Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 03.06.2003, Az.: L 6 U 244/02

Anspruch auf Verletztengeld und Verletztenrente; Anspruch auf Zahlung einer Stützrente; Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Arbeitsunfälle

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
03.06.2003
Aktenzeichen
L 6 U 244/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 20982
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0603.L6U244.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 25.04.2002 - AZ: S 36 U 209/99

Redaktioneller Leitsatz

Eine Verletztenrente wird gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens 1/5 gemindert ist. Sofern die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge eines anderen Arbeitsunfalls um mindestens 10 v.H. gemindert ist, führt auch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 v.H. zur Zahlung einer so genannten Stützrente.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 25. April 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

I.

Der Kläger begehrt ab 1. Januar 1998 Verletztengeld und/oder Verletztenrente.

2

Der 1945 geborene Kläger erhält von der Bau-Berufsgenossenschaft auf Grund eines Unfalls aus dem Jahr 1984 Verletztenrente in Höhe von 30 v.H. der Vollrente.

3

Am 25. Juni 1996 rutschte er beim Absteigen vom Lkw aus und fiel auf den ausgestreckten linken Arm. Dabei erlitt er eine Kahnbeinfraktur, eine Speichenköpfchenimpressionsfraktur und eine Speichenfraktur, die konservativ behandelt wurden. Am 7. Oktober 1996 stellte er sich wegen Schmerzen im Daumenballenbereich und am Handrücken links sowie Taubheit der Finger 1 bis 3 links bei Schwäche der linken Hand bei Dr. C. vor. Nach dessen Beurteilung sprengt das Ausmaß der Sensibilitätsstörungen den Rahmen einer Medianusschädigung. Am 11. März 1997 erfolgte im D. eine Carpaltunnelspaltung links (Bericht Prof. Dr. E. vom 2. April 1997). Auch anschließend gab der Kläger an, kein Gefühl im Medianusversorgungsgebiet der linken Hand und Schmerzen am Handgelenk ellenseitig zu haben. Nach dem Bericht von Dres. F. vom 7. Mai 1997 hatte sich der Nervus medianus links wieder erholt. Es bestehe eine deutliche Diskrepanz zwischen dem klinischen und dem elektroneuro- und -myografischen Befund (Bericht Dr. G. vom 1. August 1997). Am 22. August 1997 wurde eine zweite Carpaltunneloperation (Neurolyse und Resektion des Narbengewebes) durchgeführt (Bericht Prof. Dr. H. vom 29. August 1997). Am 15. September 1997 gab der Kläger bei der Untersuchung durch Dres. F. an, es habe sich keine Verbesserung der Kraft oder des Gefühls in der linken Hand eingestellt, und er habe seit der Operation ein Taubheitsgefühl der Finger 4 und 5 linksseitig sowie Schmerzen im Bereich des Handgelenkes ulnar. Am 28. Oktober 1997 wurde der Kläger von Dr. I. untersucht. Nach deren Befundbericht vom 30. Oktober 1997 ergaben sich bei der neurologischen Untersuchung keine Hinweise für hauttrophische Störungen im Bereich der linken Hand. Bei der Prüfung der groben Kraft fanden sich Paresen für die Handgelenks- und Fingermuskulatur, ohne dass diese sicher radikulär oder einem peripheren Nerven zuzuordnen waren. Die klinische Symptomatik ist nach der Beurteilung der Gutachter nicht mit einer Schädigung des Nervus medianus oder des Nervus ulnaris vereinbar.

4

Mit Bescheid vom 16. Dezember 1997 stellte die Beklagte die Zahlung des Verletztengeldes ein. Außerdem holte sie das Gutachten von Dr. J. vom 4. Januar 1998 mit ergänzendem Bericht des Arztes für Neurologie und Psychiatrie K. vom 30. Dezember 1997 ein. Nach der Beurteilung der Gutachter sind die Beschwerden des Klägers durch die Untersuchungsbefunde nicht zu erklären, die Parese sämtlicher Handfunktionen sei im Sinne einer Tendenzreaktion und Aggravation zu werten.

5

Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte das Gutachten von Prof. Dr. L. vom 21. Juli 1998 nebst neurologischer Stellungnahme von Dres. F. vom 12. Juni 1998 ein. Nach den Ausführungen der Gutachter lassen sich weder auf Grund der klinischen noch der neurologischen und der röntgenologischen Untersuchung Hinweise für die Ursache der angegebenen Beschwerden finden.

6

Mit Bescheid vom 9. Dezember 1998 lehnte die Beklagte die Zahlung von Verletztenrente ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 1999 wies sie den Widerspruch gegen diesen Bescheid und den Bescheid vom 16. Dezember 1997 über die Einstellung der Verletztengeldzahlung zurück.

7

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hannover hat das SG das Gutachten von Dr. M. vom 2. Februar 2001 eingeholt. Bei der Untersuchung gab der Kläger an, weder Finger noch Handgelenk der linken Hand bewegen zu können. Nach der Beurteilung des Sachverständigen kann die Schmerzsymptomatik durch die objektivierten und nachgewiesenen Unfallfolgen nicht erklärt werden. Das posttraumatische Carpaltunnelsyndrom sei operiert worden, eine deutliche Verbesserung der Nervenfunktionen sei nachgewiesen worden. Eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit sei nur bis zum 31. Oktober 1997 anzunehmen, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit liege nicht vor.

8

Das SG hat sich den Beurteilungen von Dr. N. angeschlossen und die Klage mit Urteil vom 25. April 2002 abgewiesen.

9

Gegen dieses am 16. Mai 2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am selben Tag Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

10

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des SG Hannover vom 25. April 2002 und die Bescheide der Beklagten vom 16. Dezember 1997 und 9. Dezember 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Mai 1999 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. Januar 1998 Verletztengeld und/oder Verletztenrente zu zahlen.

11

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung des Klägers das Urteil des SG Hannover vom 25. April 2002 zurückzuweisen.

12

Die Beteiligten sind mit Verfügung der Berichterstatterin vom 7. April 2003 darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

Gründe

14

II.

Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG).

15

Das SG und die Beklagte haben zu Recht Ansprüche des Klägers auf Verletztengeld oder Verletztenrente ab dem 1. Januar 1998 verneint.

16

Das Begehren des Klägers richtet sich auch nach Eingliederung des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (SGB) zum 1. Januar 1997 nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das ergibt sich aus der Übergangsregelung in § 212 SGB VII, wonach auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1997 eingetreten sind, das alte Recht (§§ 548, 580, 581 RVO) anzuwenden ist.

17

Gemäß § 560 Abs. 1 Satz 1 RVO wird Verletztengeld gezahlt, solange der Versicherte infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig ist. Gemäß § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird Verletztenrente gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens 1/5 gemindert ist. Sofern die MdE des Versicherten - wie hier - infolge eines anderen Arbeitsunfalls um mindestens 10 v.H. gemindert ist, führt auch eine MdE von mindestens 10 v.H. zur Zahlung einer so genannten Stützrente (§ 581 Abs. 3 RVO). Die Voraussetzungen der genannten gesetzlichen Bestimmungen sind hier nicht erfüllt, denn seit dem 1. Januar 1998 lassen sich keine Folgen des Arbeitsunfalls vom 25. Juni 1996 feststellen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit des Klägers oder zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 v.H. führen könnten. Zu dieser Beurteilung kommt der Senat nach Auswertung der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Gutachten und weiteren ärztlichen Berichten:

  • Bei dem Sturz hat der Kläger eine Fraktur des linken Kahnbeins, eine Speichenfraktur links und eine Impressionsfraktur des linken Speichenköpfchens erlitten. Diese Frakturen sind nach der Beurteilung sämtlicher Ärzte knöchern fest verheilt.
  • Die über den 31. Dezember 1997 hinaus angegebene Schmerzsymptomatik bzw. die jetzt im Vordergrund stehende Lähmung der linken Hand lassen sich auch nicht auf eine unfallbedingte Verletzung nervaler Strukturen zurückführen.

18

Es bestehen schon Zweifel, ob diese Symptomatik tatsächlich in dem vom Kläger angegebenen Ausmaß vorliegt. Dagegen spricht, dass der Kläger bei der Untersuchung durch Prof. Dr. O. am 28. November 1997 in der Lage war, mit geschlossenen Augen mit einem Kugelschreiber einen Kreis und ein Rechteck zu zeichnen und bei der Aufnahmeuntersuchung durch Dr. P. am 5. November 1997 die Zeigeversuche sicher ohne Hinweise auf eine sensible Ataxie durchführte. Beides sind eindeutige Zeichen dafür, dass die Sensibilität vorhanden ist (Berichte Prof. Dr. Q. vom 1. Dezember 1997; Bericht Dr. R. vom 5. Januar 1998). Zweifel an der angegebenen Schmerzsymptomatik und einer Lähmung der linken Hand bestehen außerdem, weil sich röntgenologisch kein Hinweis für eine Inaktivitätsosteoporose findet (Gutachten Dr. S.) und die linke Hand passiv - ohne Anzeichen für eine durch Inaktivität bedingte Gelenksteifigkeit - vollkommen frei beweglich ist (Gutachten Prof. Dr. L.).

19

Dies kann jedoch dahinstehen, denn Dr. M. hat deutlich gemacht, dass diese Symptomatik jedenfalls durch die objektivierten und nachgewiesenen Unfallfolgen nicht zu erklären ist. Zwar ist im vorliegenden Fall - als typische Komplikation bei Speichenfrakturen - ein Carpaltunnelsyndrom aufgetreten. Ein Carpaltunnelsyndrom betrifft lediglich den Bereich des Nervus medianus, der gefühlsmäßig die Finger 1 bis 3 der Hand beugeseitig versorgt. Im vorliegenden Fall ist der Carpaltunnel operativ gespalten worden, im Anschluss daran ließ sich auch messtechnisch eine deutliche Verbesserung der Nervenfunktion nachweisen (Gutachten Dr. M., Bericht Dres. F. vom 7. Mai 1997).

20

Dagegen kann die jetzige Symptomatik nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. M. nicht einer einzelnen anatomischen Struktur zugeordnet werden, sondern betrifft alle drei den Unterarm versorgenden Nerven. Eine Schädigung weiterer Nerven durch den Unfall ist jedoch nicht nachgewiesen. Die Beurteilung des Sachverständigen stimmt überein mit den Bewertungen durch Dr. T ... Entgegen der Ansicht des Klägers ist auch dem Befund- und Behandlungsbericht von Prof. Dr. U. vom 29. Januar 1998 keine Begründung für einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und den weiterhin angegebenen Beschwerden zu entnehmen.

21

Eine für den Kläger günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des für die LVA V. erstatteten Gutachtens von Dr. W. vom 24. September 1998, denn dieses zu einer anderen Fragestellung eingeholte Gutachten enthält keine Bewertung der Kausalität.

22

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.