Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.06.2003, Az.: L 10 SB 164/01
Voraussetzungen des Nachteilausgleichs einer erheblichen Gehbehinderung; Vorliegen eines höheren Grades der Behinderung; Berücksichtigung der AHP; Organisch bedingtes außergewöhnliches Schmerzsyndrom; Funktionsstörungen des Bewegungsapparates; Erhöhung des durch die psychischen Störungen bedingten GdB
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.06.2003
- Aktenzeichen
- L 10 SB 164/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21168
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0626.L10SB164.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 15.10.2001 - AZ: S 3 SB 207/99
Rechtsgrundlagen
- § 69 Abs. 1 SGB IX
- § 30 Abs. 1 BVG
- § 118 Abs. 1 SGG
- § 406 Abs. 1 ZPO
- § 42 ZPO
Redaktioneller Leitsatz
Die Verwertung eines Gutachtens ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Sachverständige gegenüber einer der Parteien befangen wäre. Die Ablehnung eines Sachverständigen kann dann erfolgen, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Davon ist nicht auszugehen, wenn der Sachverständige nur tatsächliche Beobachtungen mitteilt, deren Richtigkeit die Partei nicht bestreitet.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 15. Oktober 2001 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 50 und die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs der erheblichen Gehbehinderung (Merkzeichen "G") vorliegen.
Der 1961 geborene Kläger beantragte erstmals im März 1998 die Feststellung eines GdB und wies zur Begründung auf einen Wirbelsäulenschaden sowie eine Hepatitis B hin. Dem Antrag fügte er diverse medizinische Unterlagen bei. Mit Bescheid vom 18. August 1998 stellte der Beklagte bei dem Kläger einen GdB von 30 seit Antragstellung wegen der Funktionsstörung Restbeschwerden nach Bandscheibenoperation, Versteifungsoperation der Wirbelsäule und das Vorliegen einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest.
Mit dem dagegen erhobenen Widerspruch wies der Kläger auf das Bevorstehen einer erneuten Operation hin. Der Beklagte zog daraufhin einen Befundbericht sowie einen Operationsbericht bei und stellte mit Teilabhilfebescheid vom 12. Januar 2000 den GdB mit 40 ab Antragstellung fest. Als weitere Funktionsstörungen berücksichtigte er dabei seelische Störung und chronische Magenschleimhautentzündung.
Den weiter gehenden Widerspruch wies er mit Bescheid vom 5. November 1999 als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben und die Feststellung eines GdB von mindestens 50 und das Vorliegen der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs der erheblichen Gehbehinderung begehrt. Zur Begründung hat er ein Attest des behandelnden Arztes Dr. I. vorgelegt und darauf hingewiesen, die Hepatitis sei bei der Bildung des Gesamt-GdB ebenso wenig berücksichtigt wie der schwankende Blutdruck. Das SG hat den Kläger von Dr. J. auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet begutachten lassen. In dem unter dem 13. Januar 2001 erstatteten Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme vom 3. Juli 2001 hat der Sachverständige für die Zeit ab November 1999 einen Gesamt-GdB von 50 angenommen. Diesen hat er insbesondere damit begründet, dass die psychische Störung von diesem Zeitpunkt an stärker behindere und mit einem Teil-GdB von 40 zu bemessen sei. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" hat er jedoch nicht für gegeben angesehen. Hierzu hat er insbesondere darauf hingewiesen, dass er den Kläger mehrfach beim Gehen auf der K.-Straße in L. beobachtet habe.
Nachdem der Beklagte mit Bescheid vom 7. März 2000 den GdB ab November 1999 auf 50 festgestellt hatte, hat das SG die weiter gehende Klage mit Gerichtsbescheid vom 15. Oktober 2001 als unbegründet abgewiesen. Zur Überzeugung des Gerichts stehe fest, dass der Gesamt-GdB vor November 1999 nicht mehr als 40 und seit diesem Zeitpunkt nicht mehr als 50 betrage. Dass darüber hinaus die Voraussetzungen des streitigen Merkzeichens "G" nicht vorlägen, ergebe sich einerseits aus den Beobachtungen des Sachverständigen aber andererseits auch daraus, dass keine sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestünden, die für sich allein genommen einen GdB von wenigstens 50 bedingten.
Gegen den ihm am 18. Oktober 2001 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die am 14. November 2001 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers, mit der er die Feststellung eines höheren GdB sowie der Voraussetzungen des Merkzeichens "G" begehrt. Für das Wirbelsäulenleiden allein sei wegen eines außergewöhnlichen Schmerzsyndroms ein Einzel-GdB von 50 angemessen. Der Gesamt-GdB sei mit 70 anzusetzen. Er sei nicht in der Lage, eine Wegstrecke von etwa 2 km in einer halben Stunde zurückzulegen. Bereits nach wenigen Metern Gehstrecke sei er darauf angewiesen anzuhalten, um die dann auftretenden Schmerzen abklingen zu lassen.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 15. Oktober 2001 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 18. August 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 1999 und der weiteren Bescheide vom 12. Januar 2000 und 7. März 2000 abzuändern,
- 2.
bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von mehr als 50 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs der erheblichen Gehbehinderung (Merkzeichen "G") seit März 1998 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 15. Oktober 2001 zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes Hannover Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat zu Recht festgestellt, dass dem Kläger vor November 1999 ein höherer GdB als 40 und für die Zeit seit dem genannten Zeitpunkt ein höherer GdB als 50 nicht zusteht.
Ohne dass sich dadurch wesentliche materiell-rechtliche Änderungen ergeben, ist der Anspruch des Klägers inzwischen anhand der Vorschriften des Sozialgesetzbuches, Neuntes Buch (SGB IX) zu beurteilen, die an die Stelle der Vorschriften des aufgehobenen Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind. Gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX sind die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Maßgabe der im Rahmen des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) festgelegten Maßstäbe als GdB festzustellen. Die Einschätzung sowohl der Einzelgrade als auch des Gesamtgrades der Behinderung erfolgt nach Maßgabe der "Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" in der aktuell gültigen Fassung von 1996 (AHP 1996). Diese wirken rechtsnormähnlich und sind daher zu berücksichtigen (vgl. etwa Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 23. Juni 1999, Az.: 9/9 a RVs 1/91, SozR 3-3870 § 4 Nr. 6; Urteil vom 11. Oktober 1994, Az.: 9 RVs 1/93, SozR 3-3870 § 3 Nr. 5; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. März 1995, Az.: 1 BvR 60/95, SozR 3-3800 § 3 Nr. 6).
Nach diesen Maßstäben steht dem Kläger für die Zeit vor November 1999 ein höherer GdB als 40 und für die Zeit danach ein höherer GdB als 50 nicht zu.
Im Vordergrund der Funktionsstörungen des Klägers stehen diejenigen der Wirbelsäule. Diese sind nach den AHP 1996 mit einem Einzel-GdB von 30 richtig bemessen. Ein derartiger Einzel-GdB wird nach Rdnr. 26.18 der AHP 1996 für schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt oder mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vergeben. Der Umstand mehrerer Wirbelsäulenoperationen an sich bedingt keinen GdB. Hingegen ist nachvollziehbar, dass die Verschraubung der Wirbelkörper L 3 bis L 5 zu funktionellen Einschränkungen der Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule führen muss. Deren genaues Ausmaß ist hingegen unklar, weil bei den entsprechenden mitwirkungsabhängigen Untersuchungen von dem Kläger unterschiedliche Befunde dargeboten worden sind. So ist etwa in dem Entlassungsbericht des Anna-Stifts vom 3. November 1999 von schweren funktionellen Bewegungseinschränkungen der Lendenwirbelsäule in alle Richtungen die Rede. Demgegenüber hat Dr. I. in dem ärztlichen Attest vom 21. Dezember 1999 die Zeichen nach Schober und Ott als negativ und darüber hinaus einen nahezu normgerechten Finger-Boden-Abstand beschrieben. Atrophien der Rückenmuskulatur haben nach der Darstellung des Dr. I. nicht bestanden. Unter Einbeziehung der sowohl von Dr. I. in dem genannten Befundbericht als auch von Dr. J. geschilderten Bewegungseinschränkungen im Bereich der Halswirbelsäule erscheint daher ein Teil-GdB von 30 gerechtfertigt.
Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob bei dem Kläger etwa ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom vorliegt. Ein solches würde nach den AHP 1996 die Erhöhung des Teil-GdB über 30 rechtfertigen. Andererseits hat Dr. J. die Schmerzsymptomatik nicht einer körperlichen Ursache zugerechnet, sondern stattdessen eine somatoforme Schmerzstörung angenommen und diese innerhalb der psychischen Erkrankung mitbewertet.
Läge bei dem Kläger tatsächlich ein organisch bedingtes außergewöhnliches Schmerzsyndrom vor, so würde für die Wirbelsäule möglicherweise ein GdB von 40 in Ansatz zu bringen sein. Dies hätte zugleich aber zur Folge, dass die psychische Erkrankung weniger stark ausgeprägt wäre, als von Dr. J. angenommen. Der für diesen Teilbereich anzusetzende GdB wäre daher unter dieser Annahme niedriger zu bewerten, sodass im Ergebnis jedenfalls eine Veränderung des Gesamt-GdB nicht eintreten würde.
Die auf psychischem Gebiet liegende Störung, die auch nach der überzeugenden Darstellung des Dr. J. erst seit November 1999 in vollem Umfang nachgewiesen ist, ist für diese Zeit mit einem Teil-GdB von 40 richtig bemessen. Mit einem solchen GdB wird gemäß Rdnr. 26.3 der AHP 1996 eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bewertet. Eine schwere Zwangskrankheit mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, welche die Vergabe eines höheren GdB rechtfertigen würde, liegt bei dem Kläger demgegenüber noch nicht vor.
Für die Zeit seit November 1999 ist der Gesamt-GdB mit 50 richtig bemessen. Im Hinblick auf die ungünstige Ergänzung der Funktionsstörungen des Bewegungsapparates einerseits mit einem Teil der psychischen Störungen ist eine Erhöhung des durch die psychischen Störungen bedingten GdB angezeigt.
Eine wenigstens chronisch-persistierende Hepatitis, Rdnr. 26.10, S. 100 der AHP 1996, liegt bei dem Kläger nicht erwiesenermaßen vor. Zwar findet sich in den medizinischen Unterlagen häufiger ein Hinweis auf eine Hepatitiserkrankung des Klägers, doch beruht dies sämtlich nicht auf eigenen Befunderhebungen der jeweiligen Ärzte oder auf ihnen zugänglichen Fremdbefunden. Vielmehr wird die genannte Erkrankung lediglich immer wieder von dem Kläger berichtet.
Ob darüber hinaus noch weitere, kleinere Gesundheitsstörungen vorliegen, die einen Einzel-GdB von 10 bedingen, kann dahingestellt bleiben. Diese sind bei der Bemessung des Gesamt-GdB nach Rdnr. 19 Abs. 4 der AHP 1996 außer Betracht zu lassen. Ein Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich der Feststellungen weiterer Funktionsstörungen besteht nicht, vgl. Urteil des BSG vom 24. Juni 1998, Az.: B 9 SB 17/97 R.
Das SG hat auch zu Recht entschieden, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs der erheblichen Gehbehinderung nicht vorliegen. Dies gilt für die Zeit bis einschließlich Oktober 1999 bereits deshalb, weil bis zu dieser Zeit der Gesamt-GdB den Schwellengrad von 50 nicht erreicht hat. Das SG hat die sonstigen Voraussetzungen des streitigen Merkzeichens zutreffend dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid Bezug genommen. Das SG ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass unabhängig von allen formalen Voraussetzungen das von dem Sachverständigen Dr. J. beobachtete tatsächliche Gehvermögen des Klägers der Vergabe des Merkzeichens entgegensteht.
Die Verwertung des Gutachtens des Dr. J. ist nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil der Sachverständige gegenüber dem Kläger befangen wäre. Gemäß § 118 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 406 Abs. 1, § 42 Abs. 1, 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) findet die Ablehnung eines Sach-verständigen statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Davon ist nicht auszugehen, wenn der Sachverständige nur tatsächliche Beobachtungen mitteilt, deren Richtigkeit der Kläger nicht einmal bestreitet.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.