nicht den Status eines Schwerbehinderten hat, kommt die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, zu denen auch das Merkzeichen ...G" zählt, nicht in Betracht (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Anders als der Beklagte meint, gilt für die Ablehnung des beantragten Merkzeichens ...G" nicht § 48 SGB X, weil die Ablehnung keine Wirkung für die Zukunft, mithin keine Dauerwirkung hat (vgl. BSG SozR 3-1500 § 153 Nr. 8). Im Übrigen liegen bei dem Kläger auch nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "G" vor. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Diese Voraussetzungen lassen sich bei dem Kläger auch ungeachtet des fehlenden Schwerbehinderten-Status nicht feststellen. Der Kläger leidet nicht an Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen oder an der Lendenwirbelsäule, die für sich allein einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Er leidet auch nicht an Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, wie es z.B. bei der Versteifung von Hüft-, Knie- oder Fußgelenken in ungünstiger Stellung oder auch bei arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 gerechtfertigt wäre. Die bei dem Kläger vorliegenden anderen leichten Gesundheitsstörungen erlauben ebenfalls nicht, auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr zu schließen (vgl. AHP S. 164 ff.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Der Beklagte hat den im zweitinstanzlichen Verfahren eingeholten ärztlichen Berichten mit dem Teil-Anerkenntnis vom 9. April 2003 unverzüglich Rechnung getragen. Hierfür ist er nicht mit Kosten zu belasten.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.