Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 27.01.2003, Az.: L 4 SF 17/02
Stundensätze von Gutachtern; Begrenzung der Entschädigung der gerichtlich bestellten Sachverständigen; Rücksichtnahme auf die Belastung der öffentlichen Haushalte; Ungleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.01.2003
- Aktenzeichen
- L 4 SF 17/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 16486
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0127.L4SF17.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - 09.10.2002 - AZ: S 2 RI 160/99
Rechtsgrundlage
- § 16 Abs. 1 S. 1 ZSEG
Fundstellen
- ArztR 2004, 238
- GuG 2003, 250-252 (Volltext mit red. LS)
- MedR 2003, 530-532 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 2003, 1206-1207 (Volltext mit amtl. LS)
- NZS 2002, 447-448 (Volltext mit amtl. LS)
- NZS 2003, 447-448
Redaktioneller Leitsatz
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbietet es, gerichtlich bestellten Sachverständigen wegen der schlechten finanziellen Haushaltslage Sonderopfer aufzubürden, als Sonderopfer ist hierbei anzusehen, wenn das Ungleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung das zumutbare Maß überschreitet.
Gründe
I.
Der Antragsteller erstattete in dem Berufungsverfahren B. gegen die Landesversicherungsanstalt Hannover - Az.: L 2 RI 31/02 - gemäß Beweisanordnung vom 31. Mai 2002 das schriftliche Sachverständigengutachten vom 9. August 2002. Mit Liquidation vom selben Tag machte er eine Entschädigung von insgesamt 1.168,70 Euro geltend. Hierbei setzte er einen Zeitaufwand von 14,5 Stunden, à 50,- Euro pro Stunde, an.
Die Kostenbeamtin reduzierte die Forderung mit Festsetzung vom 21. August 2002. Sie setzte u.a. einen Stundensatz von 41,- Euro fest, weil das erstattete Gutachten lediglich als mittelschwer einzustufen sei. Hiergegen hat der Antragsteller mit Schriftsatz vom 28. August 2002 richterliche Festsetzung beantragt. Er hält die Kürzung des Stundenlohnes von 50,- Euro auf 41,- Euro nicht für gerechtfertigt. Die Kostenbeamtin hat dem Rechtsbehelf nicht abgeholfen.
II.
Der Antrag auf richterliche Festsetzung ist gem. § 16 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ZSEG) zulässig.
Er ist teilweise auch begründet.
Der in § 3 Abs. 2 Satz 1 ZSEG bis zum 31. Dezember 2001 vorgesehene Entschädigungsrahmen betrug 50,- bis 100,00 DM. Nach § 3 Abs. 2 ZSEG in der ab 1. Januar 2002 geltenden Fassung (BGBl. I 751) beträgt die Entschädigung für einen vom Gericht beauftragten Sachverständigen für jede Stunde der erforderlichen Zeit 25,- bis 52,- Euro (Satz 1). Für die Bemessung des Stundensatzes sind der Grad der erforderlichen Fachkenntnisse, die Schwierigkeit der Leistung, ein nicht anderweitig abzugeltender Aufwand für die notwendige Benutzung technischer Vorrichtungen und besondere Umstände maßgebend, unter denen das Gutachten zu erarbeiten war; der Stundensatz ist einheitlich für die gesamte erforderliche Zeit zu bemessen (Satz 2).
Welcher Stundensatz innerhalb des Entschädigungsrahmens zu gewähren ist, bestimmt sich nach der Art der erbrachten gutachterlichen Leistung. Nach der bis 31. Dezember 2001 geltenden Rechtsprechung des erkennenden Senats waren einfache ärztliche Gutachten ohne besondere Fachkenntnisse mit einer Mindestvergütung von 60,00 DM, mittelschwere ärztliche Gutachten mit gesteigerten Fachkenntnissen mit einem Stundensatz von 80,00 DM und besonders schwierige Gutachten mit einem Stundensatz von 100,00 DM zu entschädigen (vgl. z.B. Beschluss vom 22. Juli 2002 - L 4 SF 6/02 -).
Bereits im Beschluss vom 22. Juli 2002 - L 4 SF 6/02 - hat der Senat zu einem im Jahre 2001 erstatteten Gutachten jedoch ernste Zweifel geäußert, ob der Entschädigungsrahmen von 60,- bis 100,00 DM noch angemessen und mit Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz vereinbar ist. Der Senat hat darauf hingewiesen, dass die Sachverständigenvergütung trotz allgemeiner Teuerung seit 8 Jahren unverändert gilt und sich die Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des Entschädigungsrahmens mit zunehmender Teuerung, d.h. mit zunehmendem Zeitablauf, verdichten. Die Änderung des § 3 Abs. 2 Satz 1 ZSEG mit Wirkung vom 1. Januar 2002 hat diese Bedenken nicht ausgeräumt. Denn die Änderung diente lediglich der Umstellung der DM-Beträge auf Euro-Beträge mit entsprechenden Rundungen.
Der Senat sieht sich nun veranlasst, seine bisherige Spruchpraxis fortzuentwickeln. In ständiger Rechtsprechung hat der Senat den unteren Entschädigungssatz von 50,00 DM (heute: 25,- Euro) schon als unangemessen angesehen. Denn es liegt auf der Hand, dass eine Entschädigung von 50,00 DM pro Stunde für einen ärztlichen Sachverständigen im Vergleich zu den Stundensätzen für Tätigkeiten, die eine ähnlich qualifizierte und langwierige Berufsausbildung, ein vergleichbares Fachwissen und eine entsprechende Verantwortung erfordern, unverhältnismäßig ist. Aber auch eine Entschädigung von 60,00 DM (etwa 31,- Euro) für einfache und von 80,00 DM (etwa 41,- Euro) für mittelschwere Gutachten ist für die Zeit ab 1. Januar 2002 unangemessen niedrig.
Art. 19 Abs. 4 GG garantiert jedem Bürger effektiven Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt. Dieses Recht wird durch Gerichte sichergestellt. Die Tätigkeit der Gerichte verursacht Kosten. Sie sind von der öffentlichen Hand zu tragen, wenn das Gerichtsverfahren - wie in der Sozialgerichtsbarkeit (§ 183 Sozialgerichtsgesetz, SGG) - weit gehendweitgehend kostenfrei ist. Die Kosten für die Dritte Gewalt gehören zu den elementaren Kosten eines Rechtsstaats. Sie schließen die Vergütung der Leistungen ein, die zur Rechtsfindung erforderlich sind. Hierzu gehören im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich auch die Kosten für die Sachverständigen.
Ein Sachverständiger, der von einem Gericht zur Erstattung eines Gutachtens herangezogen wird, darf die Erstattung des Gutachtens grundsätzlich nicht mit Hinweis auf den geringen Stundensatz ablehnen (anders z.B. der Berufsbetreuer, vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1999 - 1 BvR 1904/95 etc. in BVerfGE 101, 331 ff). Der gerichtlich bestellte Sachverständige ist verpflichtet, der Beweisanordnung des Gerichts nachzukommen, und zwar zu der im ZSEG festgesetzten Gegenleistung. Die Heranziehung eines Sachverständigen durch ein Gericht stellt somit eine Indienstnahme eines Privaten für öffentliche Aufgaben dar. Sie ist am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) zu messen. Die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen ergibt sich dabei aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 1992 - 1 BvL 21/88 - in MDR 1993, 21 [BVerfG 12.02.1992 - 1 BvL 21/88]).
Die Sachverständigenentschädigung nach dem ZSEG erfolgt nach dem Entschädigungs-, nicht nach dem Vergütungsprinzip. Für die Bemessung der Gegenleistung des Sachverständigen ist daher nicht die individuelle Verdienstmöglichkeit maßgeblich; vielmehr werden feste Beträge gezahlt. Das BVerfG betont in seiner Entscheidung vom 27. Juni 1972 jedoch ausdrücklich die Absicht des Gesetzgebers, die Entschädigung der Sachverständigen den wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen, um zu verhindern, dass sie sich allzu sehr von dem Entgelt unterscheidet, das für eine vergleichbare Leistung sonst gezahlt wird (- 1 BvL 34/70 - in BVerfGE 33, 240 ff.).
Grundsätzlich ist eine Begrenzung der Entschädigung der gerichtlich bestellten Sachverständigen zulässig. Sie ist ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers und rechtfertigt sich aus dem Interessenausgleich, der sich am Gemeinwohl orientiert. Eine gewisse Rücksichtnahme auf die Belastung der öffentlichen Haushalte ist bei der Bemessung der Entschädigungssätze somit nicht zu beanstanden (BVerfG, - 1 BvL 34/70 -, a.a.O.). Dem folgt der erkennende Senat. Die Rücksicht auf haushaltsrechtliche Probleme hat jedoch Grenzen. Fiskalische Engpässe rechtfertigen keinesfalls einen Eingriff in die unabhängige Entscheidung der Gerichte, Sachverständige mit der Erstattung von Gutachten zu beauftragen, wenn die Gerichte dies für ihre Rechtsfindung für erforderlich halten. Entsprechendes gilt für übermäßige Eingriffe in Grundrechtspositionen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbietet es, gerichtlich bestellten Sachverständigen wegen der schlechten finanziellen Haushaltslage Sonderopfer aufzubürden. Nicht jedes Ungleichgewicht in der Sachverständigenentschädigung ist allerdings als Sonderopfer anzusehen. Das Ungleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung muss vielmehr das zumutbare Maß überschritten haben. Es muss wesentlich sein. Das ist bei den seit Jahren unveränderten Entschädigungssätzen nach dem ZSEG der Fall.
Die Entschädigungssätze des ZSEG sind letztmalig im Jahre 1994 durch das Kostenrechtsänderungsgesetz 1994 vom 24. Juni 1994 (BGBl.. I 1325) angehoben worden. Inzwischen ist ein deutlicher Preisanstieg zu verzeichnen. Der Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte lag im Jahre 1994 bei 98,3; er ist bis Ende 2001 auf 109,6 angestiegen (Statistisches Jahrbuch 2002 für die Bundesrepublik Deutschland, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2002 S. 612 - früheres Bundesgebiet). Die Steigerungsrate liegt also im zweistelligen Bereich. Sie kann damit nicht mehr als geringfügig und unbeachtlich abgetan werden, sondern geht über das hinaus, was einem Bürger - auch in Anbetracht der schlechten öffentlichen Finanzlage - zugemutet werden kann. Eine Entwertung der Entschädigung in dieser Höhe greift in unverhältnismäßiger Weise in die Berufsfreiheit eines Sachverständigen ein.
Daher ist eine Anhebung des bisher geltenden Stundensatzes nach § 3 Abs. 2 Satz 1 ZSEG geboten. Sie betrifft die Gutachten, die ab 1. Januar 2002 erstattet werden. Der Senat hält somit eine Erhöhung für angemessen, die der Steigerungsrate des Preisindexes seit 1994 Rechnung trägt, und setzt den Stundensatz ab 1. Januar 2002 demgemäß für einfache Gutachten auf 35,- Euro und den Satz für mittelschwere Gutachten auf 46,- Euro fest.
Ob es für besonders schwierige Gutachten bei dem gesetzlichen Höchstsatz von 52,- Euro bleibt, lässt der Senat ausdrücklich offen. Denn das Gutachten des Antragstellers vom 9. August 2002 ist nicht als besonders schwierig, sondern als mittelschwer einzustufen. Demgemäß wendet sich der Antragsteller auch nicht (mehr) gegen die Bewertung seines Gutachtens als mittelschwer, sondern nur (noch) gegen die Höhe des Stundensatzes. Die Frage, ob die Festsetzung des Höchstbetrages in § 3 Abs. 2 Satz 1 ZSEG inzwischen als ausfüllungsbedürftige Regelungslücke zu bewerten ist, bedarf daher keiner Entscheidung. Eine solche Annahme erscheint in den Fällen gerechtfertigt, in denen das Recht zwar formell eine Regelung enthält, diese wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse aber nicht mehr verfassungskonform ist (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. September 2001 - 8 U 181/00 - in MedR 2002, 310 f.).
Dem Antragsteller steht mithin ein Stundensatz von 46,- Euro zu. Sein Zeitaufwand von 14 1/2 Stunden ist auf 15 Stunden aufzurunden (§ 3 Abs. 2 Satz 3 ZSEG). Die Entschädigung hierfür beträgt daher 690,- Euro. Seine Gesamtentschädigung ist auf 1.083,14 Euro festzusetzen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Streitwertbeschluss:
Die Entschädigung für das ärztliche Gutachten des Antragstellers vom 9. August 2002 wird auf 1.083,14 Euro festgesetzt.